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OLG München, Hinweisbeschluss v. 22.02.2024 – 3 U 4761/23 e
Titel:

Kein Schadensersatz wegen Verwendung einer Abschaltvorrichtung aufgrund Vorteilsausgleichung

Normenketten:
BGB § 823 Abs. 2, § 826
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 287
Leitsätze:
1. In Bezug auf das Thermofenster ist der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber dem Fahrzeughersteller nur gerechtfertigt, wenn zu einem angenommenen Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für ihn handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. So setzt die Annahme von Sittenwidrigkeit jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Bemessung des Differenzschaden aufgrund des Erwerbs eines mit einer unzulässigen Abschaltvorrichtung versehenen Fahrzeugs sind Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigen. Hinsichtlich des Restwertes stellt beine Übersicht von Gebrauchtwagenangeboten auf der Internetseite mobile.de eine geeignete Schätzungsgrundlage dar. (Rn. 20 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Thermofenster, Differenzschaden, Vorteilsausgleich, Schätzungsgrundlage, Restwert
Vorinstanz:
LG Passau, Endurteil vom 16.11.2023 – 1 O 17/23
Fundstelle:
BeckRS 2024, 9487

Tenor

1. Der Senat beabsichtigt, die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Passau vom 16.11.2023, Az. 1 O 17/23, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
2. Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 21.03.2024.

Entscheidungsgründe

I.
1
Das Endurteil des Landgerichts Passau entspricht der Sach- und Rechtslage. Dem Kläger steht kein Anspruch zu.
2
Die Berufung ist offensichtlich unbegründet. Die angefochtene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung, noch rechtfertigen die gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).
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Entscheidungserhebliche Rechtsfehler im Sinne des § 520 Abs. 3 ZPO sind nicht ersichtlich und werden von der Berufung auch nicht aufgezeigt.
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Das Landgericht hat gegen die Beklagte alle in Betracht kommende deliktische Ansprüche im Zusammenhang mit dem von der Klagepartei am 17.12.2018 vom Autohaus … vorgenommenen Erwerb eines Pkws Opel Astra K CDTi, zu einem Kaufpreis von 11.900,00 € zu Recht abgelehnt.
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Die mit der Berufung erhobenen Rügen verfangen nicht. Zu den Berufungsangriffen ist Folgendes anzumerken:
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1. Zu Recht hat das Erstgericht gerade auch Ansprüche aus § 826 BGB i.V m. § 31 BGB bzw. § 831 BGB gegen die Beklagte mangels Substantiierung abgelehnt. So fehlt es von vornherein an einer Darlegung der objektiven Sittenwidrigkeit.
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Der Senat teilt in Übereinstimmung mit der obergerichtlichen Rechtsprechung die Auffassung, dass für eine deliktische Haftung der Beklagten die Klagepartei grundsätzlich die volle Darlegungs- und Beweislast für alle Anspruchsvoraussetzungen trägt (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020, Az.: VI ZR 252/19 Rz. 35 m.w.N.).
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Vorliegend fehlt es indes bereits an einer schlüssigen Darlegung für eine objektive Sittenwidrigkeit i.S. § 826 BGB in Bezug auf sämtliche mit der Berufung thematisierten Abschalteinrichtungen.
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Dabei ist seit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 19. Januar 2021- VI ZR 433/19 (vgl. dort Rn. 18), welcher sich der Senat anschließt, auch höchstrichterlich geklärt, dass ein in der Ausstattung eines Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung 715/2007/EG liegender Gesetzesverstoß auch unter Berücksichtigung einer damit einhergehenden Gewinnerzielungsabsicht der Beklagten nicht per se geeignet ist, den Einsatz dieser Abschalteinrichtung durch die für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich im Sinne § 826 BGB erscheinen zu lassen. Steht eine unzulässige Abschalteinrichtung inmitten, die im Prüfzyklus und im Realbetrieb grundsätzlich in gleicher Weise arbeitet und auch keine spezifisch auf die Rahmenbedingungen des NEFZ abgestimmte Bedatung aufweist, ist der Vorwurf der Sittenwidrigkeit nur gerechtfertigt, wenn zu einem – unterstellten – Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere bzw. andere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der für den Hersteller handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt dann jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Gerade auch hierfür trifft die Klagepartei die Darlegungs- und Beweislast (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 –, Rn. 19, juris).
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a) Dass das streitgegenständliche Fahrzeug mit einer Abschalteinrichtung ausgestattet ist, die an eine Prüfstanderkennung geknüpft wäre bzw. an eine Bedatung mit Parametern, die im realen Betrieb praktisch in dieser Kombination nicht vorkommt (vgl. BGH, Urt. v. 13.10.2021 – VII ZR 179/21, juris Rn. 25, OLG Stuttgart, Urteil vom 28 Juni 2022 – 24 U 115/22 –, Rn. 52, juris), hat die Klagepartei ebenso wenig schlüssig dargetan wie sonstige Umstände, die das Verhalten der für die Beklagte handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen.
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Auch wenn aus einem verbindlichen Rückruf des Kraftfahrbundesamtes wegen der Ausstattung eines Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung nach den obigen Ausführungen allein keinen Rückschluss auf eine besondere Verwerflichkeit der für den Automobilhersteller handelnden Personen erlaubt, so hat die Klagepartei einen entsprechenden Rückruf (wegen der Ausstattung des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung) in Bezug auf das streitgegenständliche Fahrzeug dargetan.
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Die Ausstattung des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit einer Parameterkombinations-Abschalteinrichtung stellt sich als durch nichts gestützter Vortrag ins Blaue hinein dar. Insbesondere trägt das Vorbringen, dass das streitgegenständliche Fahrzeug – wie im Einzelnen von der Klagepartei beschreiben – mit einem Emissionskontrollsystem ausgestattet sein soll, welches in Abhängigkeit u.a. Umgebungsluftdruck, Geschwindigkeit und Motorendrehzahl in seiner Wirkungweise verringert wird, trägt eine Prüfstandsbezogenheit nicht. Allein der Umstand, dass sich eine Abschalteinrichtung außerhalb des Prüfstandes nur innerhalb eines kurzen Zeitraums auswirkt, trägt eine Prüfstandsbezogenheit nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2021 – VII ZR 126/21 –, Rn. 17, juris). Dass die Abschalteinrichtung auf dem Prüfstand und im normalen Fahrbetrieb im Grundsatz in gleicher Weise arbeitet, hat die Klagepartei nicht in Abrede gestellt.
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Auch das Thermofenster unterscheidet nicht danach, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand oder im normalen Fahrbetrieb befindet (vgl. hierzu grundlegend BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 )
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b) Gerade auch in Bezug auf das Thermofenster wäre der Vorwurf der Sittenwidrigkeit gegenüber der Beklagten nur gerechtfertigt, wenn zu einem angenommenen Verstoß gegen die Verordnung 715/2007/EG weitere Umstände hinzuträten, die das Verhalten der für sie handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen ließen. So setzt die Annahme von Sittenwidrigkeit jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt.
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Solche Umstände hat die gerade auch insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klagepartei (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 –, Rn. 19) nicht substantiiert dargetan.
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Insbesondere hat die Klagepartei Anhaltspunkte für wissentlich unterbliebene oder unrichtige Angaben der Beklagten im Typgenehmigungsverfahren, die noch dazu auf ein heimliches und manipulatives Vorgehen oder eine Überlistung des KBA und damit auf einen bewussten Gesetzesverstoß hindeuten würden, nicht dargelegt (BGH Beschl. v. 29.9.2021 – VII ZR 126/21, BeckRS 2021, 33038 Rn. 20, beck-on-line).
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c) Unabhängig davon wäre die Typgenehmigungsbehörde nach dem Amtsermittlungsgrundsatz gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwVfG ggf. gehalten gewesen, Angaben zu den Einzelheiten der Abgasrückführung zu erfragen, um sich in die Lage zu versetzen, die Zulässigkeit der Abschalteinrichtung zu prüfen (vgl. BGH Beschl. v. 29.9.2021 – VII ZR 126/21, BeckRS 2021, 33038 Rn. 20, beck-online).
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2. Der Klagepartei steht auch ein Anspruch auf den sog. Differenzschaden nicht zu. Der BGH hat mit Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, entschieden, dass dem Käufer, dessen Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 ausgestattet ist, ein Anspruch auf den Differenzschaden nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zustehen kann. Unabhängig davon, ob die weiteren Voraussetzungen dieses Differenzschadens vorliegen, ist zur Überzeugung des Senats der Klagepartei kein Schaden entstanden. Für die Ermittlung der gemäß § 287 Abs. 1 ZPO unter Würdigung aller Umstände nach freier Überzeugung zu schätzenden Höhe des Differenzschadens gilt (BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 72 ff.):
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a) Der geschätzte Schaden kann aus Gründen unionsrechtlicher Effektivität und der Verhältnismäßigkeit nicht geringer als fünf und nicht höher als 15 Prozent des gezahlten Kaufpreises sein. Bei der Schätzung des Schadens innerhalb dieses Rahmens sind bei der Bestimmung des objektiven Werts des Fahrzeugs im Zeitpunkt des Vertragsschlusses die mit der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung verbundenen Nachteile, insbesondere das Risiko behördlicher Anordnungen, zu berücksichtigen. Umfang der in Betracht kommenden Betriebsbeschränkungen und deren Eintrittswahrscheinlichkeit sind mit Rücksicht auf die Einzelfallumstände in den Blick zu nehmen. Über diese originär schadensrechtlichen Gesichtspunkte hinaus ist das Gewicht des der Haftung zugrundeliegenden konkreten Rechtsverstoßes für das unionsrechtliche Ziel der Einhaltung gewisser Emissionsgrenzwerte sowie der Grad des Verschuldens nach Maßgabe der Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls zu bewerten. Zur Einholung eines Sachverständigengutachtens ist der Senat bei seiner Schätzung innerhalb des genannten Rahmens nicht gehalten. Vortrag der Parteien, dass sich der Schaden im konkreten Fall auf weniger als 5% oder mehr als 15% des gezahlten Kaufpreises belaufe, sind ohne Relevanz.
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b) Eine schadensmindernde Berücksichtigung später eintretender Umstände im Wege der Vorteilsausgleichung ist geboten, wobei insofern die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Maßstäbe zum „kleinen“ Schadensersatz nach § 826 BGB sinngemäß gelten. Nutzungsvorteile und der Restwert des Fahrzeugs sind erst dann und nur insoweit schadensmindernd anzurechnen, als sie den Wert des Fahrzeugs bei Abschluss des Kaufvertrags (gezahlter Kaufpreis abzüglich Differenzschaden) übersteigen. Beruft sich der Fahrzeughersteller auf die nachträgliche Verbesserung des Fahrzeugs durch ein Software-Update, kann damit eine Schadensminderung verbunden sein, wenn und soweit das Software-Update die Gefahr von Betriebsbeschränkungen signifikant reduziert. Im Ergebnis kann die Vorteilausgleichung auch der Gewährung eines Differenzschadensersatzes entgegenstehen, wenn der Differenzschaden vollständig ausgeglichen ist.
21
c) Dies zugrunde gelegt ergibt sich für die Bemessung des Schadens im vorliegenden Fall Folgendes:
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In einem 1. Schritt ist zu prüfen, ob nach den Grundsätzen des BGH der Weg zu einem Vorteilsausgleich eröffnet ist. Dies ist dann der Fall, wenn der Restwert sowie die gezogenen Nutzungen in der die Addition einen höheren Betrag als der tatsächliche Wert des Fahrzeuges bei Kauf ergibt. Dieser tatsächliche Wert des Fahrzeuges ergibt sich aus dem Kaufpreis abzüglich des Differenzschadens.
23
Der Senat geht davon aus, dass der Differenzschaden zehn Prozent beträgt. Bei der Bemessung ist insbesondere berücksichtigt worden, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintritts behördlicher Beschränkungen äußerst gering war und ist. Auszugehen ist somit von einem Kaufpreis von 11.900,00 € und einem sich daraus ergebenden möglichen Differenzschaden von 1.190,00 €. Damit beträgt der tatsächliche Wert im Zeitpunkt des Vertragsschlusses 10.710,00 €.
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Unter Berücksichtigung des Kaufs als Neuwagen und dem zum 26.10.2023 mitgeteilten Kilometerstand von 88.260 ergibt sich eine Nutzungsentschädigung in Höhe von 3.790,94 €, wobei der Senat eine Gesamtlaufleistung von 250.000 km zugrunde legt.
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Den Restwert des Fahrzeuges schätzt der Senat gemäß § 287 ZPO auf 8.200 €. Grundlage dieser Schätzung ist eine Übersicht von Gebrauchtwagenangeboten auf der Internetseite mobile.de sowie einer Datenabfrage über d ... de. Bei diesen erzielten Fahrzeuge mit vergleichbarer Erstzulassung, Ausstattung und Kilometerstand Preise von 8.200 bis zu 9.690 €. Unter Berücksichtigung dieser Angebote nimmt der Senat seine Schätzungsbefugnis dahingehend wahr, dass der Restwert jedenfalls die bereits angesprochenen 8.200 € beträgt. Zur Überzeugung des Senats stellen dabei die Angebote auf mobile.de eine ausreichende Grundlage für die Schätzung dar.
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Somit ergibt sich bei der Addition von Restwert und gezogener Nutzungen ein Betrag von 11.990,94 €, welcher über dem tatsächlichen Wert des Fahrzeuges im Zeitpunkt des Kaufs liegt. Damit ist mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes der Weg für einen Vorteilsausgleich eröffnet.
27
Bei der Durchführung dieses Vorteilsausgleichs ist ausgehend von der Differenz zwischen der Summe aus Nutzungsersatz zuzüglich Restwert und dem tatsächlichen Wert im Kaufzeitpunkt ein Betrag von 1.280,94 € für den Vorteilsausgleich zugrundezulegen. Wird dieser Betrag von dem gemäß den obigen Ausführungen geschätzten Differenzschaden von 1.190,00 € abgezogen, verbleibt ein negativer Betrag, ein Schaden der Klagepartei besteht somit nicht.
II.
28
Der Klagepartei wird auferlegt, binnen der oben gesetzten Frist zu den Hinweisen des Senats Stellung zu nehmen. Die Rechtsmittelrücknahme wird ausdrücklich angeregt, auf die in diesem Fall eintretende Gebührenermäßigung von 4,0 auf 2,0 wird ausdrücklich hingewiesen.