Titel:
Obdachlosenrecht, Anspruch auf Zuweisung einer Notunterkunft (bejaht), Glaubhaftmachung drohender Obdachlosigkeit, Kein Wegfall der grundsätzlichen Unterbringungspflicht der Sicherheitsbehörde bei selbst verschuldeter Obdachlosigkeit, Prozesskostenhilfe (bewilligt)
Normenketten:
LStVG Art. 6
LStVG Art. 7 Abs. 2 Nr. 3
VwGO § 123
Schlagworte:
Obdachlosenrecht, Anspruch auf Zuweisung einer Notunterkunft (bejaht), Glaubhaftmachung drohender Obdachlosigkeit, Kein Wegfall der grundsätzlichen Unterbringungspflicht der Sicherheitsbehörde bei selbst verschuldeter Obdachlosigkeit, Prozesskostenhilfe (bewilligt)
Fundstelle:
BeckRS 2024, 9103
Tenor
I. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller zur Behebung der Obdachlosigkeit eine Notunterkunft zuzuweisen und vorläufig bis zum … … 2024 zur Verfügung zu stellen.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 2.500 Euro festgesetzt.
IV. Dem Antragssteller wird Prozesskostenhilfe bewilligt.
Gründe
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Der Antrag vom … … 2024, die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, dem Antragsteller eine Notunterkunft zuzuweisen und vorläufig zur Verfügung zu stellen, hat Erfolg (dazu unter 1.). Dem Antragsteller wird für das erstinstanzliche Eilverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt (dazu unter 2.).
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1. Der Antragsteller kann von der Antragsgegnerin die vorübergehende Zuweisung einer Obdachlosenunterkunft beanspruchen.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn diese Regelung um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus sonstigen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der Antragsteller sowohl den (aus dem streitigen Rechtsverhältnis abgeleiteten) Anspruch, bezüglich dessen die vorläufige Regelung getroffen werden soll (Anordnungsanspruch), wie auch die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Maßgeblich für die Beurteilung sind dabei die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
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Gemessen an diesen Vorgaben ist hier – unter Berücksichtigung der durch die Eilbedürftigkeit geprägten besonderen Anforderungen an das Verfahren – das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs (dazu unter 1.1.) wie auch eines Anordnungsgrundes (dazu unter 1.2.) zu bejahen. Die beantragte Anordnung führt dabei nicht zu einer unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache (dazu unter 1.3.).
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1.1. Das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs wurde vorliegend glaubhaft gemacht.
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a) Die Gemeinden haben als untere Sicherheitsbehörden (Art. 6 LStVG) die Aufgabe der Gefahrenabwehr, wozu angesichts der damit verbundenen Gefahren für Leib und Leben gemäß Art. 7 Abs. 2 Nr. 3 LStVG auch die Beseitigung einer – unfreiwilligen – Obdachlosigkeit, die der Betroffene nicht selbst beseitigen kann, gehört. Aus dieser gesetzlichen Verpflichtung ergibt sich ein Anspruch (zumindest) auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Unterbringung durch die Behörde (vgl. BayVGH, B.v. 7.7.2015 – 4 CE 15.1275 – juris Rn. 2), wobei auch Unterkünfte einfachster Art in Frage kommen, soweit eine menschenwürdige Unterbringung gewährleistet ist (vgl. BayVGH, B.v. 3.8.2012 – 4 CE 12.1509 – juris Rn. 5 f.). Ein solcher Anspruch besteht, soweit und solange der Betroffene die Gefahr nicht selbst aus eigenen Kräften oder mit Hilfe der Sozialleistungsträger beheben kann (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2006 – 4 CE 06.2465 – BayVBl 2007, 439). Ein Tätigwerden seitens der Sicherheitsbehörden ist schon im Vorfeld, wenn eine Obdachlosigkeit unmittelbar bevorsteht, veranlasst.
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Von einer im Wege einer Ermessensreduktion begründeten Unterbringungspflicht befreit ansonsten weder die Berufung auf fehlende Unterkünfte noch auf eventuelle finanzielle Engpässe oder auf einen eventuellen Wegfall der Leistungspflicht wegen Unmöglichkeit bei bestehender oder konkret drohender Obdachlosigkeit. Ob und inwieweit der Zustand der Obdachlosigkeit auf einem möglichen Verschulden des Antragstellers beruht, ist aus sicherheitsrechtlicher Sicht regelmäßig irrelevant (vgl. BayVGH, B.v. 9.10.2015 – 4 CE 15.2102 – juris Rn. 2; Ehmann, Obdachlosigkeit in Kommunen, 4. Auflage 2020, Kap. 3.1.5). Auch im Falle einer aus einem unangepassten, sozialschädlichen Verhalten des Obdachlosen folgenden „Unterbringungsunfähigkeit“ in einer Gemeinschaftseinrichtung bleibt bei ersichtlich fortbestehender Obdachlosigkeit die grundsätzliche Verpflichtung der Sicherheitsbehörde zur Gefahrenabwehr unberührt (vgl. BayVGH, B.v. 27.12.2017 – 4 CS 17.1450 – juris Rn. 13).
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b) Gemessen an diesen Grundsätzen kann der Antragsteller beanspruchen, von der Antragsgegnerin obdachlosenrechtlich untergebracht zu werden.
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Im maßgeblichen Zeitpunkt der vorliegenden Gerichtsentscheidung kann keine unfreiwillige Obdachlosigkeit des Antragstellers angenommen werden. Zwar würde die Bereitschaft von Angehörigen oder etwa Bekannten, einen Obdachlosen aufzunehmen, grundsätzlich dazu führen, dass ein behördliches Tätigwerden zur Gefahrenabwehr entbehrlich wird und der Betroffene regelmäßig im Rahmen der Selbsthilfeverpflichtung darauf verwiesen werden kann, ein entsprechendes Angebot anzunehmen, wenn dieses nach den Umständen zumutbar ist (vgl. VG München, B.v. 23.8.2017 – M 22 E 17.3770 – juris Rn. 17). Für das Gericht ist jedoch nichts dahingehend ersichtlich, dass entsprechende Bereitschaft von Verwandten oder Bekannten bestünde. Vielmehr ist der Behördenakte zu entnehmen, dass die Mutter des volljährigen Antragstellers diesen – außerhalb einer Notunterbringung für wenige Tage – in ihre Wohnung weder aufnehmen kann noch will. Zu seiner Ehefrau hat der Antragsteller wohl keinen Kontakt mehr, eine häusliche Gemeinschaft scheint spätestens seit … 2022 nicht mehr zu bestehen. Daher ist nicht davon auszugehen, dass die sich aus der Obdachlosigkeit ergebenden Gefahren für Leben und Gesundheit durch Unterkommen bei Verwandten beseitigt werden könnten. Schließlich ist nicht erkennbar, dass dem Antragsteller, der soweit ersichtlich lediglich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bezieht, die Behebung der Obdachlosigkeit aus eigenen finanziellen Mitteln, etwa durch vorübergehende Anmietung eines Pensionszimmers, möglich wäre.
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Ferner kann die Antragsgegnerin die erneute Unterbringung des Antragstellers – auch angesichts des durch diesen grob fahrlässig verursachten Brandes in der vorherigen Obdachlosenunterkunft – nicht generell verweigern. Eine mangelnde Unterbringungsfähigkeit, die die Antragsgegnerin dazu berechtigen könnte, kann weder nach Aktenlage noch auf der Grundlage oben genannter Rechtsprechung angenommen werden. Nach der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung ist auch nicht von einer Eigen- oder Fremdgefährdung des Antragstellers auszugehen, die eine vorrangige Unterbringung nach dem Unterbringungsgesetz rechtfertigen könnte (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2017 – 4 C 16.2565 – juris Rn. 11 f.). Vor diesem Hintergrund steht auch der o.g. Vorfall einem Anspruch auf Unterbringung nicht per se entgegen. Diesen Umstand darf (und muss) die Antragsgegnerin allerdings bei der Wahl der Art der Unterbringung berücksichtigen, sollte sie den Antragssteller für in einer Gemeinschaftsunterkunft nicht tragbar halten.
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1.2. Im Hinblick auf die Obdachlosigkeit des Antragstellers ist auch ein Anordnungsgrund gegeben. Eine Eilbedürftigkeit als Voraussetzung für eine gerichtliche Anordnung ist im Fall der Obdachlosigkeit, zumal zur kalten Jahreszeit, stets zu bejahen (BayVGH, B.v. 5.12.2016 – 4 CE 16.2297 – juris Rn. 9). Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Antragsteller durch Selbsthilfebemühungen der Gefahr der Obdachlosigkeit kurzfristig begegnen könnte.
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1.3. Dem Zweck einer einstweiligen Anordnung entsprechend wurde die Verpflichtung zur Unterbringung des Antragstellers befristet. Über eine Verlängerung der Unterbringung ist ggf. seitens der Antragsgegnerin, wenn die Voraussetzungen weiter vorliegen sollten, rechtzeitig zu entscheiden.
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1.4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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1.5. Die Festsetzung des Streitwerts richtet sich nach §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nr. 1.5 und 35.3 des Streitwertkatalogs 2013 für die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes war der hälftige Regelstreitwert festzusetzen.
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2. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat ebenfalls Erfolg.
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Nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Daran gemessen war dem vermögenslosen Antragsteller für das vorliegende Verfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen.