Titel:
Einstweilige Anordnung (überwiegende Stattgabe), Hilfe für junge Volljährige, Stationäre Unterbringung im betreuten Einzelwohnen, Mitwirkungsbereitschaft
Normenketten:
VwGO § 123
SGB VIII § 41
SGB VIII § 34
Schlagworte:
Einstweilige Anordnung (überwiegende Stattgabe), Hilfe für junge Volljährige, Stationäre Unterbringung im betreuten Einzelwohnen, Mitwirkungsbereitschaft
Fundstelle:
BeckRS 2024, 9102
Tenor
I. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab dem 1… vorläufig Hilfe für junge Volljährige in Form der stationären Unterbringung in einem außenbetreuten Appartement im sozialpädagogischen Einzelwohnen der Einrichtung H. des … bis zum … zu bewilligen.
Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Verpflichtung des Antragsgegners, ihr weiterhin Hilfe für junge Volljährige in Form der stationären Unterbringung zu gewähren.
2
Die am … 2003 geborene Antragstellerin hat einen bei der Familie des Kindsvaters lebenden minderjährigen Sohn. Nachdem sie zunächst auf ihren Wunsch am … in Obhut genommen wurde, gewährte ihr der Antragsgegner im Folgenden für den Zeitraum vom 1. September 2020 bis 4. Februar 2021 Jugendhilfe gemäß §§ 27 i.V.m. § 34 SGB VIII in Gestalt von Heimunterbringung in der Einrichtung H.
3
Für den Zeitraum vom … 2021 bis … gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin mit Bescheiden vom 24. Februar 2021, 22. Februar 2022 und 10. März 2023 Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 i.V.m. § 34 SGB VIII wiederum in Gestalt von Heimunterbringung in der Einrichtung H. Bis März 2023 wohnte die Antragstellerin in einer Wohngruppe des sozialpädagogisch betreuten Wohnens der Einrichtung. Im März 2023 erfolgte ein Umzug in ein außenbetreutes Appartement im sozialpädagogischen Einzelwohnen.
4
Seit 1. September 2021 absolviert die Antragstellerin eine Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten, wobei sie die Ausbildungsstelle mehrfach wechselte.
5
In dem Entwicklungsbericht der Einrichtung vom 2. November 2023 wurde insbesondere ausgeführt, dass die Antragstellerin sich bereits sehr positiv entwickelt und eine Ausbildung begonnen habe. Obwohl dieser Prozess von einigen Rückschlägen geprägt sei, werde ihr zugetraut, mit genügend Rückhalt und gesicherten Lebensumständen ihre Ausbildung zu beenden. Hierfür werde allerdings weiterhin großer sozialpädagogischer Unterstützungsbedarf gesehen. Die Antragstellerin benötige aufgrund massiver Traumatisierungen in der Vergangenheit auch über das 21. Lebensjahr hinaus unbedingt einer stabilen Bezugsperson. Sie werde nach wie vor als stark belastet erlebt und ihr psychischer Zustand sei sehr schwankend. Eine tiefergehende therapeutische Bearbeitung bedürfe eines sicheren Rahmens, den die Einrichtung bieten könne. Die Einrichtung arbeite an einer selbständigen Wohnperspektive für die Antragstellerin, könne aufgrund der aktuellen Lage auf dem Münchner Wohnungsmarkt jedoch keinen sicheren Übergang gewähren, was bei der Antragstellerin Existenzängste auslöse. Eine Beendigung der Jugendhilfemaßnahme ohne gesicherte Wohnmöglichkeit würde sie stark destabilisieren und den Erfolg der Ausbildung gefährden. Daher sei die Verlängerung der Maßnahme unabdingbar.
6
Der Antragsgegner hielt zu einem Hilfeplangespräch am 8. November 2023 mit Hilfeplanfortschreibung vom 4. Dezember 2023 insbesondere fest, dass die Antragstellerin bezüglich ihrer psychischen Verfassung selbst therapeutischen Bedarf sehe. Es komme immer wieder zu krisenhaften Phasen, die von Antriebslosigkeit und Rückzug gekennzeichnet seien. Momentan sei sie nicht therapeutisch angebunden. Bisher sei es auch zu keiner Suche bezüglich Wohnraum ab Februar 2024 gekommen. Die Bezugsbetreuerin der Antragstellerin in der Einrichtung habe berichtet, dass die Antragstellerin gute und schlechte Phasen in ihrer psychischen Stabilität habe. Die Phasen psychischer Krisen fänden jedoch nicht mehr oft statt. Die Bezugsbetreuerin telefoniere einmal in der Woche mit der Antragstellerin oder treffe sich mit ihr persönlich. Wenn es der Antragstellerin schlecht gehe, könne sie sich bei ihr aktiv Hilfe holen. Die Einrichtung sehe weiterhin großen Unterstützungsbedarf, um erreichte Ziele nicht zu gefährden und die Antragstellerin mit Hilfe von gesichertem Wohnraum zu stabilisieren. Die Bezugsbetreuerin und die Antragstellerin hätten bestätigt, dass die Beendigung der Jugendhilfe ab dem 21. Geburtstag und die Notwendigkeit der Schaffung einer Perspektive für die Zeit danach im Hilfeplangespräch im Januar 2023 bereits besprochen worden seien. Unter dem Stichpunkt „besondere Vereinbarungen“ wurde insbesondere festgehalten, dass die Hilfe weiterhin notwendig sei, da es aktuell noch Unterstützungsbedarf für die notwendige therapeutische Anbindung und bisher keinen alternativen Wohnraum gebe.
7
Der Antragsgegner teilte der Antragstellerin mit E-Mail vom 13. November 2023 mit, dass zum 19. Dezember 2023 näher bezeichnete Ziele, insbesondere in Bezug auf Behördenangelegenheiten, Finden alternativen Wohnraums, therapeutische Anbindung und Anbindung an externe Beratungsstellen, „befristet“ würden. Es werde um Rückmeldung zum Sachstand gebeten, um unabhängig von einem Antrag auf Weitergewährung schnellstmöglich eine anschließende Perspektive zu schaffen. Zudem machte der Antragsgegner Vorschläge für mögliche Wohnalternativen.
8
Die Einrichtung nahm gegenüber dem Antragsgegner mit Schreiben vom 17. November 2023 insbesondere dahingehend Stellung, dass sich die Antragstellerin in den letzten Jahren sehr positiv entwickelt habe und mittlerweile dank der pädagogischen Arbeit ihrer Bezugsbetreuerin auch Therapieeinsicht habe. Die Einrichtung erwarte das Setzen einer angemessenen Frist, damit die Antragstellerin die Möglichkeit habe, die im Hilfeplangespräch festgelegten Ziele zu erreichen. Eine Verlängerung der Hilfe bis August 2024 werde für dringend angezeigt erachtet.
9
Mit Schreiben vom 18. Dezember 2023 nahm die Einrichtung gegenüber dem Antragsgegner ergänzend dahingehend Stellung, dass der Fokus der Unterstützung der Antragstellerin im vergangenen Sommer vor allem auf (weiterer) Stabilisierung und Erhalt einer Tagesstruktur/Weiterführung der Ausbildung gelegen habe, da dies Grundvoraussetzungen für die Beendigung der pädagogischen Unterstützung seien. Die Antragstellerin sei beim Wohnungsamt angebunden und habe sich um Wohnungen beworben. In persönlichen Angelegenheiten könne sie selbst den Kontakt zu Behörden aufnehmen. Die Fortführung der Jugendhilfe sei zur weiteren Stabilisierung der Antragstellerin aufgrund traumatischer Erlebnisse und wiederkehrender Phasen von psychischer Instabilität, der Aufrechterhaltung der Ausbildungsfähigkeit, Unterstützung des Ausbildungsbesuchs und dem Abschluss der Ausbildung, zur Klärung des Aufenthaltstitels und der Schaffung einer langfristigen, gesicherten Perspektive in Deutschland sowie zum Finden bezahlbaren, langfristig gesicherten Wohnraums notwendig.
10
Am 20. Dezember 2023 fand ein Gespräch zwischen Fachkräften des Antragsgegners, der Antragstellerin und deren Bezugsbetreuerin statt, in dem die Antragstellerin den Stand ihrer Bemühungen bezüglich der Wohnungssuche, des Findens eines Therapieplatzes und der Beantragung einer finanziellen Unterstützung für Auszubildende schilderte. Der Antragsgegner hielt hierzu fest, dass die Antragstellerin auf Nachfrage geäußert habe, dass sie zu ihrem Freund ziehen könne. Sie sei auch auf die Möglichkeit eines WG-Zimmers hingewiesen worden. Die Antragstellerin habe zudem erklärt, dass sie abklären wolle, ob es in ihrem Umkreis ein Ausbildungswohnheim gebe. Als Notlösung sei der Antragsgegnerin „…“ genannt worden. Der Antragstellerin seien Unterstützungsmöglichkeiten des Antragsgegners aufgezeigt worden. Die Ziele, die die Antragstellerin formuliere, könnten auch mit einer ambulanten Unterstützung angemessen aufgefangen werden. Dies habe nach mehrfacher Nachfrage auch die Bezugsbetreuerin der Antragstellerin bestätigt.
11
Am 20. Dezember 2023 stellte die Antragstellerin einen Weitergewährungsantrag auf Hilfe für junge Volljährige, dem ein handschriftliches Schreiben beigefügt war, in dem sie insbesondere ausführte, dass sie noch sehr viel Bedarf für Jugendhilfe sehe. Sie habe sehr viel durchmachen müssen, habe noch sehr damit zu kämpfen und dies äußere sich immer wieder in Bezug auf ihr psychisches Wohlbefinden. Es gebe ihr ein gutes Gefühl, zu wissen, dass ihre Betreuerin für sie da sei. Es sei für sie ein schwerer Weg gewesen Hilfe anzunehmen. So habe sie noch beim letzten Hilfeplangespräch auf keinen Fall Hilfe annehmen wollen. Dies habe sich nun nach Gesprächen mit ihrer Betreuerin geändert. Leider habe sie aber bislang noch keinen Therapeuten gefunden. Ausbildung, Finanzen, Wohnungssuche und Betreuung ihres Kindes seien große Themen, die sie belasten würden und bezüglich denen sie noch Unterstützung von ihren Betreuern benötige.
12
Die Antragstellerin teilte dem Antragsgegner mit E-Mail vom 25. Januar 2024 mit, dass sie noch keine Wohnung gefunden habe und nun wieder auf der Suche nach einer Ausbildungsstelle sei. Die Einrichtung teilte mit Schreiben vom selben Tag dem Antragsgegner, bei dem es am 29. Januar 2024 einging, ergänzend mit, dass das Ausbildungsverhältnis völlig unerwartet zum 31. Januar 2024 beendet worden sei. Die Antragstellerin sei sehr enttäuscht und niedergeschlagen gewesen, habe sich aber bereits wieder auf die Suche nach einer neuen Praxisstelle gemacht.
13
Der Antragsgegner hielt zu einer internen Besprechung am 31. Januar 2024 fest, dass er die Maßnahme ausreichend gesteuert habe. Ziele im Hilfeverlauf seien gesetzt und überprüft worden und die Beendigung zum 21. Geburtstag frühzeitig angekündigt worden. Der Antragstellerin seien Alternativen aufgezeigt worden und Hilfsangebote in Form von Zwischengesprächen und Nachbetreuung gemacht worden, die von der Einrichtung aber nicht ausreichend umgesetzt worden seien.
14
Der Antragsgegner entschied daraufhin mit Fachkräfteentscheidung vom 31. Januar 2024, dass eine stationäre Jugendhilfe für den Bedarf der Antragstellerin weder die geeignete, noch die notwendige Maßnahme sei. Die Antragstellerin sei in der Lage sich selbständig zu versorgen, eine feste Tagesstruktur einzuhalten und ihren Haushalt adäquat zu führen. Ihre therapeutischen Bedarfe werde sie mithilfe der geplanten Therapie bearbeiten können. Sie sei in der Lage, selbständig ihren beruflichen Werdegang zu organisieren. Mithilfe spezifischer Beratungsstellen könne der Bedarf, z.B. finanzielle Beratung, gedeckt werden. Zur weiteren Stabilisierung werde eine Nachbetreuung bis zu 30 Fachleistungsstunden innerhalb von bis zu sechs Monaten gewährt.
15
Mit Bescheid vom 31. Januar 2024 lehnte der Antragsgegner den Antrag der Antragstellerin vom 20. Dezember 2023 auf Weitergewährung der Hilfe für junge Volljährige ab. Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass auf Grundlage bisheriger Hilfeplanprotokolle und des bisherigen Hilfeverlaufs im Rahmen einer Fachkräfteentscheidung am 31. Januar 2024 weiterer stationärer Jugendhilfebedarf auf Notwendigkeit und Eignung geprüft worden sei. Mehrere Fachkräfte seien unter Einbezug der Führungskräfte zu dem Ergebnis gekommen, dass weder Notwendigkeit noch Eignung einer stationären Jugendhilfe gegeben seien. Der Antragsgegner empfehle der Antragstellerin unterstützend zum Übergang in ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben, das Angebot an ambulanten Nachbetreuungsstunden in Anspruch zu nehmen. Bei Bedarf werde hierzu ein gesonderter Bescheid ergehen.
16
Mit E-Mail vom selben Tag informierte der Antragsgegner die Antragstellerin über die Beendigung der stationären Hilfe für junge Volljährige zum … und bot ihr hinsichtlich der ambulanten Nachbetreuung die Gewährung eines Kontingents von 30 Fachleistungsstunden bis zu sechs Monaten an. Die Antragstellerin wurde um Rückmeldung gebeten, ob sie dieses Angebot annehme, damit ein diesbezüglicher Bescheid erlassen werden könne.
17
Der Bevollmächtigte der Antragstellerin legte mit Schreiben vom … Widerspruch gegen den Bescheid vom 31. Januar 2024 ein.
18
Mit Schriftsatz vom 14. Februar 2024, bei Gericht eingegangen am selben Tag, beantragte der Bevollmächtigte der Antragstellerin beim Verwaltungsgericht München,
19
den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gemäß § 123 VwGO zu verpflichten, der Antragstellenden bis zur Entscheidung über die Hauptsache Leistungen der Jugendhilfe für Volljährige in Form der stationären Jugendhilfe über den … hinaus, hilfsweise ab Antragstellung, zu gewähren.
20
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Einrichtung weiterhin erheblichen Unterstützungsbedarf bezüglich der Antragstellerin sehe. Dennoch habe der Antragsgegner den Weitergewährungsantrag der Antragstellerin mit Bescheid vom 31. Januar 2024 mit unzureichender Begründung abgelehnt. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Fortführung der Jugendhilfemaßnahme, da diese geeignet und notwendig sei. Ein Abbruch würde die bisher erreichten Ziele und ihre Gesundheit erheblich gefährden, so dass ihr nicht wiedergutzumachende Nachteile drohen würden. Gerade die Tatsache, dass noch keine alternative Wohnform gefunden worden sei, begründe den weiteren Hilfebedarf. Zwar sei es nicht Aufgabe der Jugendhilfe, Wohnraum selbst zur Verfügung zu stellen, wohl aber, die Antragstellerin in die Lage zu versetzen, mit der extrem schwierigen Lage auf dem Münchner Wohnungsmarkt umgehen zu können, ohne dass eine Gefährdung der Gesundheit bzw. der bisher erreichten Ziele der Jugendhilfe drohe.
21
Weiter wurde beantragt,
22
der Antragstellerin Prozesskostenhilfe und die Beiordnung des Unterfertigten als Prozessbevollmächtigten zu gewähren.
23
Der Antragsgegner legte die Behördenakten vor und beantragte mit Schriftsatz vom 20. Februar 2024,
24
den Antrag abzulehnen.
25
Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass kein Anordnungsgrund gegeben sei. Bereits im Hilfeplan vom Januar 2023 sei mit der Antragstellerin besprochen worden, dass sie Wohnraum ab dem 21. Geburtstag benötige. Sie habe ausreichend lang Zeit gehabt, sich Wohnraum für die Zeit nach Beendigung der Jugendhilfe zu suchen. Der Antragsgegner habe im Dezember 2013 auch Vorschläge für alternativen Wohnraum gemacht. Die Antragstellerin habe am 20. Dezember 2023 zugesagt, dass sie nach Ende der Jugendhilfe zu ihrem Partner ziehen könne. In demselben Gespräch sei seitens der Einrichtung bestätigt worden, dass der Bedarf der Antragstellerin auch im ambulanten Setting ausreichend angegangen werden könne. Stattdessen befinde sich die Antragstellerin weiterhin ohne Leistungsbewilligung und ohne Kostenübernahmezusage des Antragsgegners in der Wohnung im außenbetreuten Wohnen des Trägers und sei alternativen Wohnmöglichkeiten gegenüber nicht offen.
26
Es sei auch kein Anordnungsanspruch erkennbar. Der Hilfeverlauf zeige, dass die Antragstellerin sehr selbständig sei und es geschafft habe ihren Schulabschluss nachzuholen. Derzeit absolviere sie eine Ausbildung zur medizinischen Fachangestellten, allerdings mit mehreren Wechseln des Ausbildungsbetriebs. Sie habe sich jeweils selbständig um die Organisation eines neuen Betriebs kümmern können. Aktuell habe sie einen Aufhebungsvertrag zum 31. Januar 2024 unterschrieben, sei jedoch wieder aktiv im Bewerbungsverfahren. Durch die Ausbildung sei das Einkommen der Antragstellerin unabhängig von der Jugendhilfe sichergestellt. Eine ausreichende Anbindung an Beratungsstellen zum Thema Finanzen sei von Seiten der Antragstellerin bislang nicht erfolgt. Gegenüber einer therapeutischen Anbindung zur Aufarbeitung ihrer biographischen Themen habe sich die Antragstellerin in den vergangenen Jahren trotz wiederholter Motivation durch die Fachkräfte und Diskussionen in den Hilfeplangesprächen sehr ambivalent gezeigt. Die Antragstellerin habe keinen Bedarf an Unterstützung mehr formuliert, der über die Nachbetreuungsstunden hinausgehe, die sie in Anspruch nehmen könne. Eine stationäre Jugendhilfemaßnahme sei für ihren Bedarf keine geeignete und notwendige Maßnahme mehr. Zur weiteren Stabilisierung werde eine Nachbetreuung bis zu 30 Fachleistungsstunden innerhalb von bis zu sechs Monaten empfohlen. Die Antragstellerin sei am 31. Januar 2024 schriftlich informiert worden, dass sie rückmelden solle, ob sie die Nachbetreuung in Anspruch nehmen wolle. Bislang sei jedoch keine Rückmeldung erfolgt.
27
Mit Schriftsatz vom 22. Februar 2024 führte der Bevollmächtigte der Antragstellerin insbesondere aus, dass die Antragstellerin zwar tatsächlich ein relativ hohes Maß an Selbständigkeit aufweise, dass aber in Krisenzeiten ein erheblicher Unterstützungsbedarf bestehe. Wechsel der Ausbildungsstelle seien stets von emotionalen Krisen und depressiven Episoden begleitet gewesen und die Antragstellerin sei im Prozess der Neubewerbung auf umfassende sozialpädagogische Unterstützung angewiesen gewesen. Die Antragstellerin habe an der Wohnperspektive nach Ablauf der Jugendhilfe immer wieder gearbeitet. Seitdem sie im Januar 2024 erneut ihre Ausbildungsstelle verloren habe, verfüge sie weder über eigenes Einkommen, noch über die Möglichkeit, sich um ein Zimmer in einem Ausbildungsheim zu bewerben. Die Antragstellerin habe eine therapeutische Anbindung nicht verweigert. Sie bemühe sich derzeit um einen Therapieplatz. Solange kein gesicherter Ausbildungsplatz und keine therapeutische Anbindung gegeben seien, sei eine Betreuung mit 30 Fachleistungsstunden auf sechs Monate nicht ausreichend. Die Beendigung der Hilfe zum jetzigen Zeitpunkt würde für die Antragstellerin die Entlassung in die Wohnungslosigkeit bedeuten, so dass mit einer deutlichen Verschlechterung ihres psychischen Gesamtzustands zu rechnen wäre.
28
Mit Schriftsatz vom 23. Februar 2024 teilte der Bevollmächtigte der Antragstellerin ergänzend insbesondere mit, dass die Antragstellerin von ihrem Freund mittlerweile dauerhaft getrennt sei. Auch eine neue Ausbildungsstelle sei noch nicht vorhanden. Sie sei als Aushilfe in der Gastronomie tätig, aufgrund ihrer psychischen Verfassung aber derzeit nicht in der Lage, dort zu arbeiten. Insgesamt sei sie aktuell in einer schlechten psychischen Verfassung und bedürfe relativ umfassender Betreuung.
29
Der Antragsgegner teilte mit Schriftsatz vom 6. März 2023 mit, dass er auch nach erneuter interner Gefährdungsabschätzung einer Verlängerung der stationären Maßnahme fachlich nicht zustimmen könne. Der Grad der Persönlichkeitsentwicklung der Antragstellerin befähige sie zu einer selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und selbständigen Lebensführung. Ein weiterer Verbleib in einer Wohnung der Einrichtung werde als nicht zielführend angesehen. Es sei seitens der Einrichtung trotz ausreichender Steuerung des Antragsgegners nicht bzw. zu spät eine Unterstützung der Antragstellerin bei der Wohnungssuche erfolgt und das Prinzip des „Förderns und Forderns“ nicht angewandt worden. Eine Änderung in der Arbeitsweise der Einrichtung sei nicht zu erwarten. Die Einrichtung habe eher das Potential, dysfunktionale Muster der Antragstellerin zu verstärken. Zudem habe sich in den vergangenen Monaten gezeigt, dass die Mitwirkungsbereitschaft der Antragstellerin nicht mehr ausreichend gegeben sei, was auch deren „Jugendhilfemüdigkeit“ anzurechnen sei. Der Antragsgegner werde die Antragstellerin auch nicht in die Perspektivlosigkeit entlassen. Ihr seien genügend Alternativvorschläge unterbreitet worden. Im Gespräch am 20. Dezember 2024 sei auch die Frauenunterkunft „…“ vorgestellt worden, die einen Schutzraum für Frauen biete, in den die Antragstellerin sofort für vorerst acht Wochen aufgenommen werden könnte, in denen an Alternativlösungen gearbeitet werden könne. Es gebe dort eine enge Betreuung der Frauen. Sollte der Schutzraum bei „…“ ausnahmsweise belegt sein, arbeite die Unterkunft eng mit der … zusammen, um Alternativen anbieten zu können. Da der Antragsgegner weiterhin einen Bedarf an ambulanter Unterstützung für die Antragstellerin sehe, biete er – zusätzlich zu Angeboten der möglichen Unterkünfte – an, ihr eine ambulante Jugendhilfe bei einem externen Träger für bis zu drei Monate und bis zu fünf Fachleistungsstunden pro Woche zukommen zu lassen.
30
Der Bevollmächtigte der Antragstellerin führte hierzu mit Schriftsatz vom 12. März 2024 insbesondere aus, dass der Antragsgegner eine „nicht existente Mitwirkungsbereitschaft“ der Antragstellerin annehme, ohne zu berücksichtigen, dass dies gerade in deren noch nicht hinreichend entwickelten Persönlichkeit begründet liege. Es werde ausgeblendet, dass aufgrund der anderen Probleme, insbesondere im Bereich der beruflichen Entwicklung, die Wohnperspektive nicht im Fokus der Antragstellerin gelegen habe. Eine Unterbringung der Antragstellerin in der „…“ wäre eine bloße Notmaßnahme zur Vermeidung der Wohnungslosigkeit und diese Einrichtung werde häufig von Klienten mit ganz erheblichen psychischen Problemen genutzt.
31
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
32
Der Antrag hat Erfolg, soweit die Antragstellerin begehrt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab Antragstellung im Eilverfahren, also ab dem 14. Februar 2024, vorläufig Hilfe für junge Volljährige in Form der stationären Unterbringung in einem außenbetreuten Appartement im sozialpädagogischen Einzelwohnen H. des Trägers S. für mindestens weitere drei Monate zu bewilligen.
33
Soweit die Antragstellerin darüber hinaus die Gewährung dieser Hilfe bereits ab dem … 2024 begehrt, ist der Antrag hingegen abzulehnen. Eine Verpflichtung zur Leistungsbewilligung von Jugendhilfemaßnahmen für die Vergangenheit ist nicht möglich. Frühester Zeitpunkt für eine solche Verpflichtung durch das Gericht im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens ist daher die bei Gericht erfolgte Antragsstellung am 1… (vgl. VG München, B.v. 21.1.2021 – M 18 E 20.6374 – juris Rn. 86; VG Magdeburg, B.v. 26.11.2012 – 4 B 235/12 – juris Rn. 27 m.w.N.). Der Antrag war daher insoweit abzulehnen.
34
Hingegen war der Antrag gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO sachdienlich dahingehend auszulegen, dass die Antragstellerseite lediglich eine Weitergewährung der Hilfe für drei weiteren Monate begehrt. Zwar beantragte der Bevollmächtigte der Antragstellerin im Schriftsatz vom 1… zunächst eine Weiterbewilligung der Hilfe bis „zur Entscheidung über die Hauptsache“. Im Folgenden stellte der Bevollmächtigte jedoch im Rahmen der von Seiten des Gerichts angestoßenen Verhandlungen klar, dass er eine vorläufige Weitergewährung der Hilfe für (mindestens) drei weitere Monate anstrebe. Auch der Antragsgegner erwähnte in seinem Schriftsatz vom 6. März 2024, dass der Bevollmächtigte der Antragstellerin in einem Telefonat mit der zuständigen Sachbearbeiterin am 29. Februar 2024 eine Weitergewährung der „aktuellen Maßnahme“ um mindestens drei Monate als „diskutabel“ erachtet habe.
35
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass der Antragsteller das von ihm behauptete streitige Recht (den Anordnungsanspruch) und die drohende Gefahr seiner Beeinträchtigung (den Anordnungsgrund) glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
36
Für das Vorliegen eines Anordnungsgrunds ist grundsätzlich Voraussetzung, dass es dem Antragsteller unter Berücksichtigung seiner Interessen, aber auch der öffentlichen Interessen und der Interessen anderer Personen nicht zumutbar ist, eine Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Maßgebend sind dabei die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2011 – 12 CE 11.2215 – juris Rn. 6).
37
Grundsätzlich dient die einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses. Mit der von der Antragstellerin begehrten Entscheidung wird die Hauptsache aber – zumindest teilweise – vorweggenommen. In einem solchen Fall sind an die Prüfung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch qualifiziert hohe Anforderungen zu stellen, d.h. der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nur in Betracht, wenn ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg in der Hauptsache – jedenfalls dem Grunde nach – spricht und der Antragsteller ohne die einstweilige Anordnung unzumutbaren Nachteilen ausgesetzt wäre (BayVGH, B.v. 18.3.2016 – 12 CE 16.66 – juris Rn. 4).
38
Nach diesen Maßgaben hat die Antragstellerin sowohl einen – in zeitlicher Hinsicht beschränkten – Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
39
Ein Anspruch der Antragstellerin auf Hilfe für junge Volljährige nach §§ 41, 34 SGB VIII, dem vorliegend allein durch die stationäre Unterbringung in einem außenbetreuten Appartement im sozialpädagogisch betreuten Einzelwohnen H. Rechnung getragen werden kann, ist hinsichtlich eines Zeitraumes vom … bis zum …, also bis circa drei Monate nach der Entscheidung des Gerichts, ausreichend glaubhaft gemacht.
40
Gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII erhalten junge Volljährige geeignete und notwendige Hilfe, wenn und solange ihre Persönlichkeitsentwicklung eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung nicht gewährleistet. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten § 27 Abs. 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten, des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt, § 41 Abs. 2 SGB VIII.
41
Grundsätzlich unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Hilfemaßnahme nach ständiger verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung einem kooperativen, sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung des betroffenen Hilfeempfängers und der Fachkräfte des Jugendamtes, welche nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern nur eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthalten muss, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich in diesem Fall darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet wurden, keine sachfremden Erwägungen eingeflossen und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist damit gerichtlich nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (BayVGH, B.v. 6.2.2017 – 12 C 16.2159 – juris Rn. 11 m.w.N.).
42
Will ein Betroffener – wie hier die Antragstellerin – die Verpflichtung des Jugendhilfeträgers zur Durchführung einer bestimmten Hilfemaßnahme im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erwirken, muss er im Hinblick auf den im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit bestehenden Beurteilungsspielraum des Jugendamts darlegen und glaubhaft machen, dass allein die beanspruchte Hilfemaßnahme zur Deckung des Hilfebedarfs erforderlich und geeignet ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2017 – 12 C 16.1693 – juris Rn. 8; B.v. 17.8.2015 – 12 AE 15.1691 – juris Rn. 31; B.v. 21.2.2013 – 12 CE 12.2136 – juris Rn. 30).
43
Ein grundsätzlicher Bedarf der Antragstellerin nach Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenständigen Lebensführung im Sinne des § 41 Abs. 1 SGB VIII ist vorliegend unstreitig. Allerdings erachtet der Antragsgegner nicht die Weitergewährung einer stationären Unterbringung als erforderlich, sondern hält Nachbetreuungsstunden bzw. eine ambulante Jugendhilfemaßnahme für ausreichend.
44
Unter Zugrundelegung des Prüfungsmaßstabs der sozialpädagogischen Fachlichkeit erachtet das Gericht die Entscheidung des Antragsgegners hier als nicht mehr vertretbar. Die Antragstellerin hat vielmehr glaubhaft gemacht, dass der hinsichtlich der Auswahl der konkreten Hilfemaßnahme gegebene Beurteilungsspielraum des Antragsgegners sich vorliegend – zumindest bis zu einer erneuten fachgerechten Überprüfung des Jugendhilfebedarfs – allein auf die beantragte weitere Unterbringung in einem außenbetreuten Appartement im sozialpädagogisch betreuten Einzelwohnen H. verengt hat.
45
Vielmehr ist zur angemessenen Deckung des Bedarfs der Antragstellerin, zu deren Stabilisierung und um ihren bereits erzielte positive Entwicklung nicht zu gefährden, die weitere stationäre Unterbringung gemäß § 41 i.V.m. § 34 SGB VIII in einem außenbetreuten Appartement im sozialpädagogischen Einzelwohnen der Einrichtung H. zumindest bis zum … zwingend erforderlich.
46
Denn zwar hat sich die Antragstellerin stets durch ihre große Selbständigkeit ausgezeichnet. Vom Antragsgegner wurde dies z.B. in der Fachkräfteentscheidung vom 20. Juli 2020, im Hilfeplan vom 22. Oktober 2021 sowie in den Hilfeplanfortschreibungen vom 11. Januar 2023 und 4. Dezember 2023 betont. Auch von Seiten der Einrichtung wurde immer wieder die weitgehende Selbständigkeit der Antragstellerin und deren positive Entwicklung in den letzten Jahren hervorgehoben, insbesondere im Kurzbericht vom 27. Oktober 2020, in den Entwicklungsberichten vom 19. Oktober 2021 und 19. Dezember 2022 sowie in der Stellungnahme vom 17. November 2023.
47
Jedoch besteht diese relativ große Selbständigkeit der Antragstellerin zur Überzeugung des Gerichts nur in Zeiten psychischer Stabilität. In herausfordernden Zeiten neigt sie hingegen zu psychisch instabilen Phasen, in denen sie sich in der Vergangenheit nur mit intensiver Unterstützung durch ihre Bezugsbetreuerin und einem im Übrigen stabilen Umfeld relativ zeitnah wieder stabilisieren konnte.
48
Insoweit wurde z.B. im Entwicklungsbericht der Einrichtung vom 19. Dezember 2022 ausgeführt, dass die Kündigung ihrer ersten Ausbildungsstelle ein schwerer Schlag für die Antragstellerin gewesen sei und sie in eine wahrnehmbare depressive Episode geraten sei. Nach ein paar Wochen sei eine spürbare Besserung ihrer Stimmung eingetreten. Mit regelmäßig stattfindenden Gesprächen habe sie sich über den Sommer zunehmend stabilisiert. Im Entwicklungsbericht vom 2. November 2023 wurde insbesondere ausgeführt, dass sich der Verlust der Praxisstellen für die Antragstellerin oft wie ein Versagen anfühle, was zu negativen Gedanken und depressiven Episoden führe. Die Antragstellerin benötige aufgrund massiver Traumatisierungen in der Vergangenheit auch über das 21. Lebensjahr hinaus unbedingt eine stabile Bezugsperson, die ihr positive Beziehungserfahrungen ermögliche und sie beim Erreichen ihrer Ziele unterstütze. Die Antragstellerin werde nach wie vor als stark belastet erlebt und ihr psychischer Zustand sei sehr schwankend. Die vorübergehende Trennung von ihrem Partner und der mehrfache Wechsel der Ausbildungsstelle hätten sie auch im vergangenen Jahr vor mehrere belastende Situationen gestellt. Eine tiefergehende therapeutische Bearbeitung wäre ein wichtiger Schritt, bedürfe jedoch eines sicheren Rahmens ohne existentielle Ängste, den die Einrichtung der Antragstellerin bieten könne. Eine Beendigung der Jugendhilfemaßnahme ohne gesicherte Wohnmöglichkeit würde die Antragstellerin stark destabilisieren und den Erfolg der Ausbildung gefährden. Auch der Antragsgegner hielt in der Hilfeplanfortschreibung vom 4. Dezember 2023 fest, dass es bei der Antragstellerin immer wieder zu psychisch krisenhaften Phasen komme, die von Antriebslosigkeit und Rückzug gekennzeichnet seien. Die Bezugsbetreuerin habe berichtet, dass auf den Verlust einer Praxisstelle stets Phasen gefolgt seien, in denen sie psychisch belastet erschienen sei. Von Seiten der Einrichtung wurde zudem vorgetragen, dass die Krisen der Antragstellerin existentiell seien und sie sich manchmal auch suizidal äußere. Mit Schreiben vom 18. Dezember 2023 nahm die Einrichtung ergänzend dahingehend Stellung, dass die Fortführung der Jugendhilfe insbesondere zur weiteren Stabilisierung der Antragstellerin aufgrund traumatischer Erlebnisse und wiederkehrender Phasen von psychischer Instabilität notwendig sei.
49
Auch aktuell ist die Antragstellerin wieder mit mehreren für sie negativen Umständen konfrontiert, die sie psychisch erheblich belasten.
50
Denn die Einrichtung teilte dem Antragsgegner mit Schreiben vom 25. Januar 2024 mit, dass das Ausbildungsverhältnis der Antragstellerin völlig unerwartet zum 31. Januar 2024 beendet worden sei. Die Antragsteller sei daraufhin sehr niedergeschlagen gewesen. Der Bevollmächtigte der Antragstellerin führte mit Schriftsatz vom 23. Februar 2024 aus, dass die Antragstellerin mittlerweile dauerhaft von ihrem Freund getrennt sei und eine neue Ausbildungsstelle immer noch nicht vorhanden sei. Zwar sei sie als Aushilfe in der Gastronomie tätig, sei aber aufgrund ihrer psychischen Verfassung derzeit nicht in der Lage, dort zu arbeiten. Insgesamt sei sie aktuell in einer schlechten psychischen Verfassung und bedürfe relativ umfassender Betreuung. Darüber hinaus belastet die Antragstellerin weiterhin der Umstand, dass noch immer keine zumutbare Wohnungsalternative für die Zeit nach Beendigung der stationären Jugendhilfe gefunden wurde. Außerdem sei sie weiterhin mit der schwierigen familiären Situation in Bezug auf den Umgang mit ihrem Kind konfrontiert und es ihr bislang nicht gelungen, eine angemessene therapeutische Anbindung zu finden.
51
Wenn man die Antragstellerin in dieser schwierigen Problemlage abrupt aus ihrem vertrauten Wohnumfeld herausreißen würde und ihr zugleich die Unterstützung durch die ihr vertraute Bezugsbetreuerin nehmen würde, der es in der Vergangenheit immer wieder gelungen ist, sie psychisch zu stabilisieren, wäre zu befürchten, dass die Antragstellerin in ihrer Entwicklung innerhalb kürzester Zeit erheblich zurückgeworfen werden würde. Dann wäre auch zu befürchten, dass es zu einem endgültigen Abbruch der Berufsausbildung kommen würde. Dies würde umso mehr gelten, wenn man der Antragstellerin zumuten würde, eine langfristige Wohnperspektive, das Finden einer neuen Ausbildungsstelle und das Erlangen einer angemessenen therapeutischen Anbindung von einer Obdachlosenunterkunft für Frauen aus zu organisieren, die ihr kein ausreichendes stabiles soziales Umfeld anbieten kann. Ein zumindest vorläufiges Belassen der Antragstellerin in ihrem vertrauten wohnlichen und sozialen Umfeld ist auch deswegen angezeigt, weil es der Antragstellerin aufgrund der intensiven Bemühungen ihrer Bezugsbetreuerin gerade in den letzten Monaten gelungen ist, sich für eine ernsthafte therapeutische Aufarbeitung ihrer psychischen Probleme, die zumindest teilweise auf traumatischen Erfahrungen in der Vergangenheit beruhen, zu öffnen*
52
Eine Ablehnung der Weitergewährung der Hilfe für junge Volljährige in stationärer Form trotz des oben dargestellten fortbestehenden Bedarfs kann derzeit auch nicht in nachvollziehbarer Weise damit gerechtfertigt werden, dass es an einer ausreichenden Mitwirkungsbereitschaft der Antragstellerin fehle.
53
Soweit der Antragsgegner in der „Zusammenfassenden Bewertung“ zur Fachkräfteentscheidung am 31. Januar 2024 eine „teilweise nicht ausreichend vorhandene Mitwirkung“ der Antragstellerin anführte und ihr im Schriftsatz vom 6. März 2024 sogar eine „nicht existente Mitwirkungsbereitschaft“ infolge behaupteter „Jugendhilfemüdigkeit“ unterstellte, ist dies aus Sicht des Gerichts nicht hinreichend nachvollziehbar. Denn die Antragstellerin hat sich, nachdem der Antragsgegner von ihr mit E-Mail vom 13. November 2023 ein zeitnahes aktives Tätigwerden eingefordert hatte, einer Mitwirkung keinesfalls komplett verweigert. So ergibt sich insbesondere aus der Stellungnahme der Einrichtung vom 18. Dezember 2023, dass die Antragstellerin inzwischen beim Wohnungsamt angebunden sei und sich um Wohnungen beworben habe. Aus dem Aktenvermerk des Antragsgegners über die Besprechung mit der Antragstellerin am 20. Dezember 2023 ergibt sich darüber hinaus, dass sie zwischenzeitlich im Hinblick auf ihre psychischen Probleme bei Therapeuten angerufen hatte und sich auf eine Warteliste habe setzen lassen. Auch hat sie ihrem Weitergewährungsantrag bezüglich der stationären Hilfe vom 20. Dezember 2023 ein persönliches Schreiben beigefügt, in dem sie die Bereitschaft erklärte, sich nunmehr ihren psychischen Problemen zu stellen und therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zudem teilte die Antragstellerin dem Antragsgegner mit E-Mail vom 25. Januar 2024 nochmals den aktuellen Stand ihrer Bemühungen hinsichtlich der Wohnungssuche mit und informierte den Antragsgegner über den erneuten Verlust der Ausbildungsstelle.
54
Auch durfte der Antragsgegner nicht ohne weitere Aufklärung davon ausgehen, dass jedenfalls keine ausreichende Mitwirkungsbereitschaft der Antragstellerin besteht. Denn allein aus dem Umstand, dass die Bemühungen der Antragstellerin, insbesondere im Hinblick auf die Wohnungssuche, teilweise eher zaghaft waren und sie teilweise nur auf mehrfache Aufforderung aktiv wurde, insbesondere auch bezüglich der Vorlage von Unterlagen beim Antragsgegner, kann noch nicht auf eine nicht hinreichend ausgeprägte Mitwirkungsbereitschaft der Antragstellerin geschlossen werden. Dies gilt umso mehr, als es für dieses Verhalten nachvollziehbare Gründe gegeben haben könnte bzw. dieses auf einer Überforderung der Antragstellerin infolge einer noch nicht ausreichenden Verselbständigung beruhen könnte.
55
Die Bereitschaft zur Mitwirkung des Leistungsberechtigten ist zwar eine generelle Voraussetzung bei der Gewährung persönlicher Hilfen. Allerdings ist insbesondere bei der Hilfe für junge Volljährige ein angemessener Mittelweg zu beschreiten zwischen einer distanzierten Position, die von dem jungen Menschen den ständigen Nachweis der Mitwirkungsbereitschaft erwartet, und einer bevormundenden und aufdrängenden Pädagogik, die abweichende Lebensentwürfe nicht tolerieren will. Eine Motivation des jungen Volljährigen zur Überbrückung von „Durststrecken“ ist Teil der Hilfe zur Persönlichkeitsentwicklung und eigenverantwortlichen Lebensführung, nicht aber ein Ausschlussgrund (Wiesner/Wapler/Gallep, 6. Aufl. 2022, SGB VIII § 41 Rn. 24). Eine phasenweise schwankende bzw. fehlende Mitwirkungsbereitschaft kann vielmehr gerade ein Anzeichen von einer noch nicht stabilen bzw. „erwachsenen“ Persönlichkeitsentwicklung sein. Hiervon kann nicht unmittelbar das Weiterbestehen der Anspruchsvoraussetzungen abhängig gemacht werden (LPK-SGB VIII/ Kunkel/ Kepert/ Dexheimer, 8. Aufl. 2022, SGB VIII § 41 Rn. 5).
56
Zudem kann der Antragsteller seine Kritik an dem fehlenden Engagement der Einrichtung, nicht der Antragstellerin anlasten. Insoweit obliegt es vielmehr ihm im Rahmen seiner Gesamtverantwortung ggf. lenkend einzugreifen. Hingegen genügt es nicht, sich überwiegend darauf zu beschränken, das aus seiner Sicht nicht ausreichende Engagement der Einrichtung und der Antragstellerin, insbesondere bezüglich der Wohnraumsuche, zu beklagen und diesen mit E-Mail vom 13. November 2023 umfangreiche Handlungspflichten aufzuerlegen sowie für deren Umsetzung eine unrealistisch kurze Frist zu setzen.
57
Um eine Verselbständigung der Antragstellerin dahingehend erreichen zu können, dass sie in absehbarer Zeit ohne stationäres Setting zurechtkommt, wird sich der Antragsgegner daher in der Zeit bis zum … in enger Zusammenarbeit mit der Antragstellerin und der Einrichtung intensiv mit den Themen auseinandersetzen müssen, die dieser Verselbständigung bislang im Wege standen. Es wird insbesondere geklärt werden müssen, welche Gründe es für den häufigen Ausbildungsplatzwechsel der Antragstellerin gab und wie die Antragstellerin, soweit diese auch auf deren Verhalten zurückzuführen waren, dabei unterstützt werden kann, Ausbildungsplatzwechsel künftig zu vermeiden. Auch im Übrigen muss der Antragsgegner die Antragstellerin in Bezug auf die Fortsetzung ihrer Ausbildung, das Schaffen einer langfristigen Wohnraumperspektive, ihre therapeutische Anbindung und die Bewältigung ihrer familiären Situation in Bezug auf die Betreuung ihres Sohnes unterstützen. Es obliegt dem Antragsgegner insoweit ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren durchzuführen und aufgrund eines solchen den weiteren Hilfebedarf der Antragstellerin zu beurteilen.
58
Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft machen können. Würde die von ihr beantragte Hilfe für junge Volljährige vorläufig für die kommenden Monate nicht gewährt werden, wäre angesichts der obigen Ausführungen mit erheblichen Nachteilen für ihre persönliche Entwicklung zu rechnen. Der in psychisch stabilen Phasen bereits deutliche Fortschritte zeigende Entwicklungsprozess der Antragstellerin wäre andernfalls erheblich gefährdet.
59
Dem Eilantrag war daher bis zum … stattzugeben. Das Gericht geht davon aus, dass die Durchführung eines ordnungsgemäßen weiteren Verfahrens durch den Antragsgegner einen Zeitraum von weiteren drei Monaten erfordert.
60
Zudem war die Verpflichtung des Antragsgegners vorliegend rückwirkend ab dem … auszusprechen. Denn zwar kann regelmäßig eine Verpflichtung zur Hilfeleistung nur für die Zukunft erfolgen. Vorliegend hat die Antragstellerseite ihren Eilantrag aber bereits am … bei Gericht gestellt und wurde im Folgenden mit Kenntnis des Gerichts von der Einrichtung weiterhin betreut. Das Gericht nahm zeitnah nach Eingang des Eilantrags Kontakt mit den Parteien auf und regte eine einvernehmliche Lösung an. Es wäre unbillig, wenn es letztlich zu Lasten der Antragstellerin ginge, dass die Parteien daraufhin auf Bitten des Gerichts Verhandlungen über eine außergerichtliche Einigung geführt haben. Daher ist vorliegend eine Übernahme der Kosten durch den Antragsgegner ab dem 14. Februar 2024, also dem Tag des Eingangs des Eilantrags beim Verwaltungsgericht (vgl. dazu: VG München, B.v. 21.1.2021 – M 18 E 20.6374 – juris Rn. 86; OVG S-H, B.v. 3.2.2021 – 3 MB 50/20 – juris Rn. 26) angemessen und sachgerecht.
61
Abschließend wird darauf hingewiesen, dass der Antragsgegner bei Wiederaufnahme der Ausbildung durch die Antragstellerin auch zu prüfen haben wird, ob als Folgemaßnahme zur stationären Unterbringung gemäß § 41 i.V.m. § 34 SGB VIII eine Unterbringung in einer sozialpädagogisch begleiteten Wohnform i.S.d. § 13 Abs. 3 SGB VIII erfolgen kann (vgl. hierzu: VG München, B.v. 20.1.2023 – M 18 E 22.6451 – juris Rn. 41 ff.).
62
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Dem Antragsgegner wurden die Kosten des Verfahrens ganz auferlegt, da die Antragstellerseite nur hinsichtlich des beantragten Zeitraums vom … 2024 bis zum 13. Februar 2024, also nur bezüglich weniger Tage, und somit nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
63
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
64
Nachdem dem (sachgerecht ausgelegten) Antrag der Antragstellerin weitgehend entsprochen wurde und der Antragsgegner die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe, so dass über diesen nicht mehr zu entscheiden war (vgl. BVerfG, B.v. 24.7.2019 – 2 BvR 686/19 – juris Rn. 48; B.v. 17.1.2017 – 2 BvR 2013/16 – juris Rn. 25; BayVGH, B.v. 13.12.2016 – 12 CE 16.2333 – juris Rn. 45).