Inhalt

LG Augsburg, Endurteil v. 10.04.2024 – 095 O 1366/20
Titel:

Erstattung von Kosten für Arzneimittel im Notlagentarif der privaten Krankenversicherung

Normenketten:
VVG § 193 Abs. 6, Abs. 7
VAG § 153 Abs. 1 S. 2, § 158 Abs. 2
BGB § 306 Abs. 2
MB/NLT § 4 Abs. 1
Leitsatz:
Im Notlagentarif der privaten Krankenversicherung besteht keine Erstattungspflicht des Krankenversicherers für die Kosten von Arzneimitteln, die nicht innerhalb von 10 Tagen nach Ausstellung der ärztlichen Verordnung aus der Apotheke bezogen werden (§ 4 Abs. 1 MB/NLT iVm Abschnitt A.2.Abs. 1 Tarif NLT). (Rn. 26 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
private Krankenversicherung, Notlagentarif, Leistungspflicht, Arzneimittel, Medikamente
Fundstellen:
r+s 2024, 555
BeckRS 2024, 8763
LSK 2024, 8763

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen. 
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar. 
Beschluss
Der Streitwert wird auf 8.516,41 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Mit der Klage werden Zahlungsansprüche aus einem privaten Krankenversicherungsvertrag geltend gemacht.
2
Der Kläger ist bei der Beklagten seit 01.04.1985 privat krankenversichert. Im Zeitraum vom 01.01.2014 bis 30.06.2019 wurde der Vertrag im Notlagentarif fortgeführt. Mit Schreiben vom 01.09.2014 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass der bisherige Versicherungsschutz des Klägers ab dem 01.01.2014 ruhen würde, zudem erhielt er einen Versicherungsschein, der den neuen Vertragsstand dokumentiere. Zuvor wurde der Kläger von der Beklagten mehrfach gemahnt. Auf das Anlagenkonvolut B… 12 wird vollumfänglich Bezug genommen. Seit dem 01.07.2019 ist der Kläger wieder im Tarif C… versichert.
3
Die für den Notlagentarif vom Verband der privaten Krankenversicherer festgelegten Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB/NLT 2013) nebst Tarifbedingungen NLT (Anlage B… 1) lauten auszugsweise wie folgt:
„§ 1 Gegenstand, Umfang und Geltungsbereich des Versicherungsschutzes
(1) Der Versicherer leistet im Rahmen der nachfolgenden Regelungen ausschließlich für Aufwendungen, die zur Heilbehandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft erforderlich sind, und für sonstige Leistungen des Notlagentarifs.
Die Erstattungspflicht des Versicherers beschränkt sich nach Grund und Höhe auf ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungen.
(2) Versicherungsfall für die Leistungen nach Absatz 1 ist die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen einer akuten Erkrankung oder eines Schmerzzustands; bei versicherten Kindern und Jugendlichen die medizinisch notwendige Heilbehandlung wegen Krankheit oder Unfallfolgen. Der Versicherungsfall beginnt mit der Heilbehandlung. Der Versicherungsfall endet bei Kindern und Jugendlichen, wenn nach medizinischem Befund Behandlungsbedürftigkeit nicht mehr besteht; bei anderen versicherten Personen endet der Versicherungsfall, wenn nach medizinischem Befund Behandlungsbedürftigkeit wegen der akuten Erkrankung bzw. des Schmerzzustands nicht mehr besteht. Muss die Heilbehandlung auf eine akute Krankheit ausgedehnt werden, die mit der bisher behandelten nicht ursächlich zusammenhängt, so entsteht insoweit ein neuer Versicherungsfall. Als Versicherungsfall gelten auch
(…)
e) die medizinisch notwendige Heilbehandlung einer versicherten Person wegen chronischer Erkrankung, deren Nichtbehandlung nach medizinischem Befund in einem absehbaren Zeitraum zu einer erheblichen Verschlechterung des Gesundheitszustands und damit zu einer akuten Erkrankung führt.
§ 4 Umfang der Leistungspflicht
(1) Art, Höhe, Umfang und Dauer der Versicherungsleistungen ergeben sich aus dem Tarif.
(2) Der versicherten Person steht die Wahl unter den Ärzten und Zahnärzten frei, die zur vertragsärztlichen bzw. -zahnärztlichen Versorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung zugelassen sind (Vertragsarzte bzw. Vertragszahnärzte).
(3) Arznei-, Verband- und Hilfsmittel müssen von den in Absatz 2 genannten Leistungserbringern vor deren Bezug verordnet, Arzneimittel außerdem aus der Apotheke bezogen werden.
Tarif NLT
A. Ambulante Heilbehandlungen
2. Arznei- und Verbandmittel
(1) Erstattungsfähig sind Aufwendungen für Verbandmittel und verschreibungspflichtige Arzneimittel, die von einem Vertragsarzt verordnet und innerhalb von zehn Tagen nach Ausstellung der Verordnung aus der Apotheke bezogen wurden. Erstattungsfähig sind ferner verordnete, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, die nach der Arzneimittel-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses durch den behandelnden Vertragsarzt ausnahmsweise zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden können.
Stehen für das verordnete, verschreibungspflichtige Arzneimittel mehrere wirkstoffgleiche Arzneimittel zur Verfügung, sind nur Aufwendungen für eines der drei preisgünstigsten Arzneimittel erstattungsfähig, es sei denn, die Verordnung eines bestimmten Arzneimittels ist medizinisch notwendig oder keines der drei preisgünstigsten Arzneimittel ist rechtzeitig lieferbar.“
4
Im Januar 2019 wurde beim Kläger eine chronisch lymphatische Leukämie diagnostiziert. Vom behandelnden Arzt, Prof. …, wurde dem Kläger am 11.02.2019 ein Rezept für das Medikament Imbruvica 140 mg HKP, 120 Stück, ausgestellt. Dabei handelt es sich um ein Arzneimittel zur Behandlung von Krebs, das den Wirkstoff Ibrutinib enthält. Das Medikament wurde am 25.03.2019 in der Apotheke bezogen.
5
Mit Schreiben vom 23.03.2019 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Erstattung der für das bezogene Medikament angefallenen Kosten in Höhe von 8.516,41 €. Diese forderte zunächst mit Schreiben vom 08.04.2019 weitere Unterlagen zur Prüfung und lehnte mit Schreiben vom 23.05.2019 die Übernahme der Kosten ab. Die Beklagte führte dazu aus, dass die Kosten für dieses Medikament aufgrund der im Notlagentarif vorhandenen Beschränkung auf ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungen nicht erstattet werden können und zudem Behandlungskosten bei chronischen Erkrankungen nicht erstattet werden würden.
6
Mit der Leistungsabrechnung Nummer 100, vom 12.07.2019 lehnte die Beklagte nochmals die Übernahme der Kosten ab. Mit Schreiben vom 12.08.2019 wies die Beklagte darauf hin, dass laut Versicherungsbedingungen des Notlagentarifs Arzneimittel innerhalb von 10 Tagen nach Ausstellung der ärztlichen Verordnung bezogen werden müsse und es nach dem klägerischen Vortrag nicht nachvollziehbar sei, weshalb das Rezept bereits am 11.02.2019 ausgestellt worden war, obwohl die medizinische Notwendigkeit zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig geklärt gewesen sei. Mit Schreiben vom 11.09.2019 verwies die Beklagte auf ihre Tarifbedingungen und teilte mit Schreiben vom 15.09.2019 nochmals mit, weshalb die Arzneimittelkosten aus dem Notlagentarif nicht erstattungsfähig seien.
7
Der Kläger behauptet, dass das streitgegenständliche Medikament für ihn medizinisch notwendig gewesen sei und die Nichtbehandlung nach medizinischem Befund in einem absehbaren Zeitraum zu einer erheblichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes und damit zu einer akuten Erkrankung geführt habe. Zudem handle es sich bei dem Medikament um eine korrekte und leitlinienkonforme Therapie. Eine medikamentöse Behandlung mit anderen Medikamenten sei nicht zu empfehlen und auch nicht erfolgversprechend gewesen. Zum Beweis dieser Tatsachen bot der Kläger die Einholung eines Sachverständigengutachtens an.
8
Zudem bestreitet er, sich im Zeitpunkt der Umtarifierung im Beitragsrückstand befunden zu haben. Darüber hinaus bestreitet er, die Versicherungs- und Tarifbedingungen zum Notlagentarif erhalten zu haben und dass diese mit den Musterbedingungen des PKV-Verbandes übereinstimmten.
9
Der Kläger ist der Ansicht, dass die Umtarifierung in den Notlagentarif unwirksam gewesen sei. Jedenfalls seien Bestimmungen in Versicherungsbedingungen, die nach den Umständen so ungewöhnlich sind, dass ein Vertragspartner mit ihm nicht zu rechnen brauche, unwirksam. Dies sei bei der 10-Tages-Frist der Fall. Daher sei die Beklagte zur Erstattung des Medikaments Imbruvica verplichtet.
10
Der Kläger beantragt,
1. Die Beklagte wird verurteilt dem Kläger die Kosten für das Medikament Imbruvica (Leistungsabrechnung Nr. 100) in Höhe von 8516,41 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 06.11.2019 zu erstatten.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 808,13 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten ab 06.11.2019 zu bezahlen.
11
Die Beklagte beantragt,
Klageabweisung.
12
Die Beklagte behauptet, dass der Kläger die Versicherungs- und Tarifbedingungen zum Notlagentarif erhalten habe, da diese drucktechnisch systembedingt dem Schreiben zur Umtarifierung vom 01.09.2014 beigefügt gewesen seien.
13
Die Beklagte ist der Ansicht, dass sie wegen Überschreitung der in Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT geregelten zehn-Tages-Frist nicht zur Leistung verpflichtet sei. Zudem sei es unerheblich, dass der Kläger den Erhalt der Versicherungsbedingungen zum Notlagentarif bestreite, da der Vertrag für den Fall der nicht wirksamen Einbeziehung der Allgemeinen Versicherungs- und Tarifbedingungen für den Notlagentarif durch Heranziehung der in dem jeweiligen Versicherungszweig üblicherweise verwendeten Musterbedingungen ergänzt werden müsse.
14
Für den Fall, dass die Umstellung in den Notlagentarif zum 01.01.2014 nicht wirksam erfolgt sein sollte, wären etwaige Ansprüche des Klägers verjährt. Insoweit erhebt die Beklagte die Einrede der Verjährung und beruft sich auf ein treuwidriges Verhalten des Klägers, da er für einen längeren Zeitraum nicht in Frage gestellt habe, im Notlagentarif versichert zu sein.
15
In der mündlichen Verhandlung vom 10.05.2023 hat das Gericht durch Einvernahme der Zeugen … und … Beweis erhoben. Insoweit wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 10.05.2023 Bezug genommen.
16
Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Protokolle der mündlichen Verhandlung vom 23.10.2020, vom 15.12.2021, vom 10.05.2023 und vom 21.02.2024 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
A. Zulässigkeit
18
Die Klage ist zulässig.
19
Die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts Augsburg ergibt sich aus § 215 Abs. 1 S. 1 VVG, da der Kläger in … seinen Wohnsitz hat.
B. Begründetheit
20
Die zulässige Klage ist vollumfänglich unbegründet.
21
Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für das Medikament Imbruvica (Leistungsabrechnung Nr. 100) in Höhe von 8.516,41 €. Wegen des Ablaufs der in § 4 Abs. 1 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen 2013 für den Notlagentarif (im Folgenden: AVB/NLT 2013) i.V.m. Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT geregelten zehn-Tages-Frist, war das Medikament nicht erstattungsfähig und die Beklagte damit nicht zur Leistung verpflichtet. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, dass § 4 Abs. 1 der AVB/NLT 2013 i.V.m. Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT für ihn keine Anwendung finde, da die brancheneinheitlichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen 2013 für den Notlagentarif AVB/NLT 2013 sowie die einheitlichen Tarifbedingungen Tarif NLT bereits kraft Gesetzes Bestandteil des Versicherungsverhältnisses wurden. Jedenfalls würde sich der Vertragsinhalt nach ihnen richten, da es sich insoweit um gesetzliche Vorschriften i.S.v. § 306 Abs. 2 BGB handelt. Zum gleichen Ergebnis käme man auch im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nach der die brancheneinheitlichen Musterbedingungen für den Notlagentarif zur Bestimmung des vertraglichen Inhalts heranzuziehen wären, §§ 133, 157 BGB i.V.m. § 306 Abs. 2 BGB.
22
I. Die Beklagte war nicht zur Erstattung des streitgegenständlichen Medikaments verpflichtet.
23
1. Die Leistungspflicht der Beklagten richtet sich nach den brancheneinheitlichen AVB/NLT 2013 sowie den einheitlichen Tarifbedingungen Tarif NLT, da der Kläger im Zeitraum von 01.01.2014 bis 30.06.2019 als im Notlagentarif gemäß § 153 Abs. 1 S. 1 VAG versichert galt, § 193 Abs. 7 VVG.
24
a. Der Kläger wurde auch nicht in unwirksamer Weise in den Notlagentarif umtarifiert, da die Voraussetzungen des § 193 Abs. 6 S. 4 VVG vorlagen. Entgegen seiner Behauptung befand sich der Kläger auch im erforderlichen Beitragsrückstand. Hierauf wurde er mit qualifizierter Mahnung vom 29.11.2013 (vgl. Anlagenkonvolut B… 12 Teil 2) zum wiederholten Male (vorausgehende Mahnung vom 25.05.2013 und vom 22.06.2013, Anlagenkonvolut B… Teil 1) hingewiesen. Dies ergibt sich bereits aus der Überschrift „Letzte aussergerichtliche Mahnung – Krankheitskostenversicherung“. Zudem enthält das Schreiben auf S.1 den nach § 193 Abs. 6 S. 3 VVG erforderlichen Hinweis auf die Folgen des § 193 Abs. 6 S. 4 VVG. Warum der Kläger sich – entgegen der Mahnungen – nicht im Zahlungsrückstand befunden haben sollte, hat er nicht näher dargelegt. Zudem hat er deren Zugang nicht bestritten.
25
b. Die Leistungen im Notlagentarif sind brancheneinheitlich stark eingeschränkt. Nach Maßgabe des § 153 Abs. 1 S. 2 VAG erstrecken sie sich grundsätzlich nur auf den Ersatz erforderlicher Aufwendungen für die Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft. Das Leistungsspektrum und der Leistungsumfang im Notlagentarif wird in den brancheneinheitlichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen für den Notlagentarif (AVB/NLT 2013) sowie den einheitlichen Tarifbedingungen näher bestimmt (vgl. Brand/Baroch Castellvi, Versicherungsaufsichtsgesetz, § 153 VAG Rn. 7; Prössl/Dreher, Versicherungsaufsichtsgesetz, § 153 VAG Rn. 5; Bach/Moser/Wiemer, Private Krankenversicherung Teil G. Notlagentarif Rn. 11). Die AVB/NLT 2013 sowie die einheitlichen Tarifbedingungen NLT wurden auf Grundlage von § 158 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 VAG hinsichtlich Art, Umfang und Höhe der Leistungen im Notlagentarif vom Verband der privaten Krankenversicherung festgelegt. Zur Gewährleistung der Brancheneinheitlichkeit sind diese, anders als die sonstigen Musterbedingungen in der Privaten Krankenversicherung, verbindlich (vgl. Igl/Welti/Schäfer, Gesundheitsrecht § 34 Rn. 11; Spickhoff/Eichelberger, Medizinrecht, Vorbemerkung Rn. 6 jeweils im Umkehrschluss dazu, dass den Versicherern bei den sonstigen Musterbedingungen freisteht, ihren Versicherungsverträgen von den Musterbedingungen abweichende AVB zugrunde zu legen). Die Beklagte hat die unter www… .de abrufbaren Allgemeinen Versicherungsbedingungen 2013 für den Notlagentarif (AVB/NLT 2013) nebst der Tarifbedingungen für den Notlagentarif verwendet. Diese sind entsprechen den mit Anlage B… 1 vorgelegten Allgemeinen Versicherungsbedingungen 2013 für den Notlagentarif (AVB/NLT 2013) und den Tarifbedingungen Tarif NLT.
26
2. Nach § 4 Abs. 1 der AVB/NLT 2013 i.V.m. Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT war die Beklagte mangels Erstattungsfähigkeit des streitgegenständlichen Medikaments nicht zur Leistung verpflichtet. Der in § 4 AVB/NLT 2013 geregelte Umfang der Leistungspflicht ergibt sich hinsichtlich Art, Höhe, Umfang und Dauer der Versicherungsleistungen aus dem Tarif, § 4 Abs. 1 AVB/NLT 2013 (vgl. Bach/Moser/Wiemer, Private Krankenversicherung Teil G. Notlagentarif Rn. 32 ff.). Nach Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT sind Aufwendungen für verschreibungspflichtige Arzneimittel, die von einem Vertragsarzt verordnet wurden dann erstattungsfähig, wenn sie innerhalb von zehn Tagen nach Ausstellung der Verordnung aus der Apotheke bezogen wurden. Diese, die Erstattungsfähigkeit des verschreibungspflichtigen und ärztlich verordneten Medikaments Imbruvica begründende, zehn-Tages-Frist hat der Kläger nicht eingehalten. Unstreitig wurde ihm vom behandelnden Arzt am 11.02.2019 ein Rezept für das Medikament Imbruvica ausgestellt. Dieses hat der Kläger jedoch erst am 25.03.2019 in der Apotheke, mithin sechs Wochen nach Ausstellung der Verordnung des verschreibungspflichtigen Medikaments bezogen.
27
Damit kann auch dahinstehen, ob wegen der Erkrankung des Klägers ein die Leistungspflicht der Beklagten begründender Versicherungsfall i.S.v. § 1 Abs. 1 oder Abs. 2 der AVB/NLT 2013 vorlag. Der vom Kläger hierzu angebotene Beweis eines medizinischen Sachverständigengutachtens musste nicht erhoben werden.
28
II. § 4 Abs. 1 der AVB/NLT 2013 i.V.m. Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT findet auch im Vertragsverhältnis zwischen dem Kläger und der Beklagten Anwendung.
29
1. Die Regelungen des § 4 Abs. 1 der AVB/NLT 2013 i.V.m. Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT sind bereits kraft Gesetzes Bestandteil des Versicherungsverhältnisses geworden. Dies folgt bereits aus der vom Gesetzgeber gewählten Beleihungslösung in § 158 Abs. 2 VAG, mit der der Verband der Privaten Krankenversicherer brancheneinheitlich Art, Umfang und die Höhe der Leistungen im Notlagentarif festlegen soll. Der Leistungsumfang wird damit bereits durch einen staatlichen Akt in Form einer gesetzesvertretende atypischen Rechtsverordnung festgelegt (vgl. Wiemer, Der Basistarif in der privaten Krankenversicherung, S. 103 f. Boetius/Rogler/Schäfer/Mandler, Rechtshandbucht Private Krankenversicherung, § 60 Rn. 17). Soweit Art, Höhe und Umfang in den Musterbedingungen festgelegt werden, sind sie als abstrakt-generelle Regelung verbindlich.
30
Dies gilt auch für Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT, da dort der Umfang und die Art der Leistungspflicht geregelt wird. Die zehn-Tages-Frist betrifft nach Ansicht des Gerichts nicht die „Dauer“ der Leistungspflicht i.S.v. § 4 Abs. 1 der AVB/NLT 2013, welche nicht von § 158 Abs. 2 S. 1 VAG umfasst wäre. Denn die zehn-Tages-Frist begrenzt nicht eine bereits begründete Leistungspflicht des Versicherers auf zehn Tage. Vielmehr regelt die zehn-Tages-Frist den „Umfang“ der Leistungspflicht, d.h. unter welchen Umständen die Leistungspflicht begründet wird. Sie stellt sicher, dass nur solche verschreibungspflichtige Arzneimittel erstattet werden müssen, die auch zur akuten Behandlung erforderlich waren und deshalb auch innerhalb der Frist bezogen wurden. Wird das Medikament nicht innerhalb der zehntägigen Frist bezogen, wird der Erkrankungs- bzw. Schmerzustand nicht so schwerwiegend gewesen sein, dass die Einnahme des Medikaments unerlässlich war. Damit trägt die zehn-Tages-Frist in Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT dem in § 153 Abs. 1 S. 2, 158 Abs. 2 S. 1 VAG zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willen Rechnung, die Leistungen im Notlagentarif auf ein unerlässliches Mindestmaß zu beschränken (vgl. Brand/Baroch Castellvi/Brand, Versicherungsaufsichtsgesetz, § 153 VAG Rn. 5; Bach/Moser/Wiemer, Private Krankenversicherung, Teil G. Notlagentarif Rn. 17).
31
2. Selbst wenn die § 4 Abs. 1 der AVB/NLT 2013 i.V.m. Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT nicht bereits kraft Gesetzes Vertragsbestandteil geworden sein sollten, fänden sie auf das vorliegende Vertragsverhältnis Anwendung. Dabei kann dahinstehen, ob sie nach den §§ 305 Abs. 1, 2 und § 305 c Abs. 1 BGB wirksamer Vertragsbestandteil geworden sind, da sich auch für den Fall der nicht wirksamen Einbeziehung, der Inhalt des Vertrages nach ihnen richten würde, § 306 Abs. 2 BGB.
32
a. Dies gilt bereits deshalb, weil es sich bei § 4 Abs. 1 der AVB/NLT 2013 i.V.m. Abschnitt A. 2. Abs. 1 Tarif NLT um eine atypische Rechtsverordnung, mithin um eine gesetzliche Vorschrift i.S.v. § 306 Abs. 2 BGB handelt (s.o.; vgl. zur Einordnung einer Rechtsverordnung als dispositives Recht: Messerschmidt/Voit/Thode, Privates Baurecht, F. Bauvertrag und AGB Rn. 42).
33
b. Selbst wenn man die auf Grundlage des § 158 Abs. 2 S. 1 VAG erlassenen brancheneinheitlichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen 2013 für den Notlagentarif AVB/NLT 2013 sowie die einheitlichen Tarifbedingungen Tarif NLT nicht als atypische Rechtsverordnung einordnen oder unter einer solchen keine gesetzliche Vorschrift i.S.v. § 306 Abs. 2 BGB verstehen würde, wären die brancheneinheitlichen Bedingungen jedenfalls zur Bestimmung des vertraglichen Inhalts im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung heranzuziehen.
34
aa. Kommt es nicht zu einer wirksamen Einbeziehung der Versicherungsbedingungen ist die entstandene Lücke nach § 306 Abs. 2 BGB durch ergänzende Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB, die als Teil der gesetzlichen Vorschriften im Sinne von § 306 Abs. 2 BGB zu verstehen sind, zu füllen (BGH, Urteil vom 01.02.1984 – VIII ZR 54/83, NJW 1984, 1177 (1178); Bruck/Möller/Beckmann VVG, C. IX. Rn. 395; Langheid/Rixecker/Rixecker, Versicherungsvertragsgesetz, § 1 VVG Rn. 30, 112 m.w.N.; Prössl/Martin/Rudy, Versicherungsvertragsgesetz, § 7 VVG Rn. 54). Zwar gehen die Normen des dispositiven Gesetzesrechtes der ergänzenden Vertragsauslegung vor, § 306 Abs. 2 BGB . Da im Versicherungsrecht geeignete gesetzliche Vorschriften in der Regel nicht zur Verfügung stehen und die ersatzlose Streichung der Bedingungen den Interessen der Vertragsparteien nicht angemessenen Rechnung tragen würde, liegen die Voraussetzungen für eine ergänzende Vertragsauslegung jedoch in der Regel vor (vgl. Prössl/Martin/Rudy, Versicherungsvertragsgesetz, § 7 VVG Rn. 54).
35
(1) Dies ist auch vorliegend der Fall. Hinsichtlich der Leistungspflicht der Beklagten bestehen keine geeigneten gesetzlichen Vorschriften. Eine Regelung zur Leistungspflicht des Versicherers im Notlagentarif findet sich nicht im VVG. Das VVG regelt in § 193 Abs. 4-10 VVG lediglich unter welchen Voraussetzungen der Versicherungsnehmer in den Notlagentarif i.S.v. § 153 Abs. 1 S.1 VAG eingegliedert wird. Auch § 153 Abs. 1 S.2 VAG reicht zur näheren Bestimmung der Leistungspflicht der Beklagten nicht aus. Dies ergibt sich bereits aus § 158 Abs. 2 S. 1 VAG, da es ansonsten keiner näheren Ausgestaltung des Leistungsspektrums hinsichtlich Art, Umfang und Höhe nach Maßgabe des § 153 Abs. 1 VAG bedurft hätte. Sofern man die vom Verband der Privaten Krankenversicherer nach Maßgabe des § 158 Abs. 2 S.1 VAG festgelegten Bedingungen durch atypische Rechtsverordnung nicht als dispositives Recht charakterisieren will, stellt auch diese keine gesetzliche Vorschrift i.S.d. § 306 Abs. 2 dar.
36
(2) Darüber hinaus würde die ersatzlose Streichung der Bedingungen den Interessen der Vertragsparteien nicht angemessen Rechnung tragen. Wie bereits dargestellt (s.o. I.), regeln die brancheneinheitlichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen 2013 für den Notlagentarif AVB/NLT 2013 sowie die einheitlichen Tarifbedingungen Tarif NLT das Leistungsspektrum der Versicherer im Notlagentarif vollumfänglich. Bei ihrem Wegfall bliebe damit nur der kraft Gesetzes fingierte „Vertragstorso“ ohne nähere Ausgestaltung der Hauptleistungspflichten zurück (vgl. Prössl/Martin/Rudy, Versicherungsvetragsgesetz, § 7 VVG Rn. 55). Es wäre schon keine Anspruchsgrundlage ersichtlich, aus der sich eine Leistungspflicht der Beklagten ergäbe. Dass ein solcher Vertrag unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessenlage nicht sachgerecht erscheint, ergibt sich bereits aus § 158 Abs. 2 VAG, dessen Regelung es sonst nicht bedurft hätte.
37
bb. Diese Lücke wäre mittels der brancheneinheitlichen Allgemeinen Versicherungsbedingungen 2013 für den Notlagentarif AVB/NLT 2013 sowie die einheitlichen Tarifbedingungen Tarif NLT zu schließen.
38
(1) Ob und inwieweit im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung auf die vom Versicherer allgemein verwendeten AVB zurückgegriffen werden kann, ist umstritten (zum Streitstand s. Langheid/Wandt/Armbrüster, Münchener Kommentar zum VVG, § 7 VVG Rn. 153 ff.; Prössl/Martin/Rudy, Versicherungsvetragsgesetz, § 7 VVG Rn. 56 f.). Nach der vom Gericht vertretenen Auffassung erscheint es unter Berücksichtigung der beiderseitigen Interessenlage sachgerecht, den Vertrag durch Heranziehung der jeweils im Versicherungszweig üblicherweise verwendeten Bedingungen zu ergänzen (vgl. zuletzt OLG Celle Urt. v. 17.3.2022 – 8 U 260/21, BeckRS 2022, 12531 Rn. 25 ff.; LG Oldenburg ZfS 2018, 96 m. krit. Anm. Rixecker = LG Oldenburg, Urteil vom 18.10.2017 – 13 S 322/17, BeckRS 2017, 131808; Prössl/Martin/Rudy, Versicherungsvetragsgesetz, § 7 VVG Rn. 56; so im Ergebnis auch Langheid/Wandt/Armbrüster, Münchener Kommentar zum VVG, § 7 VVG Rn. 155 über eine Analogie zu § 49 Abs. 2 VVG).
39
(2) Dies sind im Notlagentarif die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für den Notlagentarif (AVB/NLT 2013) nebst einheitlicher Tarifbedingungen NLT. Gerade wegen der Besonderheiten des Notlagentarifs musste der Kläger als Versicherungsnehmer mit der Geltung dieser Bedingungen rechnen. Mit der Einführung des Notlagentarif bezweckte der Gesetzgeber eine weitere Überschuldung Betroffener zu verhindern, eine Notfallversorgung zu gewährleisten und die Versichertengemeinschaft zu entlasten (vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/13079, 6 (unter A. I.). Zahlt ein Versicherungsnehmer nicht, wird er entsprechend § 193 Abs. 7 S. 1, Abs. 6 VVG zwangsweise im Notlagentarif eingegliedert und gilt kraft gesetzlicher Fiktion als in diesem Tarif versichert. Der Wechsel in den Tarif erfolgt demnach ohne freie Willensentschließung der Parteien (vgl. Brand/Baroch Castellvi/Brand, Versicherungsaufsichtsgesetz § 153 VAG Rn. 4; Bach/Moser/Wiemer, Private Krankenversicherung, Teil G. Notlagentarif Rn. 4). Dies wird nochmals durch § 193 Abs. 7 S. 4 VVG verdeutlicht, der einen „freiwilligen“ Wechsel in den Notlagentarif ausdrücklich ausschließt. Die Leistungen für „Nichtzahler“ im Notlagentarif sollten nur auf die Notfallversorgung beschränkt sein, was § 153 Abs. 1 S. 2 VAG zum Ausdruck bringt. Mit der brancheneinheitlichen Festlegung der Art, des Umfangs und der Höhe der Leistungen im Notlagentarif durch die Beleihung des Verbands der privaten Krankenversicherung in § 158 Abs. 2 S. 1 VAG sollte die Rechtssicherheit für Versicherer und Versicherte erhöht und interessenpolitische Erwägungen ausgeschlossen werden (vgl. Prölss/Dreher/Präve, Versicherungsaufsichtsgesetz, § 158 Rn. 9). Vor dem Hintergrund des dargestellten gesetzgeberischen Willens, der einheitlichen Versorgung im Notlagentarif und der deshalb fehlenden Möglichkeit der Vertragsparteien die Versicherung im Notlagentarif in abweichender Form zu gestalten, muss davon ausgegangen werden, dass die Parteien bei sachgerechter Abwägung ihrer beiderseitigen Interessen nach Treu und Glauben den Leistungsumfang in gleicher Weise geregelt hätten.
40
III. Sonstige Anspruchsgrundlagen aus denen sich eine Leistungspflicht der Beklagten ergäbe, sind nicht ersichtlich.
41
IV. Mangels Anspruchs in der Hauptsache besteht weder ein Zinsanspruch noch ein Anspruch auf Ersatz vorgerichtlicher Anwaltskosten.
C. Nebenentscheidungen
42
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 S. 2, S. 1 ZPO.
43
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 48 Abs. 1 GKG, § 3 ZPO. Die geltend gemachten Zinsen sowie vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten wurden nicht berücksichtigt, § 43 Abs. 1 GKG.