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OLG München, Endurteil v. 24.04.2024 – 20 U 1258/21
Titel:

Haftung eines Fahrzeugherstellers auf (Differenz-)Schadenersatz bei Verwendung eines Thermofensters nebst Regelung der Kühlmitteltemperatur

Normenketten:
BGB § 31, § 823 Abs. 2, § 826
Fahrzeugemissionen-VO Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2
EG-FGV § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1
ZPO § 287
Leitsätze:
1. Einen Differenzschaden bejahend: OLG Celle BeckRS 2023, 32827; OLG Dresden BeckRS 2023, 22299; BeckRS 2023, 32835; OLG Hamburg BeckRS 2023, 26911; OLG Hamm BeckRS 2023, 25175; OLG München BeckRS 2024, 5142; BeckRS 2024, 5496; BeckRS 2024, 5589; BeckRS 2024, 6664; BeckRS 2024, 6950; BeckRS 2024, 7525; BeckRS 2024, 8552; OLG Oldenburg BeckRS 2024, 643; BeckRS 2024, 5526; OLG Schleswig BeckRS 2023, 35465; OLG Stuttgart BeckRS 2023, 35483; BeckRS 2024, 394; für Wohnmobil: OLG Naumburg BeckRS 2023, 27644. (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Differenzschaden kann in Höhe von 5% des Fahrzeugpreises zuerkannt werden, wenn für das Fahrzeug ein Rückruf durch das KBA nicht erfolgt ist und der Käufer eine angebotene freiwillige Servicemaßnahme, um das Stickoxid-Emissionsverhalten des Fahrzeugs zu verbessern, nicht wahrgenommen hat. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, unzulässige Abschalteinrichtung, Sittenwidrigkeit, Thermofenster, Regelung der Kühlmitteltemperatur, SCR-Steuerung, Differenzschaden, Software-Update, (kein) Rückruf, KBA
Vorinstanz:
LG Landshut, Endurteil vom 08.02.2021 – 83 O 1533/20
Fundstelle:
BeckRS 2024, 8714

Tenor

1. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Landgerichts Landshut vom 08.02.2021, Az. 83 O 1533/20, teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst:
a) Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.925,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 12.09.2023 zu zahlen.
b) Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits hat der Kläger 94% und die Beklagte 6% zu tragen.
4. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
1. Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 34.005,19 € festgesetzt.
2. Der Streitwert für das Verfahren erster Instanz wird abgeändert auf 34.500 €.

Entscheidungsgründe

I.
1
Der Kläger begehrt nach dem Kauf eines Fahrzeugs mit Dieselmotor Schadensersatz.
2
Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstands wird auf den Tatbestand im angefochtenen Endurteil vom 08.02.2021 Bezug genommen.
3
Das Landgericht hat die Klage mit Endurteil vom 08.02.2021 vollumfänglich abgewiesen, da dem Kläger kein Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB oder § 823 Abs. 2 BGB zustehe. Auf die Gründe des Urteils wird Bezug genommen. Gegen das Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung in vollem Umfang.
4
Im Berufungsrechtszug ergaben sich folgende Änderungen und Ergänzungen der festgestellten Tatsachen (§ 540 Abs. 1, S. 1, Nr. 1 ZPO):
5
Das Fahrzeug wies am 19.03.2024 eine Laufleistung von 126.994 km auf.
6
Die Klagepartei beantragte zunächst die Rückabwicklung des Fahrzeugkaufs; im Rahmen des zunächst verlangten „großen“ Schadensersatzes lässt sich die Klagepartei eine Nutzungsentschädigung auf Basis einer Gesamtlaufleistung von 500.000 km anrechnen. Mit Hinblick auf das Urteil des BGH vom 25.06.2023 – VIa ZR 335/21 stellt sie ihren Antrag – unter Berufungsrücknahme im Übrigen – auf Zahlung des Differenzschadens aus § 823 Abs. 2 BGB um und beantragt zuletzt:
Die Beklagte wird unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils verurteilt, an die Klagepartei 5.775,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
7
Die Beklagte beantragt,
die Berufung kostenpflichtig zurückzuweisen.
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Der Senat hat zunächst mit Verfügung der Vorsitzenden vom 09.05.2022 und Beschluss vom 16.08.2023 darauf hingewiesen, dass er beabsichtige, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Mit Verfügung vom 03.01.2024 wurde ein weiterer Hinweis erteilt und Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt.
9
Von der weiteren Darstellung des Tatbestands wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1, S. 1 ZPO abgesehen.
II.
10
Die Berufung der Klagepartei hat – hinsichtlich des zuletzt nur noch gestellten Antrags auf Zahlung des Differenzschadens – nur insoweit Erfolg, als ihr ein Anspruch im tenorierten Umfang zuzusprechen ist.
11
1. Der Kläger hat nach § 823 Abs. 2 BGB i.v.m. §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV Anspruch auf Zahlung von Differenzschaden in Höhe von 1.925 €.
12
a) Bei §§ 6 Abs. 1, 27 Abs. 1 EG-FGV handelt es sich bei der unionsrechtlich gebotenen Auslegung um ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB (BGH Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 29ff. juris).
13
b) Die Beklagte hat eine (jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt des Fahrzeugkaufs durch den Kläger am 30.10.2017, vgl. BGH a.a.O., Rn. 61 juris) unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung erteilt, da das Fahrzeug damals unstreitig mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 2 VO 715/2007 ausgerüstet war. Auf die Frage, ob es durch ein nachträglich erfolgtes Software-Update zu einer Beseitigung oder Reduzierung des Anwendungsbereichs der unzulässigen Abschalteinrichtungen gekommen ist, kommt es damit für die Frage der Entstehung eines Schadensersatzanspruchs nicht an.
14
aa) Nach dem eigenen Vortrag der Beklagten war das streitgegenständliche Fahrzeug ursprünglich mit einer Regelung der Kühlmittelsolltemperatur ausgerüstet. Diese wird nach den Ausführungen der Beklagten unter bestimmten Betriebsumständen von 100° C auf 70° C abgesenkt und im laufenden Betrieb nicht mehr erneut aktiviert (Schriftsatz vom 10.10.2023, S. 20f.). Aus dem Vortrag der (insoweit beweisbelasteten) Beklagten kann nicht entnommen werden, dass dieses Vorgehen aus in Art. 5 Abs. 2, S. 2 VO 715/2007 genannten Gründen erforderlich ist. Insbesondere werden keine Gründe dafür angeführt, dass die Kühlmittelsolltemperatur nicht wieder auf den Ausgangswert zurückgesetzt wird sobald die Parameter, die zur Deaktivierung der Funktion geführt haben, nicht mehr vorliegen.
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bb) Darüber hinaus ist das Fahrzeug unstreitig mit einem sogenannten Thermofenster versehen. Streitig ist lediglich der Temperaturbereich, in dem die Wirksamkeit der Abgasreinigung reduziert wird.
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(1) Vor Durchführung des (angebotenen, aber nicht durchgeführten) Software-Updates wurde nach dem Vortrag der Klagepartei die Abgasreinigung bereits ab + 7° C reduziert (Schriftsatz vom 02.08.2021, S. 4). Dieser Vortrag wurde nicht substantiiert bestritten; die Beklagte behauptete erstinstanzlich lediglich, die Abgasreinigung sei „auch noch bei zweistelligen Minusgraden aktiv“, ohne sich dazu zu äußern, ab welcher Temperatur die Abgasreinigung reduziert wird. In der Berufungsinstanz trägt die Beklagte vor, die (nach dem Update verbesserte) Abgasreinigung werde erst unterhalb von – 5° C schrittweise reduziert. Bei Zugrundelegung des klägerischen Vortrags ergibt sich eine unzulässige Abschalteinrichtung gemäß Art. 5 Abs. 1 i.v.m. Art. 3 Nr. 10 VO 715/2007, da auch in diesem Fall die tatsächlichen Fahrbedingungen, wie sie im Unionsgebiet üblich sind (EuGH Urteil vom 14.07.2022 – C-134/20, Rn. 47ff. juris), nicht eingehalten werden. Umgebungstemperaturen von unter + 7° C sind im Unionsgebiet üblich. Die Beklagte hat die Durchschnittstemperatur während der tatsächlichen Fahrzeugnutzung im Unionsgebiet unter Bezugnahme auf die Europäische Kommission mit 12° C angegeben (Schriftsatz vom 12.03.2024, S. 2). Dieser Vortrag blieb unbestritten. Damit steht jedoch fest, dass über erhebliche Zeiten des Jahres in zahlreichen Staaten des Unionsgebiets Temperaturen von unter + 7° C vorherrschen.
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(2) Der Vortrag der Beklagten zur aktuellen Ausgestaltung des Thermofensters im Schriftsatz vom 07.12.2023 ist – auch abgesehen vom maßgeblichen Zeitpunkt (vgl. oben 1 b) – nicht geeignet, die Ausrüstung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung in Frage zu stellen. Das angegebene Thermofenster – 5° C bis + 45° C bezieht sich auf den betriebswarmen Motor (Schriftsatz vom 07.12.2023, S. 17). Die erforderliche Abgasreinigung muss jedoch bereits nach dem Anlassen erreicht werden, vgl. Art. 5 Abs. 2, S. 2, lit. b) VO 715/2007.
18
c) Die erforderliche Erwerbskausalität ist vorliegend gegeben. Der Kläger kann sich auf den Erfahrungssatz stützen, dass er den Kaufvertrag zu diesem Kaufpreis nicht geschlossen hätte (BGH Urteil vom 26.06.2023 – VIa ZR 335/21, Rn. 55 juris). Dieser wird durch den Vortrag der Beklagten nicht in Frage gestellt. Der Käufer eines zulassungsfähigen Fahrzeugs wird regelmäßig davon ausgehen, dass die Zulassungsvoraussetzungen vorliegen und keine Maßnahmen gemäß § 5 Abs. 1 FZV drohen (BGH a.a.O., Rn. 56 juris).
19
d) Hinsichtlich der Verantwortlichkeit der Beklagten greift im Fall der Verletzung eines Schutzgesetzes eine Verschuldensvermutung, die von der Beklagten widerlegt werden müsste (BGH a.a.O., Rn. 59 juris). Ihr bisheriger Vortrag hierzu genügt – auch unter Berücksichtigung der weiteren Ausführungen im Schriftsatz vom 07.12.2023 – nicht, um einen unvermeidbaren Verbotsirrtum darzulegen. Hierzu müsste die Beklagte – bezogen auf den Zeitpunkt des verfahrensgegenständlichen Kaufvertrags – darlegen, dass sich sämtliche ihrer verfassungsmäßig berufenen Vertreter im Sinne des § 31 BGB in einem Irrtum befanden (BGH Urteil vom 25.09.2023 – VIa ZR 1/23, Rn. 14f. juris). Vorliegend beruft sich die Beklagte alleine auf das Vorstellungsbild der Leiter der Abteilungen „Vertriebsplanung PKW“ und „Fahrzeugdokumentation“ (Schriftsatz vom 07.12.2023, S. 4), ohne auf deren Organfunktion einzugehen. Auch wird nicht zu einer eventuellen Pflichtenteilung zwischen den berufenen Vertretern und zum Vorstellungsbild des Vorstandsvorsitzenden vorgetragen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die im Schriftsatz vom 07.12.2023 zitierte Rechtsprechung vor dem 25.09.2023 (und damit vor dem Erlass des Urteils in der Sache VIa ZR 1/23) ergangen war und damit die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht berücksichtigt.
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e) Der Differenzschaden war auf 1.925 € zu bemessen.
21
aa) Der Klagepartei ist ein Schadensersatz in Höhe von 5% des Fahrzeugpreises zuzuerkennen. Bei der Bemessung des Differenzschadens ist vorliegend zu berücksichtigen, dass für das Fahrzeug des Klägers unstreitig (Schriftsatz vom 08.06.2022, S. 11; Berufungserwiderung, S. 23) bislang ein Rückruf durch das KBA nicht erfolgt ist. Anhaltspunkte für einen zukünftig konkret drohenden Rückruf ergeben sich aus dem Parteivortrag nicht. Darüber hinaus wurde eine freiwillige Servicemaßnahme angeboten, um das Stickoxid-Emissionsverhalten des Fahrzeugs zu verbessern (Berufungsbegründung, S. 4). Diese wurde bislang vom Kläger nicht wahrgenommen. Der Kläger muss sich aber so behandeln lassen, als hätte der das Software-Update durchführen lassen (BGH Urteil vom 23.10.2023 – VIa ZR 468/21). Die Beklagte macht geltend, dass durch das angebotene Update die Regelung der Kühlmitteltemperatur vollständig entfernt und die SCR-Steuerung optimiert worden wäre. Das Thermofenster für den betriebswarmen Motor wird nach dem Update mit – 50 C – + 450 C angegeben. Nachdem die Abgasreinigung bereits nach dem Anlassen erreicht werden muss, wurde die Abschalteinrichtung damit nicht vollständig entfernt. Der Differenzschaden war vor diesem Hintergrund im unteren Bereich des vom BGH vorgegebenen Korridors festzulegen.
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bb) Eine Aufzehrung des Schadensersatzanspruchs ist unter Berücksichtigung der anzurechnenden Nutzungsvorteile und des Verkaufserlöses nicht eingetreten. Es ergibt sich eine Summe von Nutzungsentschädigung und Restwert in Höhe von 36.234,93 €; der um den Differenzschaden reduzierte Kaufpreis beträgt 36.575 €.
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(1) Aufgrund der von Erwerb bis zur Veräußerung gefahrenen Strecke von 99.694 km ergibt sich (bei Ansatz einer Gesamtfahrleistung von 250.000 km) eine Nutzungsentschädigung in Höhe von 17.234,93 €.
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(2) Daneben war ein Restwert von 19.000 € im Wege der Schätzung gemäß § 287 Abs. 1 ZPO anzusetzen. Die Beklagte hat Verkaufsangebote für vergleichbare Fahrzeuge zwischen 22.870 € und 24.700 € (Anlage BB 7) vorgelegt. Bei diesen Preisen ist zu berücksichtigen, dass es sich um Angebotspreise handelt; Kaufabschlüsse erfolgen regelmäßig unterhalb dieser Angebotspreise. Bezüglich der von der Klagepartei vorgelegten DAT-Bewertung, die einen Fahrzeugpreis von 17.100 € ergibt (Anlage BK 12), muss berücksichtigt werden, dass insoweit abhängig von der Ausstattung des Fahrzeugs eine Erhöhung des Preises um bis zu 30% erfolgen kann. Zusammenfassend erscheint vorliegend unter Berücksichtigung der Ausstattung des streitgegenständlichen Fahrzeugs (Anhängevorrichtung, 4 Motion, Ausstattung Avantgarde) ein Restwert von 19.000 € gegeben.
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2. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 288 Abs. 1, 286 Abs. 1, S. 2 BGB; ein Anspruch auf Zinszahlung besteht erst aber der Zustellung der Berufungsbegründung vom 21.08.2023, mit dem sich die Klagepartei erstmals auf den Differenzschaden berufen hat (OLG Stuttgart Urteil vom 22.02.2024 – 24 U 254/21, Rn. 152 juris; BGH Urteil vom 28.07.2016 – I ZR 252/15, Rn. 22 juris).
III.
26
1. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 Abs. 1, 516 Abs. 3 ZPO.
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2. Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
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3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in der Anwendung der §§ 47, 48 GKG bestimmt; die Änderung des Streitwerts erster Instanz erfolgte gemäß § 63 Abs. 3, S. 1, Nr. 2 GKG. Dem ursprünglich gestellten Feststellungsantrag war dabei nicht streitwerterhöhend zu berücksichtigen. Es war jeweils zu berücksichtigen, dass die Klagepartei in der Berufungsbegründung noch davon ausging, dass die Nutzungsentschädigung auf Grundlage einer Gesamtfahrleistung von 500.000 km zu berechnen ist.