Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 25.03.2024 – W 7 K 23.1353
Titel:

rechtmäßige Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen

Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1
ARB 1/80 Art. 7 S. 1, Art. 14 Abs. 1
Leitsätze:
1. Die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen wegen Fällen von Klein- oder Bagatellkriminalität ist in der Regel ausgeschlossen. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
2. Vorsätzliche Straftaten, die gegen die durch die Grundrechte errichtete objektive Wertordnung und die damit verbundenen staatlichen Schutzpflichten, stellen jedenfalls einen hinreichend schweren Ausweisungsanlass dar, der über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung deutlich hinausgeht und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Türkischer Staatsangehöriger, Assoziationsrecht EWG/Türkei, türkischer Staatsangehöriger, Niederlassungserlaubnis, gewohnheitsmäßiger Drogengebrauch, Wiederholungsgefahr, besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse, faktischer Inländer
Fundstelle:
BeckRS 2024, 8640

Tenor

I.    Die Klage wird abgewiesen.
II.    Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III.    Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
...

Tatbestand

I.
1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung und damit verbundene Nebenanordnungen.
2
1. Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und wurde am ... 1982 in E. a. M. geboren. Am 2. Dezember 1998 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt, die als Niederlassungserlaubnis fortgilt.
3
Seine Schulausbildung brach er nach der achten Klasse ohne Abschluss ab. Sodann übte er mehrere kurzfristige Beschäftigungen aus und begann nacheinander mehrere Berufsausbildungen, die er jeweils nach kurzer Zeit abbrach. Immer wieder war er arbeitslos. Er lebte in dieser Zeit teils bei seinen Eltern, teils bei seiner Partnerin und war zeitweise obdachlos. Der Kläger leidet seit seiner Kindheit an einer Blutgerinnungsstörung und an Hepatitis C. Mit Bescheid vom 15. November 2011 (Az. ...) wurde deswegen und wegen einer Suchterkrankung ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt.
4
Der Kläger ist während seines gesamten Lebens immer wieder strafrechtlich in Erscheinung getreten. Erstmals wurde er deswegen am 8. Februar 2002 ausländerrechtlich verwarnt. In den folgenden Jahren beging er weitere Straftaten.
5
Das Bundeszentralregister (Stand 20. Februar 2024) weist für den Kläger folgende Eintragungen auf:
6
1. Amtsgericht O. a. M., Strafbefehl v. … … 2004 im Verfahren . … … … (rechtskräftig seit … … 2004): 40 Tagessätze zu je 20,00 EUR wegen Betrugs (Datum der letzten Tat: 7. 2004).
7
2. Amtsgericht A., Urteil v. … … 2006 im Verfahren . … … … (rechtskräftig seit demselben Tag): sechs Monate Freiheitsstrafe mit einer Bewährungszeit von drei Jahren wegen Betrugs (Datum der letzten Tat: … … 2005).
8
3. Amtsgericht A. (Zweigstelle A.*), Urteil v. … … 2008 im Verfahren … … … … … (rechtskräftig seit demselben Tag): sieben Monate Freiheitsstrafe mit einer Bewährungszeit von drei Jahren wegen Vortäuschens einer Straftat in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer verbotenen Waffe (Datum der letzten Tat: … … 2008).
9
4. Landgericht A., Urteil v. … … 2010 im Verfahren … … … … (rechtskräftig seit demselben Tag): ein Jahr und sechs Monate Freiheitsstrafe wegen schwerer räuberischer Erpressung und räuberischer Erpressung unter Einbeziehung der Entscheidung zu 3. sowie weitere fünf Jahre und zwei Monate Freiheitsstrafe wegen erpresserischen Menschenraubs in Tateinheit mit drei tateinheitlichen Fällen der schweren räuberischen Erpressung in Tatmehrheit mit räuberischer Erpressung in vier tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit schwerer räuberischer Erpressung in Tatmehrheit mit Erpressung in zwei tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchtem Raub in Tateinheit mit Körperverletzung (Datum der letzten Tat: … … 2009).
10
5. Amtsgericht G., Urteil vom … … 2016 im Verfahren . … … … (rechtskräftig seit … … 2017): Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 5,00 EUR wegen Betrugs (Datum der Tat: … … 2015).
11
6. Landgericht R., Urteil vom … … 2017 im Verfahren . … … … (rechtskräftig seit … … 2018): Freiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten unter Einbeziehung der Entscheidung zu 5. wegen Diebstahls in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit besonders schwerem Raub in Tatmehrheit mit Betrug in drei Fällen, diese jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung (Datum der letzten Tat. … 2016).
12
7. Amtsgericht W., Strafbefehl vom … … 2019 im Verfahren … … … … … (rechtskräftig seit demselben Tag): Freiheitsstrafe von vier Monaten wegen falscher Verdächtigung (Datum der Tat: … … 2018).
13
Dem Urteil vom … … 2010 lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Kläger zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschiedene Personen mit einem Klappmesser bedroht und in seine Gewalt gebracht hatte, um ihnen Geld und Wertgegenstände zu entwenden bzw. sie zum Geldabheben zu nötigen.
14
Mit Schreiben vom 3. Dezember 2010 teilte das damals zuständige Landratsamt mit, derzeit sei keine Ausweisung beabsichtigt, dem Kläger solle die Möglichkeit gegeben werden, sich durch erfolgreiche Teilnahme an einer stationären Drogentherapie zu bewähren.
15
Während des Strafverfahrens, das zur Verurteilung aus dem Jahr 2010 führte, befand sich der Kläger ab dem 24. März 2009 wegen Fluchtgefahr in Untersuchungshaft. Im Urteil vom … … 2010 wurde seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Nach ersten Tagesbeurlaubungen Ende 2013 wohnte er Anfang 2014 im Rahmen von Lockerungen teilweise in einer eigenen Wohnung außerhalb der Entziehungsanstalt und ging einer Tätigkeit als Kellner nach. Nach deren Kündigung und Rückfällen in Alkoholmissbrauch wurde er in der Jahresmitte wieder auf die geschlossene Station verlegt. Dort beantragte man das Ende des Maßregelvollzugs wegen Aussichtslosigkeit. Daraufhin wurde der Kläger Ende 2014 in eine andere Entziehungsanstalt verlegt und kam wieder in den offenen Bereich des Maßregelvollzugs. Er begann eine Berufsausbildung als Maler und Lackierer. Wochenendbeurlaubungen wurden gestattet, im weiteren Verlauf mietete der Kläger auch wieder eine eigene Wohnung an. Mitte 2015 wurde er erneut mit Alkohol und Cannabis rückfällig. Einige Lockerungen wurden daraufhin zurückgenommen, dem Kläger wurde aber weiterhin der Besuch von Schule und Ausbildungsplatz ermöglicht. Nach einem Streit mit seinem Arbeitgeber wechselte er in eine Ausbildung zum Restaurantfachmann. Am 21. Dezember 2015 kehrte der Kläger nach seiner gestatteten Abwesenheit nicht mehr in die Entziehungsanstalt zurück, nachdem er erfahren hatte, dass er nach Ende des Maßregelvollzugs zum Jahresende den Rest seiner Haftstrafe in einer Justizvollzugsanstalt ableisten werden müsse. Bis zum 24. Februar 2016 war er flüchtig. Während seiner Flucht beging er weitere Straftaten. Am … … 2016 wurde er festgenommen und zunächst in die Maßregelvollzugseinrichtung zurückgebracht.
16
Seit dem … … 2016 befindet er sich in Strafhaft. Die Freiheitsstrafe wird am 16. August 2024 vollständig vollstreckt sein.
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Wegen der während seiner Flucht aus dem Maßregelvollzug begangenen Straftaten wurde der Kläger vom Landgericht R. am … … 2017 verurteilt. Dem lag im Wesentlichen zugrunde, dass der Kläger während seiner Flucht in Absprache mit einem Spielhallenmitarbeiter einen Raub vorgetäuscht und dabei ca. 2.000,00 EUR Bargeld entwendet hatte. Außerdem hatte er – vergleichbar mit seinen Taten aus dem Jahr 2009 – einer Person unter Bedrohung mit einem Messer den Geldbeutel entwendet und am Folgetag mit dessen Ausweis und EC-Karte Waren im Wert von ca. 2.500,00 EUR erworben. Dem Strafbefehl aus dem Jahr 2019 liegt zugrunde, dass der Kläger eine Dienstaufsichtsbeschwerde wegen angeblicher Beleidigung gegen einen Mitarbeiter der JVA in dem Bewusstsein gestellt hatte, dass eine solche Beleidigung nie vorgekommen war.
18
Aus dem Urteil aus dem Jahr 2017 ergibt sich, dass der Kläger seit seiner Jugend täglich Alkohol, Amphetamin und Cannabis konsumierte und deswegen auch nie eine Berufsausbildung abgeschlossen hatte. Auch während seiner Unterbringung im Maßregelvollzug konsumierte er immer wieder Alkohol und Cannabis. Wegen fehlender Erfolgsaussichten wurde bei seiner Verurteilung im Jahr 2017 von der erneuten Anordnung der Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt abgesehen. Die Dauer der vorherigen Maßregel von fünf Jahren sei ungewöhnlich lange gewesen und habe dennoch keinen Erfolg gebracht. Positiv wurde dort allerdings festgehalten, dass der Kläger sich aus der Strafhaft eigeninitiativ bei der Jugend- und Drogenberatung gemeldet und ab Ende Juni 2016 mehrere Suchtberatungsgespräche durchgeführt hatte sowie damals seit vier Jahren in einer festen Beziehung lebte. Diese Beziehung besteht weiterhin fort.
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Die Suchterkrankung des Klägers ergibt sich auch aus mehreren psychiatrischen Gutachten, etwa dem Gutachten eines Neurozentrums vom … … 2009. Darin werden dem Kläger Züge einer psychischen Abhängigkeit attestiert, die die Kriterien einer Suchterkrankung aber noch nicht erreichten. Dennoch sei der gewohnheitsmäßige Drogengebrauch im Hinblick auf die Legalbewährung des Klägers bedenklich. Die Drogenproblematik rechtfertige die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Im psychiatrischen Gutachten vom … … 2014 wird dem Kläger eine Störung aus dem Bereich der dissozialen Persönlichkeitstypologie attestiert. Zudem wird von einer hohen Rückfallwahrscheinlichkeit bzgl. der Begehung von Straftaten ausgegangen und festgehalten, unter den beschützenden Bedingungen der Unterbringung gebe es keine Zeichen einer Sucht, die Krankheitsgeschichte lege aber eine Abhängigkeit von Cannabinoiden und Amphetamin mit gelegentlichem Beikonsum weiterer psychotroper Substanzen nahe. Das entspricht auch den Einschätzungen aus der Entziehungseinrichtung. Im Gutachten vom … … 2017 wird davon ausgegangen, eine eigenständig abgrenzbare Persönlichkeitsstörung habe der Kläger nicht, sondern lediglich eine dissoziale Persönlichkeitsakzentuierung. Es wird ein Abhängigkeitssyndrom durch multiplen Substangebrauch (mit Schwerpunkt auf Alkohol, Cannabis und Amphetamin) diagnostiziert, unter den geschützten Bedingungen der Haft sei der Kläger aber abstinent.
20
Im Führungsbericht der Justizvollzugsanstalt vom … … 2022 wird festgehalten, die Führung des Klägers sei nicht durchgängig beanstandungsfrei gewesen. Mehrfach sei er in Besitz unerlaubter Gegenstände gewesen. Er sei ein selbstbewusster und forsch auftretender Mensch, der offen, mitunter aber auch aufdringlich sei. Gegenüber anderen Gefangenen gebe er sich überheblich und prahlerisch. Seit 2019 absolviere er eine Ausbildung zum Bäcker, der er sorgfältig und mit großer Mühe nachgehe. Er stehe in regelmäßigem telefonischem Kontakt zu seiner Lebenspartnerin und sei von dieser auch bereits besucht worden. Außerdem stehe er in regelmäßigem Kontakt zur Suchtberatung. Mehrere Urinkontrollen im laufenden Strafvollzug hätten ein negatives Ergebnis erbracht. Der Führungsbericht vom … … 2024 hat einen ähnlichen Inhalt, der Umgang mit Mitgefangenen wird nun aber als verträglich und hilfsbereit beschrieben. Zudem wird darauf hingewiesen, dass der Kläger nach Abschluss der Ausbildung zum Bäcker aus gesundheitlichen Gründen seit September 2023 nicht mehr im Bäckereibetrieb arbeite und nun Hausarbeiter im Unterkunftsbereich der Gefangenen sei. Seine Führung sei nicht durchgehend beanstandungsfrei, zuletzt sei er wegen unerlaubten Besitzes eines 18 m langen Kunststoffseils disziplinarisch belangt worden. Urinkontrollen seien weiterhin negativ ausgefallen. Seine Lebenspartnerin besuche ihn nun regelmäßig, bis zu zweimal im Monat. Im August 2023 habe es eine Besuchszusammenführung mit seiner Familie gegeben, für die der Kläger ca. eine Woche lang in eine andere Justizvollzugsanstalt verlegt worden sei.
21
Am … … 2022 absolvierte der Kläger erfolgreich die Gesellenprüfung der Ausbildung zum Bäcker.
22
Mit Schreiben vom 22. März 2022, zugestellt am 25. März 2022, wurde dem Kläger mitgeteilt, dass der Beklagte seine Ausweisung beabsichtigt. Ihm wurde Gelegenheit zur Stellungnahme bis 19. April 2022 gegeben. Eine von seiner damaligen Bevollmächtigten am letzten Tag der Frist erbetene Fristverlängerung wurde nicht gewährt.
23
2. Mit Bescheid der ZAB vom 9. Mai 2022, dem Kläger am 12. Mai 2022 zugestellt, wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziffer 1). Es wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot auf die Dauer von fünf Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt seiner Ausreise bzw. Abschiebung, verhängt. Die fünfjährige Frist wurde unter die Bedingung gestellt, dass der Kläger zum Ablaufzeitpunkt durch Vorlage einer geeigneten Bescheinigung gegenüber der deutschen Auslandsvertretung nachweist, dass er in der Zwischenzeit nicht mehr straffällig geworden ist. Anderenfalls wurde eine Fristdauer von neun Jahren angeordnet (Ziffer 2). Es wurde die Abschiebung aus der Haft/dem Krankenhaus angedroht. Sollte diese nicht möglich sein, wurde der Kläger aufgefordert, das Bundesgebiet binnen 30 Tagen nach seiner Entlassung zu verlassen. Anderenfalls wurde ihm die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Staat angedroht (Ziffer 3).
24
In den Gründen wurde insbesondere ausgeführt, Rechtsgrundlage für die Ausweisung sei § 53 Abs. 1 AufenthG. Der Kläger gefährde die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend. Er sei seit seiner Kindheit immer wieder mit einer Vielzahl von Straftaten aufgefallen. Dabei sei ein Anstieg der Gewaltbereitschaft und der kriminellen Energie zu verzeichnen. Es liege ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Der Kläger habe mehrere Straftaten begangen, die mit mindestens zweijährigen Freiheitsstrafen geahndet worden seien. Mit diesen Taten habe er auch weitere Ausweisungsinteressen i.S.d. § 54 AufenthG ausgelöst. Dem stehe das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse des § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber. Der Kläger besitze eine Niederlassungserlaubnis, sei in Deutschland geboren und aufgewachsen. Der Kläger sei zudem besonders von § 53 Abs. 3 AufenthG vor Ausweisungen geschützt. Aufgrund der Erwerbstätigkeit seines Vaters haben er das besondere Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ff. Assoziationsabkommen EWG/Türkei (ARB 1/80) erworben. Das Verhalten des Klägers begründe aber gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Die spezialpräventiv begründete Ausweisung sei für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich. Der Kläger sei immer wieder massiv straffällig geworden, aggressiv und brutal aufgetreten und sei bei Aufenthalten außerhalb der Haft bzw. der Unterbringung sofort wieder straffällig geworden. Er sei drogenabhängig, der Maßregelvollzug sei insofern erfolglos geblieben. Seine Familie im Bundesgebiet habe ihn bislang nicht von der Verübung von Straftaten abgehalten. Nach seiner Entlassung sei mit weiteren massiven und schwerwiegenden Straftaten zu rechnen.
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Bei der Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteressen sei zu beachten, dass der Kläger trotz Geburt und Aufwachsens in Deutschland keinen Schulabschluss erworben, keine Berufsausbildung abgeschlossen habe und nie einer festen Beschäftigung nachgegangen sei. Er sei wiederholt obdachlos gewesen und seit seiner Kindheit durch zahlreiche Gewalt- und Betäubungsmitteldelikte aufgefallen. Nur kurzfristig sei er diversen Hilfstätigkeiten nachgegangen. Er habe sich überwiegend durch seine Eltern, seine Partnerinnen oder durch von Dritten erpresstes Geld finanziert. Seit seiner Jugend konsumiere er unkontrolliert Betäubungsmittel, viele der Taten seien der Beschaffungskriminalität zuzuordnen. Er habe keine Verantwortung für sein Handeln übernommen. Beim Fortbestehen seiner Drogenabhängigkeit werde er auch weiter Straftaten begehen. Zugunsten des Klägers wurden seine Bäckerausbildung, die langjährige Bindung zu seiner Partnerin, der regelmäßige Kontakt zur Suchtberatung und negative Drogentests im Rahmen des Strafvollzugs eingestellt. Diese anerkennenswerten Aspekte seien aber dem engen Rahmen und den geschützten Bedingungen der Haft geschuldet. Eine nachhaltige Verhaltensänderung sei damit noch nicht indiziert. Die Lebensverhältnisse in der Türkei seien dem Kläger nicht völlig fremd. Er habe Telefonate auch in türkischer Sprache geführt. Seine Partnerin habe er im Maßregelvollzug nur gelegentlich besuchen können, eine dauerhafte Lebensgemeinschaft bestehe nicht. Auch seine Familie im Bundesgebiet sei nicht auf ihn angewiesen. Er selbst könne in der Türkei auf die Unterstützung von Verwandten zurückgreifen und mit seinen Bezugspersonen im Bundesgebiet über moderne Kommunikationsmittel in Kontakt bleiben. Mildere Mittel als eine Ausweisung seien angesichts der jahrelangen Straffälligkeit weniger geeignet, um der Gefahr zu begegnen. Die Ausweisung sei auch in Abwägung mit den grundrechtlich geschützten Interessen des Klägers verhältnismäßig. Denn diesen Grundrechtspositionen stünden die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum Dritter gegenüber. Trotz seines langen Aufenthalts sei der Kläger auch kein faktischer Inländer. Er sei trotz seines langen Aufenthalts nicht mit hinreichender Qualität in Deutschland verwurzelt und integriert.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 2 habe seine Rechtsgrundlage in § 11 Abs. 1 AufenthG, die Befristung erfolge nach Abs. 2, Abs. 3, Abs. 5. Eine Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen führe zu einer Fristlänge von fünf Jahren. Auch die Definition einer Bedingung sei hier nach § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG möglich. Die verhängte Bedingung der Straffreiheit sei zur Gefahrenabwehr erforderlich. Sollte die Bedingung nicht erfüllt werden, sei ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von neun Jahren angemessen, insbesondere auch im Hinblick auf das Vorliegen von besonders schwerwiegenden und schwerwiegenden Ausweisungsinteressen, denen lediglich einfache Bleibeinteressen gegenüberstünden. Die Verhältnismäßigkeit werde durch die Möglichkeit eines Verkürzungsantrags nach § 11 Abs. 4 AufenthG abgesichert.
27
Die Überwachung der Ausweise sei nach § 58 Abs. 3 Nr. 3 AufenthG wegen des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses erforderlich. Die Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung stütze sich auf § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Die Frist von 30 Tagen sei angemessen.
II.
28
Gegen den Bescheid vom 9. Mai 2022 ließ der Kläger am 13. Juni 2022 Klage erheben und beantragen,
1.
den Bescheid aufzuheben,
2.
hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, die Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf drei Monate zu befristen,
3.
hilfsweise die Bedingung des Nachweises der Straffreiheit (Ziff. 2 Satz 2 und 3 des Bescheides) aufzuheben,
4.
weiterhin hilfsweise bei Nichterfüllung der Bedingung das Einreise- und das Aufenthaltsverbot auf die Dauer von sechs Monaten, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Ausreise/Abschiebung, zu befristen.
29
Zur Klagebegründung wurde insbesondere vorgetragen, die Regierung von Unterfranken sei unzuständig. Denn seit 2018 habe der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Justizvollzugsanstalt B. Der Kläger sei außerdem nicht angehört worden. Denn die Aufforderung vom 22. März 2022, sich bis zum 19. April 2022 zu äußern, sei mit der Zwischenprüfung der Bäckerausbildung des Klägers zusammengefallen. Währenddessen habe er mit der JVA einen Besprechungstermin mit seiner 120 km entfernt ansässigen Prozessbevollmächtigten abstimmen müssen, die zudem vom 9. bis 16. April im Urlaub gewesen sei. Vor diesem Hintergrund hätte die beantragte Fristverlängerung gewährt werden müssen.
30
In materieller Hinsicht sei das Bleibeinteresse des Klägers nicht ausreichend gewichtet worden, worin sich der Anhörungsfehler fortsetze. Aus der Begehung der Straftaten des Klägers sei gleichsam automatisch auf eine Wiederholungsgefahr geschlossen worden, ohne sich mit der besonderen Situation zu befassen. Der Kläger habe aufgrund seiner Suchterkrankung Straftaten begangen. Deswegen sei er mehrfach stationär behandelt worden, habe selbstständig Kontakt zur Suchtberatung aufgenommen und an insgesamt 16 Gesprächen teilgenommen. In der Haftanstalt sei er nie rückfällig geworden. Nach der Haftentlassung habe er konkrete Therapiepläne und wolle sodann zu seinen betreuungsbedürftigen Eltern ziehen. Er wolle dort als Bäcker arbeiten und habe ein entsprechendes Beschäftigungsangebot. Er bemühe sich außerdem um die Verlegung in eine JVA mit sozialtherapeutischem Schwerpunkt. Eine für 2021 in Aussicht gestellte Verlegung dorthin habe er nur zurückgestellt, um zuvor seine Ausbildung abzuschließen. Er bereue seine Taten und habe gelernt, mit seiner Partnerin über seine Gefühle zu sprechen. Das falle ihm immer noch schwer, er wolle aber in der Therapie daran arbeiten. Er sei nun sehr lange in Haft gewesen. Es gebe Menschen, die auf ihn warteten und ihm vertrauten. Das sei ihm bewusst, er wolle deshalb nicht mehr rückfällig werden. Seine letzten Straftaten seien lange her. Die Verurteilung wegen falscher Verdächtigung sei außerdem nicht mit den vorhergehenden Verurteilungen vergleichbar und begründe keine Wiederholungsgefahr. Der Kläger sei ein anderer Mensch geworden und wolle die Vergangenheit hinter sich lassen. Er habe ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse. Er sei faktischer Inländer und kenne keine andere Heimat. Zuletzt sei er im Alter von 14 Jahren für einen Kurzurlaub in der Türkei gewesen, seine Türkischkenntnisse seien rudimentär. Seine ganze Familie lebe mit Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. In der Türkei gebe es nur Tanten, die der Kläger zuletzt mit 14 Jahren gesehen habe und die über 70 Jahre alt seien. Sein Vater sei schwer an Krebs erkrankt. Die Mutter befinde sich wegen einer Brustkrebserkrankung in der Nachsorge. Beide seien sehr alt. Die Ausweisung ihres Sohnes belaste die Eltern sehr. Der Kläger habe seit 2014 eine Lebensgefährtin, die er in der Therapie kennengelernt habe und die ihn in der Haft regelmäßig besuche. Beide seien sich eine große Stütze. Kontakt bestehe trotz der Haft auch mit seinen drei Brüdern und den Neffen. Seit Anfang 2020 zahle der Kläger seine Schulden ab, er habe selbstständig Kontakt zur Schuldnerberatung aufgenommen. Zudem leide er an einer Blutgerinnungsstörung und an Hepatitis C.
31
Der Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
32
Zur Begründung wurde insbesondere vorgetragen, die Regierung von Unterfranken sei für den Erlass des Bescheids zuständig gewesen. Denn es komme auf den gewöhnlichen Aufenthalt vor der Inhaftierung an. Die Anhörungsfrist habe der Beklagte nicht verlängern müssen. Man habe die Justizbehörden vor dem 2/3-Zeitpunkt am 17. September 2022 über die ausländerrechtlichen Schritte informieren und das Verfahren daher nicht weiter verzögern wollen. Der Kläger hätte sich außerdem auch ohne anwaltliche Vertretung äußern können. Zudem sei der Mangel nunmehr durch die Klagebegründung geheilt. Es gebe auch keinen Abwägungsmangel. Die Beziehungen zu den Eltern, Geschwistern und zu seiner Partnerin seien im Ausweisungsbescheid berücksichtigt worden. Diese hätten den Kläger allerdings nicht von der Begehung von Straftaten abgehalten. Die Eltern seien auf den Kläger nicht angewiesen, der schon lange inhaftiert sei. Dessen Straftaten beruhten auch nicht nur auf seiner Suchterkrankung, sondern außerdem auf den in zahlreichen Gutachten attestierten dissozialen Persönlichkeitszügen. Der Kläger sei nach positiven Entwicklungsphasen bislang immer wieder in alte Verhaltensmuster zurückgefallen, diese Gefahr sei ohne die geschützten Bedingungen der Haft sehr hoch.
III.
33
Am 18. Oktober 2022 bat der Beklagte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge um die Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots wegen der Erkrankungen des Klägers (Az. … .*). Auf übereinstimmenden Antrag der Parteien wurde das Verfahren daraufhin mit Beschluss vom 30. November 2022 ruhend gestellt. Am 30. August 2023 teilte das Bundesamt mit, dass zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote hinsichtlich der Türkei nicht vorlägen. Blutgerinnungsstörungen, Hepatitis C und Suchterkrankungen seien auch in der Türkei behandelbar. Es gebe in der Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung, die auch Mittellose berücksichtige. Aufgrund der abgeschlossenen Bäckerausbildung sei außerdem davon auszugehen, dass der Kläger in der Türkei zumindest einen Teil seines Existenzminimums erwirtschaften werde können, um so zu einer Weiterbehandlung zumindest beizutragen. Finanzielle Unterstützung sei auch durch seine Verwandten in Deutschland denkbar. Angesichts seiner festgestellten Schwerbehinderung sei der Kläger zudem in der Türkei sozialhilfeberechtigt. Eine existenzielle Gefahr für Leib oder Leben sei vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten.
34
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte und der Bundesamtsakte Bezug genommen. Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll vom 25. März 2024 und die Anlagen zum Protokoll verwiesen.

Entscheidungsgründe

35
Die zulässige Klage ist unbegründet.
36
Die Klage ist zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben worden. Denn der 12. Juni 2022 als rechnerisch letzter Tag der Klagefrist fiel auf einen Sonntag, sodass die Klageerhebung am 13. Juni 2022 gemäß §§ 57 Abs. 2 VwGO, 222 Abs. 2 ZPO noch rechtzeitig erfolgte.
37
Die Klage ist aber unbegründet.
38
Der angefochtene Bescheid des Beklagten vom 13. März 2023 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
39
Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hier der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 16).
40
1. Der Bescheid ist formell rechtmäßig. Insbesondere besteht die Zuständigkeit der ZAB Unterfranken für seinen Erlass trotz der Haft des Klägers in B. nach § 7 Abs. 3 Nr. 1 ZustVAuslR weiter fort. Der Kläger wurde vor Bescheiderlass mit Schreiben vom 22. März 2022 angehört. Dass die damals am 19. April 2022 als letztem Tag der Frist begehrte Verlängerung nicht gewährt wurde, führt nicht zur formellen Rechtswidrigkeit des Bescheids. Zum einen war die Frist von nahezu einem Monat ausreichend, um auch in einem komplexen Verwaltungsverfahren wie der Ausweisung rechtlichen Rat zu suchen und sodann Stellung zu nehmen, sodass die weitere Verlängerung nicht angezeigt war (vgl. Herrmann in Bader/Ronellenfitsch, BeckOK VwVfG, Stand 1.1.2024, § 28 Rn. 19.1). Die Ablehnung der Fristverlängerung nach Art. 31 Abs. 7 BayVwVfG erfolgte ermessensfehlerfrei im Hinblick auf das bevorstehende Verstreichen des Zweidrittelzeitpunkts im Strafvollzug und eine beabsichtigte vorherige Klärung des ausländerrechtlichen Sachverhalts. Zum anderen wäre ein Anhörungsmangel jedenfalls im Rahmen der mündlichen Verhandlung nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 BayVwVfG geheilt worden (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 7 C 5.14 – NVwZ-RR 2016, 449 Rn. 16 f.). Der Kläger hatte die Möglichkeit, sich ausführlich zu den Inhalten des Bescheids zu äußern, die Beklagtenvertreterin hat erläutert, inwieweit diese Belange in der Behördenentscheidung zu berücksichtigen waren.
41
2. Die Ausweisungsverfügung (Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids) ist auch materiell rechtmäßig. Zur Begründung wird zunächst auf die Gründe des angefochtenen Bescheids verwiesen, denen sich das Gericht im Wesentlichen anschließt, § 117 Abs. 5 VwGO. Ergänzend ist Folgendes auszuführen:
42
a) Für den Kläger gilt der erhöhte Ausweisungsmaßstab des § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG. Denn ihm steht ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei zu. Der Kläger kann von seinem Vater, der zumindest von 1973 bis 1991 dem regulären deutschen Arbeitsmarkt angehörte, ein Recht aus Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ableiten.
43
Der Kläger als im Bundesgebiet geborenes Kind seiner Eltern ist Familienangehörigen gleichgestellt, die eine Zuzugsgenehmigung im Sinne von Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erhalten haben (EuGH, U.v. 11.11.2004 – C-467/02, ECLI:ECLI:EU:C:2004:708 – Cetinkaya Rn. 21). Angesichts seiner Geburt im Bundesgebiet und seines Aufwachsens bei den Eltern ist davon auszugehen, dass er die Mindestzeiten von drei bzw. fünf Jahren eines ordnungsgemäßen Wohnsitzes bei seinen Eltern erfüllt hat. Aus der damit erworbenen Rechtsposition nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 entstand ein implizites Aufenthaltsrecht, das auch zum erhöhten Schutz vor Ausweisungen nach Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 bzw. § 53 Abs. 3 AufenthG führt (vgl. Gerstner-Heck in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 15.10.2023, Art. 7 ARB 1/80 Rn. 23).
44
Diese Rechtsposition ist auch nicht später erloschen. Sie erlischt vielmehr nur, wenn der Berechtigte das Bundesgebiet für einen nicht unerheblichen Zeitraum verlässt oder er (bestandskräftig) ausgewiesen worden ist (vgl. EuGH, U.v. 11.11.2004 – C-467/02, ECLI:ECLI:EU:C:2004:708 – Cetinkaya Rn. 21, 31 ff.). Beide Voraussetzungen liegen nicht vor.
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b) Die Ausweisung erweist sich auch unter den erhöhten Anforderungen des § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG als rechtmäßig. Gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG darf ein unter den dort genannten Personenkreis fallender Ausländer nur ausgewiesen werden, wenn das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Die Regelung in § 53 Abs. 3 AufenthG modifiziert den Ausweisungsmaßstab – tatbestandlich – im Sinne erhöhter Anforderungen an das Gewicht der drohenden Rechtsgutsverletzung, indem sie die Ausweisung nur aus spezialpräventiven Gründen zulässt. Dabei ist aber auch in diesem Rahmen – mit dem genannten geänderten Maßstab – eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmen (BT-Drs. 18/4097, S. 49 f.; BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – BeckRS 2022, 10733 Rn. 26 f.; BayVGH, B.v. 27.9.2021 – 10 ZB 21.1920 – BeckRS 2021, 30876 Rn. 6).
46
Dass die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen danach das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verlangt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, schließt in erster Linie eine Ausweisung wegen Fällen von Klein- oder Bagatellkriminalität aus. Wann umgekehrt eine Gefahr in diesem Sinne vorliegt, lässt sich nicht losgelöst vom Einzelfall bestimmen. Jedenfalls sind erhöhte Anforderungen an die Qualität der Gefahr zu stellen. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit brauchen bei der Ausweisung türkischer Staatsangehöriger mit ARB-Berechtigung gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG jedoch nicht vorzuliegen. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vermittelt lediglich einen Art. 12 RL 2003/109/EG entsprechenden Ausweisungsschutz (EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, Ziebell – NVwZ 2012, 229), der vom nationalen Gesetzgeber in § 53 Abs. 3 AufenthG umgesetzt wurde. Trotz zwischenzeitlicher Gesetzesänderungen verstößt § 53 Abs. 3 AufenthG auch nicht gegen die Stand-Still-Klausel in Art. 13 ARB 1/80 (m.w.N. Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2023, § 53 AufenthG Rn. 103).
47
Vorsätzliche Straftaten, mit denen der Täter gegen die durch die Grundrechte errichtete objektive Werteordnung und die damit verbundenen staatlichen Schutzpflichten verstößt, stellen jedenfalls einen hinreichend schweren Ausweisungsanlass dar, der über die mit jedem Rechtsverstoß verbundene Störung der öffentlichen Ordnung deutlich hinausgeht und ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (BayVGH, B.v. 27.9.2021 – 10 ZB 21.1920 – BeckRS 2021, 30876 Rn. 9; U.v. 28.3.2017 – 10 BV 16.1601 – juris Rn. 34).
48
Dies vorangestellt, sind die erhöhten Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG vorliegend gegeben. Dabei sind bei der typisierten Betrachtung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG die §§ 54 und 55 AufenthG anzuwenden (BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – BeckRS 2022, 10733 Rn. 27 m.w.N.).
49
aa) Zunächst besteht ein Ausweisungsinteresse, das auch den erhöhten Anforderungen des § 53 Abs. 3 AufenthG entspricht. Der Beklagte geht zu Recht von einer gegenwärtigen schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
50
Mit den begangenen Straftaten hat der Kläger mehrfach besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Aus Sicht des Gerichts wird die Ausweisungsverfügung im Wesentlichen von zwei Anlasstaten getragen.
51
Das betrifft erstens das Urteil des Landgerichts A. vom … … 2010 (Az. … … … …*), in dem der Kläger u.a. wegen schwerer räuberischer Erpressung und erpresserischen Menschenraubs unter Einbeziehung einer früheren Strafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten sowie einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten verurteilt wurde, weil er verschiedene Personen mit einem Klappmesser bedroht und in seine Gewalt gebracht hatte, um ihnen Geld und Wertgegenstände zu entwenden bzw. sie zum Geldabheben zu nötigen. Diese Tat darf auch weiterhin berücksichtigt werden. Denn zwar wurde damals durch die zuständige Ausländerbehörde ausdrücklich von einer Ausweisung abgesehen. Auch auf diese Weise verbrauchte Ausweisungstatbestände sind aber erneut einzubeziehen, wenn sich die Sachlage durch spätere strafrechtliche Entscheidungen wieder ändert (BVerwG, U.v. 16.11.1999 – 1 C 11.99 – NVwZ-RR 2000, 320, 322). So liegt es im Fall des Klägers, der auch nach der Verurteilung im Jahr 2010 erneut erheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten ist.
52
Zweitens ist das Urteil des Landgerichts R. vom … … 2017 (Az. . … … …*) entscheidend, in dem der Kläger u.a. wegen besonders schweren Raubs und unter Einbeziehung einer Vorverurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und neun Monaten verurteilt wurde. Diese Tat beging der Kläger während seiner Flucht aus dem Maßregelvollzug. Er erbeutete Bargeld durch einen vorgetäuschten Überfall auf eine Spielhalle und erneut durch Bedrohung einer Person mit einem Messer.
53
Die übrigen fünf aus dem Bundeszentralregister ersichtlichen Vorstrafen sind weniger schwerwiegend, erreichen teilweise – bzgl. der Einträge unter Ziffer 2 und 3 – aber auch die Schwelle einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe, die nach § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse begründet.
54
Im Hinblick auf die durch die Straftaten betroffenen, teils hochrangigen Rechtsgüter und insbesondere Grundrechte Dritter ist auch ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Insbesondere gilt das für die Bedrohung zahlreicher Personen mit einem Messer zur persönlichen Bereicherung. Nicht nur deren Eigentum, sondern vor allem die körperliche Integrität wurde durch die Bedrohung mit einem Messer, teils über längere Zeiträume bis das gewünschte Geld abgehoben war, massiv beeinträchtigt.
55
bb) Es besteht auch eine fortdauernde Wiederholungsgefahr, sodass die Ausweisung spezialpräventiv begründet ist. Unter Berücksichtigung der jahrelangen, kontinuierlichen Straffälligkeit des Klägers und seiner immer wieder schnellen Rückfallgeschwindigkeit ist von einer erheblichen Wiederholungsgefahr auszugehen. Der Kläger hat sich bislang trotz mehrfacher Haftstrafen nicht von der Begehung weiterer Straftaten abhalten lassen. Aus den rechtskräftig abgeurteilten Straftaten ergibt sich die hohe Bereitschaft des Klägers, kriminelle Handlungen zu begehen.
56
Bzgl. der Wiederholungsgefahr sind vor allem die am … … 2017 abgeurteilten, während der Flucht aus dem Maßregelvollzug begangenen Taten einzustellen. Der Kläger befindet sich bereits seit Anfang 2009 in freiheitsentziehender Unterbringung, zunächst – nach Ende seiner Untersuchungshaft – im Maßregelvollzug, später in Strafhaft. Während der Lockerungen im Maßregelvollzug als einzigem Zeitfenster, in dem er in den letzten 15 Jahren teilweise selbstständig lebte, ist er flüchtig geworden und hat erneut schwere Straftaten begangen. Durch Abpressen von Geld unter Drohung mit einem Messer wiederholte sich bzgl. eines Teils der damals begangenen Taten exakt das Tatmuster aus der Verurteilung von 2010.
57
Der Kläger bringt nun zwar vor, das alles sei lange her, er sei ein anderer Mensch geworden. Es ist ihm dabei durchaus zuzugestehen, dass auch die 2017 abgeurteilten Taten nun lange zurückliegen und dem Strafbefehl aus dem Jahr 2019 ein Konflikt in der Justizvollzugsanstalt zugrunde lag, der sich im Unrechtsgehalt deutlich von den Vorverurteilungen unterscheidet. Auch die abgeschlossene Ausbildung und die nun ca. zehnjährige Beziehung zu seiner Partnerin sind als stabilisierende Faktoren einzustellen.
58
Ebenso ist aber zu berücksichtigen, dass der Kläger in der Vergangenheit erheblich gegen die geschriebene Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland verstoßen sowie hochrangige Rechtsgüter wie das Leben, die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit Dritter gefährdet bzw. verletzt hat. Dies zugrunde gelegt, genügt für die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr bereits eine nicht allzu hohe Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls (sog. gleitender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 16).
59
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr außerdem nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig suchtmittel- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 12.6.2023 – 19 CS 23.708 – juris Rn. 18 m.w.N.). Solange er sich nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 12.6.2023 – 19 CS 23.708 – a.a.O.).
60
Eine solche Bewährung in Freiheit scheidet für den Kläger schon aufgrund der seit ca. 15 Jahren andauernden freiheitsentziehenden Maßnahmen aus. Dass er selbst währenddessen erneut straffällig geworden ist, spricht darüber hinaus deutlich gegen eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung.
61
Zudem war die Führung des Klägers in der Haft auch ausweislich des jüngsten Führungsberichts vom 8. Februar 2024 nicht durchgehend beanstandungsfrei. Wiederholt hatte er unerlaubte Gegenstände in Besitz, zuletzt ein 18 m langes Kunststoffseil.
62
Hinzu tritt der jahrelange Suchtmittelmissbrauch des Klägers. Seit seiner Jugend konsumierte der Kläger regelmäßig in großem Umfang Alkohol, Amphetamin und Cannabis. Auch während seiner Unterbringung ist er immer wieder rückfällig geworden. Bereits die psychiatrischen Gutachten vom 6. November 2014 und vom 26. April 2017 halten fest, unter den Bedingungen der Unterbringung sei beim Kläger zwar keine Sucht im klinischen Sinne feststellbar. Es sei aber davon auszugehen, dass der Kläger von verschiedenen Suchtmitteln abhängig sei und lediglich unter Haftbedingungen abstinent lebe. Dass der Kläger ausweislich der beiden Führungsberichte vom 1. April 2022 und vom 8. Februar 2024 nun in Haft keine Suchtmittel mehr konsumiert hat und auch seit längerem in Kontakt mit der Suchtberatung steht, kann vor dem Hintergrund seiner Abhängigkeitsgeschichte nicht mit der für ein Entfallen der Wiederholungsgefahr erforderlichen Sicherheit zu der Annahme führen, der Kläger werde auch in Freiheit nicht in sein altes Suchtverhalten zurückfallen. Die früheren Straftaten des Klägers standen stets in engem Zusammenhang mit dessen Drogenkonsum und dienten dessen Finanzierung. Solche Straftaten bleiben bei einem Leben des Klägers in Freiheit weiterhin zu befürchten. Auch sein soziales Umfeld in Deutschland – inklusive seiner langjährigen Lebensgefährtin, mit der er bereits bei Begehung der 2017 abgeurteilten Taten liiert war – konnte ihn in der Vergangenheit nicht davon abhalten, straffällig zu werden, sodass auch vor diesem Hintergrund eine Wiederholungsgefahr fortbesteht.
63
cc) Dem stehen besonders schwerwiegende Bleibeinteressen gegenüber. Der Kläger ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und lebt seit seiner Geburt rechtmäßig in Deutschland. Die langjährige Partnerschaft des Klägers mit seiner Lebensgefährtin kann zwar nicht als familiäre Lebensgemeinschaft unter § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG subsumiert werden, nachdem diese Vorschrift nach einer Ehe oder Lebenspartnerschaft verlangt und selbst beim Vorliegen eines Verlöbnisses nicht einschlägig wäre (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 55 Rn. 11).
64
Bei der Abwägungsentscheidung sind aber nicht nur diese vertypten Bleibeinteressen zu berücksichtigen. Gemäß § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG müssen auch sogenannte einfache Bleibeinteressen beachtet werden. Nach den Umständen des Einzelfalls sind das insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat. Bei diesem Kriterienkatalog hat sich der Gesetzgeber an den Maßstäben orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Bestimmung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK als maßgeblich ansieht. Die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Umstände sollen sowohl zugunsten als auch zulasten des Ausländers wirken können und sind nach Auffassung des Gesetzgebers nicht als abschließend zu verstehen (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21/18 – juris Rn. 13; BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 12/16 – juris Rn. 15; U.v. 22.2.2017 – 1 C 3/16 – juris Rn. 20 ff.).
65
Dies vorangestellt, bestehen zahlreiche weitere, unvertypte Bleibeinteressen des Klägers, die angesichts der seit Bescheiderlass verstrichenen Zeit der angegriffenen Ausweisungsverfügung teilweise noch nicht zugrunde gelegt werden konnten.
66
Zunächst gilt das für die während des Maßregelvollzugs begründete und bereits seit ca. zehn Jahren fortdauernde Beziehung zu seiner Lebensgefährtin in Deutschland. Außerdem ist einzustellen, dass Deutsch die Muttersprache des Klägers ist, er verfügt nach eigenen Angaben nur über rudimentäre Kenntnisse des Türkischen. Zuletzt war er mit vierzehn Jahren in der Türkei und kennt das Land nur als Urlauber. Die dort lebenden Verwandten hat er mit vierzehn Jahren zuletzt gesehen. Die Kernfamilie, insbesondere seine erkrankten Eltern im Rentenalter, die drei Brüder und die Neffen, lebt in Deutschland.
67
Weiterhin ist einzustellen, dass der Kläger im Bundesgebiet teilweise berufstätig war, wenn auch für häufig wechselnde Arbeitgeber, kurzfristig und in mehreren abgebrochenen Ausbildungsverhältnissen. Eine nachhaltige Integration in die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland kann daraus zwar nicht abgeleitet werden. Insofern sind aber zumindest Ansätze einer positiven Wende erkennbar: Der Kläger hat in der Haft seinen Schulabschluss nachgeholt und inzwischen eine Ausbildung zum Bäcker erfolgreich absolviert. Ein Bäckereibetrieb in der Nachbarschaft seiner Eltern hat ihm am 23. März 2024 ein einwöchiges Praktikum zugesichert, dem evtl. ein fester Arbeitsplatz folgen soll.
68
Ebenso begründen die Erkrankungen des Klägers, vor allem die Hämophilie und die Hepatitis C, die zu einem anerkannten Grad der Behinderung von 100 führen, Bleibeinteressen. Es ist naheliegend, dass diese Beschwerden – wie der Kläger vorbringt – mit Krankenversicherungsschutz in Deutschland besser behandelt werden können als in der Türkei, insbesondere nachdem die Behandlung der Hämophilie kostspielig ist.
69
cc) Auch in Anbetracht dieser Bleibeinteressen ist die Ausweisung für das berührte Grundinteresse der Gesellschaft aber unerlässlich. Die Unerlässlichkeit verweist auf das Erfordernis einer strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2023, § 53 AufenthG Rn. 104). Die Abwägung zwischen dem Ausweisungsinteresse und den Bleibeinteressen des Klägers ergibt ein Überwiegen des Ausweisungsinteresses.
70
Bei der Abwägung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger in Deutschland geboren ist und sein ganzes bisheriges Leben hier verbracht hat. Hinzu treten sein Recht auf Privatleben (Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 8 Abs. 1 EMRK) sowie ein Anspruch auf Achtung seiner familiären Bindungen nach Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG. Das Gewicht dieser Umstände ist, soweit es nicht schon über § 55 AufenthG erfasst wird, aus § 53 Abs. 2 AufenthG und den verfassungs- und konventionsrechtlichen Wertungen mit Blick auf die Folgen der Ausweisung auf diese Umstände zu ermitteln. Wegen der bestehenden beachtlichen Gefahr weiterer Straftaten und dem damit verbundenen konkreten öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung führt jedoch insbesondere weder der Umstand, dass der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, noch der Umstand, dass seine Familie, vor allem die Eltern und seine Brüder und Neffen, sowie seine Lebensgefährtin in Deutschland leben, dazu, dass das Bleibeinteresse das Ausweisungsinteresse überwiegt.
71
Der Ausweisung steht auch eine Stellung des Klägers als „faktischer Inländer“ nicht entgegen. Dieser Begriff ist nicht einheitlich definiert, sondern wird in der Rechtsprechung unterschiedlich umschrieben. Das Bundesverwaltungsgericht bezeichnet faktische Inländer als „im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene Kinder, deren Eltern sich hier erlaubt aufhalten“ (BVerwG, U.v. 16.7.2002 – 1 C 8.02 – juris Rn. 23). Das Bundesverfassungsgericht umschreibt den Begriff mit „hier geborene bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommene Ausländer“ (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Bei faktischen Inländern handelt es sich letztlich um Personen, die tiefgreifend in die Lebensverhältnisse des Aufenthaltsstaats integriert sind („Verwurzelung“) und (kumulativ) den Lebensverhältnissen des Herkunftsstaats entfremdet sind („Entwurzelung“), mit der Folge, dass sie faktisch zum Inländer geworden sind und sie nur noch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit mit dem Herkunftsstaat verbindet (BayVGH, B.v. 7.2.2024 -19 ZB 23.1962 – Rn. 17). Dabei ist nach der jüngeren Rechtsprechung des BVerwG eine in Deutschland geborene, hier zur Schule gegangene und berufstätig gewesene Person begrifflich als faktischer Inländer einzuordnen, ohne dass daraus allerdings ein generelles Ausweisungsverbot resultieren würde (BVerwG, U.v. 16.11.2023 – 1 C 32.22 – juris Rn. 16). Bei der Ausweisung im Bundesgebiet geborener Ausländer ist vielmehr im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19; BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – BeckRS 2022, 10733 Rn. 33 m.w.N.; BayVGH, B.v. 2.8.2021 – 19 CS 21.330 – BeckRS 2021, 20968 Rn. 33 m.w.N.).
72
Gemeinsam ist diesen in den Details abweichenden Definitionen, dass eine Verwurzelung nicht nur nach sozialer Integration, sondern auch nach wirtschaftlicher Integration verlangt. Angesichts der trotz Kontakt zur Schuldnerberatung fortbestehenden Verschuldung des Klägers und seines beruflichen Werdegangs, der sich bislang – außerhalb der Haft – auf verschiedene kurzzeitige Gelegenheits- und Hilfstätigkeiten beschränkt, ist allerdings ausgesprochen fraglich, inwieweit von gelungener wirtschaftlicher Integration ausgegangen werden kann.
73
Bzgl. der Entwurzelung aus den Verhältnissen in der Türkei zu beachtende Gesichtspunkte sind vor allem, inwieweit Kenntnisse der dort gesprochenen Sprache bestehen bzw. erworben werden können, inwieweit er mit den dortigen Verhältnissen vertraut ist und inwieweit er dort bei der (Wieder-)Eingliederung auf Hilfestellung durch Verwandte und sonstige Dritte rechnen kann, soweit dies erforderlich sein sollte (BayVGH, B.v. 11.7.2007, 24 ZB 07.743 – juris). Der Kläger hat zumindest begrenzte Türkischkenntnisse. Es ist ihm durchaus zumutbar, darauf aufzubauen und diese Kenntnisse zu vertiefen. Angesichts seiner türkischen Eltern und der Tatsache, dass er als Urlauber Zeit in der Türkei verbracht und dort Verwandte hat, ist davon auszugehen, dass ihm die dortigen Lebensverhältnisse nicht vollkommen fremd sind. Es ist zwar nach dem Vortrag des Klägers fraglich, inwieweit er in der Türkei Hilfe von dort lebenden Verwandten erlangen könnte. Ebenso wenig ist allerdings ersichtlich, dass der Kläger auf besondere Hilfe angewiesen wäre. Selbst wenn der erwachsene Kläger in der Türkei nicht mit der Unterstützung von Verwandten rechnen könnte, würde dies für sich genommen keine unzumutbare Härte begründen (BayVGH, B.v. 19.1.2015 – 10 CS 14.2656, 10 C 14.2657 – BeckRS 2015, 42415 Rn. 28; B.v. 7.2.2008 – 10 ZB 07.1993 – BeckRS 2008, 27508; NdsOVG, B.v. 12.12.2013 – 8 ME 162/13 – BeckRS 2013, 59604). Zur Überzeugung des Gerichts ist er durchaus in der Lage, sich in die Lebensverhältnisse in der Türkei zu integrieren und sich dort eine Existenz aufzubauen, auch wenn das angesichts eingeschränkter Sprachkenntnisse und seiner anerkannten Behinderung mit Schwierigkeiten verbunden sein wird. Wie das Bundesamt im Rahmen seiner Beteiligung nach § 72 Abs. 2 AufenthG mitgeteilt hat, existiert in der Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung, die auch die unversicherten Mittellosen berücksichtigt. Zudem ist der Kläger demzufolge angesichts seiner anerkannten Behinderung in der Türkei sozialhilfeberechtigt. Landesweite Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten sind in der Türkei grundsätzlich gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei v. 28.7.2022, S. 21).
74
Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich beim Kläger um einen sogenannten faktischen Inländer handelt, führt dies nicht zum Überwiegen seiner Bleibeinteressen. Denn zu seinen Lasten sind insbesondere die über viele Jahre hinweg begangenen Straftaten zu berücksichtigen, die gegen eine Verwurzelung in den Lebensverhältnissen der Bundesrepublik sprechen. Insbesondere die massive Straffälligkeit, die den Verurteilungen der Jahre 2010 und 2017 voranging, führt angesichts der fortbestehenden Wiederholungsgefahr zum Überwiegen der Ausweisungsinteressen. Denn den Bleibeinteressen steht hier insbesondere das hochrangige Rechtsgut der körperlichen Integrität von Personen gegenüber, denen im Wiederholungsfall Angriffe des Klägers drohen.
75
Kontakt zu seinen Familienmitgliedern in Deutschland wird der Kläger auch von der Türkei aus durch die Inanspruchnahme moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten können. Zudem besteht die – bzgl. der Eltern durch den Gesundheitszustand eingeschränkte – Möglichkeit von Besuchen der Familie in der Türkei und die Möglichkeit, dem Kläger Betretenserlaubnisse für das Bundesgebiet nach § 11 Abs. 8 AufenthG zu besonderen Anlässen zu erteilen.
76
Auch der insbesondere in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Wunsch des Klägers, nach seiner Haftentlassung seine erkrankten Eltern zu betreuen, führt nicht zu einem Überwiegen der Bleibeinteressen. Zwar kann es unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 GG nicht allein darauf ankommen, dass die Pflegeleistungen des Familienmitglieds auch von einem Pflegedienstleister erbracht werden könnten (VGH BW, B.v. 28.3.2019 – 11 S 623/19 – BeckRS 2019, 5311 Rn. 13). Auch daraus resultiert aber kein unüberwindliches Ausweisungsverbot. Bei Abwägung der widerstreitenden Interessen ist deshalb zu berücksichtigen, dass die Eltern des Klägers derzeit anderweitig versorgt sind und zudem zahlreiche weitere Familienmitglieder im Bundesgebiet leben, die eine Betreuung gewährleisten können. Zur Vermeidung von Härten ist es außerdem auch hier möglich, dem Kläger Betretenserlaubnisse nach § 11 Abs. 8 AufenthG auszustellen. Denn Besuche der Eltern in der Türkei wären angesichts ihres fortgeschrittenen Lebensalters zumindest mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Auch hier überwiegen unter diesen Voraussetzungen die besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen.
77
Zur Frage der Verhältnismäßigkeit sei abschließend darauf hingewiesen, dass dem Kläger bereits mit Schreiben des damals zuständigen Landratsamts vom 3. Dezember 2010 die drohende Möglichkeit einer Ausweisung vor Augen geführt wurde. Von einer Ausweisung wurde damals abgesehen, um dem Kläger zu ermöglichen, sich im Rahmen einer Drogentherapie zu bewähren. Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass der Kläger in Deutschland geboren ist und hier sein ganzes Leben verbracht hat. Daraufhin ist er erneut massiv strafrechtlich in Erscheinung getreten. Dem Kläger musste bewusst sein, dass dieses Verhalten seine Ausweisung zur Folge haben könnte. Ein milderes, ebenso wie die Ausweisung geeignetes Mittel der Gefahrenabwehr existiert deshalb nicht. Insbesondere eine ausländerrechtliche Verwarnung würde im Hinblick auf die vom Kläger ausgehende erhebliche Wiederholungsgefahr nicht im gleichen Maß die Gewähr dafür bieten, dass er keine Straftaten im Inland mehr begeht. Im Übrigen ist auch eine solche Verwarnung angesichts schon damals begangener Straftaten ohne Erfolg bereits vor über 20 Jahren, am 8. Februar 2002 erfolgt.
78
Nach alledem überwiegt unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Klägers seine Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet und macht seine Ausweisung unerlässlich.
79
3. Die unter Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids erfolgte Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken, sodass auch die Hilfsanträge ohne Erfolg bleiben.
80
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen wurde, gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Das gegen den Kläger erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot kann sich auch auf eine gemäß Art. 11 Abs. 1a) der RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie, ABl. L 348, 98) erforderliche Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie stützen (vgl. BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 53 ff.; EuGH, U.v. 3.6.2021 – BZ, C-546/19 – juris Rn. 53 ff.). Eine solche Rückkehrentscheidung ist hier mit der Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 des Bescheids ergangen.
81
Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist mit der Ausreise beginnt. Diese allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzende Frist liegt gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG im Ermessen des Beklagten, darf aber nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer in den Fällen des § 11 Abs. 5 bis Abs. 5b AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. Gemäß § 11 Abs. 5 AufenthG soll die Frist zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Dabei besteht nach Art. 36 Abs. 2 Nr. 2 BayVwVfG i.V.m. § 11 Abs. 2 Satz 5 AufenthG die Möglichkeit, die Befristungsentscheidung zur Abwehr einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit einer Bedingung zu versehen, insbesondere einer nachweislichen Straffreiheit.
82
Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Höchstfrist muss sich an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und ggf. relativieren lassen. Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und den Verwaltungsgerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen (BVerwG, U.v. 6.3.2014 – 1 C 2.13 – BeckRS 2014, 49495, Rn. 12; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.1 – BeckRS 2012, 56736, Rn. 42).
83
Gemessen daran ist auch die vorgenommene Befristung auf fünf Jahre unter der Bedingung der Straffreiheit, sonst von neun Jahren, nicht zu beanstanden. Der Beklagte hat die aus § 11 AufenthG resultierenden Vorgaben beachtet, das ihm hinsichtlich der Länge der Frist eingeräumte Ermessen erkannt und bei seiner Ausübung weder die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Der Beklagte stützt die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG zu Recht auf eine besonders hohe Gefahr, dass der Kläger wieder Straftaten zu Lasten hochrangiger Rechtsgüter begehen wird. Seine hochrangigen Bleibeinteressen (s.o.) berücksichtigt der Beklagte dabei hinreichend.
84
Die Beklagtenvertreterin hat angesichts der diesbezüglich offenen Formulierung des Bescheids (S. 26 ff.) außerdem in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass im Bescheid lediglich auf getilgte Straftaten des Klägers eingegangen wurde, um ein Gesamtbild zu zeichnen. Für die Entscheidung über die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots habe sie aber nur aus dem Bundeszentralregister ungetilgte Taten herangezogen, insbesondere die Verurteilungen aus den Jahren 2010 und 2017, die auch zur Überzeugung des Gerichts die wesentlichen Anlasstaten bilden. Ein Ermessensfehler resultiert hieraus nicht.
85
Die Bedingung einer nachweislichen Straffreiheit wurde im Hinblick auf die wiederholte Straffälligkeit des Klägers aufgenommen. Auch die Befristung der Wirkung der Ausweisung auf neun Jahre im Fall der Nichterbringung des entsprechenden Nachweises ist nicht zu beanstanden, Ermessensfehler sind insofern nicht ersichtlich. Der Begründung des verfahrensgegenständlichen Bescheides ist zu entnehmen, dass der Beklagte dabei bewusst eine vergleichsweise lange Frist bestimmt hat. Dies ist angesichts der Vielzahl und Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten sowie der hohen Wiederholungsgefahr nicht zu beanstanden.
86
4. Die Abschiebungsandrohung beruht auf §§ 58 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1, Nr. 3, 59 Abs. 1, Abs. 5 AufenthG und begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Insbesondere ist im Wege der Auslegung klar, dass die Abschiebung aus „dem Krankenhaus“ sich auf einen etwaigen Maßregelvollzug bezieht, der im Fall des Klägers in der Vergangenheit angeordnet war und der ebenfalls einen öffentlichen Gewahrsam i.S.d. § 59 Abs. 5 AufenthG darstellt (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 58 AufenthG Rn. 28).
87
Es bestehen bzgl. des Klägers auch keine Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Insofern wird zunächst auf die Stellungnahme des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 72 Abs. 2 AufenthG verwiesen, die bzgl. der Situation des Klägers am 30. August 2023 abgegeben wurde. Diese Stellungnahme entfaltet als unselbstständige Verfahrenshandlung zwar keine Bindungswirkung gegenüber Behörde oder Gericht, sodass sie einer abweichenden Beurteilung im Verfahren nicht entgegensteht (vgl. Samel/Kolber in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 72 AufenthG Rn. 27). Für eine solche abweichende Beurteilung besteht zur Überzeugung des Gerichts aber kein Raum.
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Als Argument für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG wurde vom Kläger zuletzt im ausführlichen Schriftsatz vom 21. März 2024 und im Rahmen der mündlichen Verhandlung seine angeborene schwere Hämophilie, Typ B thematisiert. Dazu hat der Kläger auch Unterlagen vorgelegt.
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Zunächst ist diesbezüglich festzuhalten, dass sich aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen nicht ergibt, dass der Kläger i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG an einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde. Der Gesetzgeber hat in §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG die an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung zu stellenden Anforderungen detailliert beschrieben. Dazu gehört unter anderem, dass das ärztliche Attest die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten soll. Aus dem Attest des Anstaltsarztes der Justizvollzugsanstalt vom 1. April 2022 ergibt sich lediglich, dass ohne regelmäßige Injektion von Blutgerinnungspräparaten eine erhöhte Blutungsgefahr besteht. Deren genaues Ausmaß wird nicht beschrieben. Aus den mit Schriftsatz vom 21. März 2024 vorgelegten Behandlungsunterlagen ergibt sich, dass die Gerinnungsfaktor-IX-Aktivität beim Kläger erheblich vermindert ist, ohne dass die Auswirkungen weiter präzisiert würden.
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Nichts anderes gilt für die in der mündlichen Verhandlung ergänzend vorgelegten Unterlagen. Aus dem Bericht des Ambulanten Zentrums für Chirurgie vom 25. Oktober 2023 ergeben sich zunehmende Schmerzen des Klägers in allen großen Gelenken, insbesondere in der rechten Schulter und im rechten Ellenbogen. Dies sei auf eine Gelenkerkrankung infolge der Hämophilie zurückzuführen. Im Bericht der Radiologie zur Kernspintomographie vom 8. November 2023 werden eine Sehnenschädigung an der Schulter und eine beginnende Schultergelenksarthrose mit einhergehender Schleimbeutelentzündung sowie degenerative Veränderungen im Ellenbogengelenk angegeben. Das Schreiben des Ambulanten Zentrums für Chirurgie vom 29. November 2023 gibt Schmerzen des Klägers in der rechten Schulter und dem rechten Ellenbogen an, weshalb vor einer möglichen Operation zunächst selbstständige Bewegungsübungen des Klägers erfolgen sollen. Im Schreiben der Chirurgischen Klinik vom 7. Dezember 2023 wird sodann ausgeführt, für eine chirurgische Intervention sei es ausreichend, wenn sich der Kläger im Juli 2024 bei der Klinik vorstelle.
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Zum ebenfalls vom Kläger in der mündlichen Verhandlung erwähnten Verdacht auf einen Leistenbruch wurden keine Unterlagen vorgelegt.
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Auf Grundlage des klägerischen Vortrags und der zusätzlich vorgelegten ärztlichen Unterlagen folgt zur Überzeugung des Gerichts keine von der Einschätzung des Bundesamts abweichende Bewertung.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist. Dabei ist in der Türkei eine allgemeine Krankenversicherung gewährleistet, die auch Mittellose erfasst. Sämtliche Krankheitsbilder können in der Türkei umfassend versorgt werden. Einschränkungen erforderlicher Therapien bei hohen Behandlungskosten ergeben sich aus den Erkenntnismitteln nicht (vgl.o.).
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Einblutungen, wie sie letztlich auch den jüngsten Diagnosen zugrunde liegen, treten beim Kläger angesichts seiner von Geburt an bestehenden Krankheit schon sein gesamtes Leben lang auf (siehe z.B. das psychiatrische Gutachten vom 24. September 2009). Zeitweise hat der Kläger auch über längere Zeiträume hinweg die Behandlung seiner Hämophilie verweigert (Psychiatrisches Gutachten vom 26. April 2017).
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Dass der Kläger an einer ernstzunehmenden Krankheit leidet, stellt das Gericht nicht in Abrede. Dass sich diese Krankheit, angesichts der in der Türkei bestehenden Behandlungsmöglichkeiten, aber i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, ist auf Grundlage der vorgelegten ärztlichen Unterlagen, die solche Folgen nicht i.S.d. § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG benennen, des Vortrags des Klägers, der bereits in der Vergangenheit zeitweise unterbliebenen Behandlung und der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel nicht anzunehmen.
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8. Aus diesen Gründen war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.