Inhalt

LG Augsburg, Beschluss v. 11.04.2024 – 1 Qs 58/24
Titel:

Beiordnung, Bewilligung, Prozesskostenhilfe, Beschwerde, Staatsanwaltschaft, Verteidiger, Pflichtverteidiger, Freiheitsstrafe, Gesamtstrafe, Betreuung, Bestellung, Pflichtverteidigerbestellung, Verfahren, Einstellung, sofortige Beschwerde, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Einstellung des Verfahrens

Schlagworte:
Beiordnung, Bewilligung, Prozesskostenhilfe, Beschwerde, Staatsanwaltschaft, Verteidiger, Pflichtverteidiger, Freiheitsstrafe, Gesamtstrafe, Betreuung, Bestellung, Pflichtverteidigerbestellung, Verfahren, Einstellung, sofortige Beschwerde, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Einstellung des Verfahrens
Vorinstanz:
AG Augsburg, Beschluss vom 23.02.2024 – 64 Gs 6798/23
Fundstelle:
BeckRS 2024, 7945

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft A. gegen den Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 23.02.2024 wird dieser aufgehoben.
2. Der Antrag des Verteidigers vom 07.09.2023 auf Beiordnung als Pflichtverteidiger wird abgelehnt.
3. Die Staatskasse hat die Kosten des Rechtsmittels und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Beschuldigten zu tragen.

Gründe

I.
1
Der Beschuldigte soll am 05.09.2023 einen versuchten Diebstahl begangen haben, in dem er einen unverschlossenen Kleintransporter öffnete und nach Wertgegenständen durchsuchte, jedoch nicht fündig wurde. Der Beschuldigte konnte durch die von einem Zeugen herbeigerufenen Polizeibeamten noch in der Nähe des Tatorts angetroffen werden. Da der Beschuldigte auf die Polizeibeamten einen geistig klaren Eindruck machte und auch die Heimleiterin in dem Seniorenheim, in dem der Beschuldigte wohnt, auf Nachfrage mitteilte, dass der Beschuldigte zwar unter Betreuung stehe aber keine Demenz habe und geistig in einem normalen Zustand sei, wurde mit der Einwilligung des Beschuldigten dessen Zimmer durchsucht. Gegenstände, die einer Straftat zuzuordnen wären, wurden hierbei nicht gefunden.
2
Der gesetzliche Betreuer des Beschuldigten gab am 06.09.2023 gegenüber der Polizei an, dass der Beschuldigte keine Angaben zur Sache machen wolle. Mit Schreiben vom 07.09.2023 zeigte der Verteidiger des Beschuldigten seine Mandatierung an und beantragte u.a. die Beiordnung als Pflichtverteidiger, weil dem Beschuldigten eine Gesamtstrafe von über einem Jahr drohe und damit ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vorliege. Gegen den Beschuldigten würden mehrere Verfahren parallel laufen, welche gesamtstrafenfähig seien und deshalb stehe insgesamt eine Gesamtfreiheitstrafe von mindestens einem Jahr im Raum. Daneben sei die Pflichtverteidigerbestellung auch wegen der Unfähigkeit zur Selbstverteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO erforderlich, da der Beschuldigte unter Betreuung stehe. Auch eine erforderliche Prüfung der Schuldfähigkeit des Beschuldigten gem. §§ 20, 21 StGB gebiete die Bestellung eines Pflichtverteidigers.
3
Das Verfahren ging am 24.10.2023 bei der Asservatenstelle der Staatsanwaltschaft A. ein. Mit Verfügung vom 15.11.2023 wurde das Verfahren nach § 154 Abs. 1 StPO im Hinblick auf ein anderes anhängiges Verfahren eingestellt.
4
Mit Schreiben vom 28.11.2023 wurde durch den Verteidiger des Beschuldigten die unterlassene Bestellung als Pflichtverteidiger moniert und die rückwirkende Beiordnung trotz Einstellung des Ermittlungsverfahrens beantragt, weil der Antrag rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt worden sei, die Voraussetzungen gem. § 140 Abs. 2 StPO zu diesem Zeitpunkt vorgelegen hätten und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben sei, auf die der Beschuldigte keinen Einfluss gehabt habe.
5
Mit Beschluss des Amtsgerichts Augsburg vom 23.02.2024 erfolgte die beantragte nachträgliche Beiordnung als Pflichtverteidiger. Als Begründung wurde im Wesentlichen auf Rechtsprechung verwiesen, u.a. die nachfolgend näher erläuterte Rechtsprechung des OLG Bamberg und OLG Nürnberg. Daneben wurde ohne nähere Begründung ausgeführt, dass ein Fall der notwendigen Verteidigung unzweifelhaft vorliegen würde.
6
Gegen den bei der Staatsanwaltschaft A. am 26.02.2024 zur Zustellung eingegangenen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft mit Schreiben vom 28.02.2024, eingegangen beim Amtsgericht Augsburg am 29.02.2024, sofortige Beschwerde eingelegt. Zur Begründung brachte die Staatsanwaltschaft vor, dass die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht möglich sei, weil eine solche Bestellung auf etwas Unmögliches gerichtet sei, und zwar die Sicherung der Verteidigung in der Vergangenheit. Auch die im Jahre 2019 erfolgten Änderungen der §§ 140 ff. StPO würden eine rückwirkende Bestellung nicht gebieten.
II.
7
Die zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft A. hat in der Sache Erfolg.
8
Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen die Pflichtverteidigerbestellung ist gemäß § 142 Abs. 7 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere wurde die Beschwerde innerhalb einer Woche ab Zustellung und damit fristgerecht eingelegt, § 311 Abs. 2 StPO.
9
Die sofortige Beschwerde ist auch begründet. Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers kommt nach Ansicht der Kammer bereits generell nicht in Betracht, auch dann nicht, wenn der Antrag bereits vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2128), mit dem der Gesetzgeber die Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rats vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls („PKH-Richtlinie“) umgesetzt hat:
10
1. Der BGH (Beschluss vom 20.07.2009 – 1 StR 344/08) hat bislang eine nach Verfahrensabschluss beantragte Beiordnung zum Pflichtverteidiger abgelehnt. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung war die rückwirkende Bestellung eines Verteidigers schlechthin unzulässig und unwirksam, weil die Beiordnung im Strafprozess nicht im Kosteninteresse eines Beschuldigten erfolge, sondern allein dem Zweck diene, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dies galt auch dann, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt, aber nicht über ihn entschieden worden war.
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2. Ob hieran im Hinblick auf die aufgrund der PKH-Richtlinie erfolgten Gesetzesänderungen festzuhalten ist, hat der BGH bislang nicht entschieden. In der obergerichtlichen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zeigt sich ein zweigeteiltes Bild:
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a) Überwiegend wird die Ansicht vertreten, dass die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht in Betracht komme, weil sie ausschließlich dem Zweck diene, dem Verteidiger für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse zu verschaffen, nicht jedoch die notwendige ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.03.2020 – 1 Ws 19/20; OLG Hamburg, Beschluss vom 16.09.2020 – 2 Ws 112/20; OLG Bremen, Beschl. vom 23.09.2020 – 1 Ws 120/20; OLG Braunschweig, Beschluss vom 02.03.2021 – 1 Ws 12/21). Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie einem ordnungsgemäßen Verfahrensablauf in der Zukunft. Eine Rückwirkung wäre auf etwas Unmögliches gerichtet und würde eine notwendige Verteidigung des Beschuldigten in der Vergangenheit nicht gewährleisten (OLG Brandenburg, Beschluss vom 09.03.2020 – 1 Ws 19/20).
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b) Teilweise wird die Ansicht vertreten, dass eine nachträgliche Beiordnung aufgrund der wegen des Gesetzes zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 erfolgten Gesetzesänderungen unter bestimmten Voraussetzungen möglich sein soll. So soll eine nachträgliche Beiordnung dann zulässig sein, wenn die Voraussetzungen des § 140 StPO zum Zeitpunkt des Antrags vorlagen und die Entscheidung über die Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat (so OLG Nürnberg, Beschluss vom 06.11.2020 – Ws 962/20, WS 963/20 und OLG Bamberg, Beschluss vom 29.04.2021 – 1 Ws 260/21). Als Begründung wird ausgeführt, dass die Annahme eines Rückwirkungsverbots im Hinblick auf die Gesetzesänderungen aufgrund der PKH-Richtlinie nicht mehr tragfähig sei, da Art. 4 der Richtlinie nunmehr auch die finanziellen Grundlagen regeln würde, und zwar in der Weise, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden solle. Dies würde jedoch unterlaufen werden, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könne, weil die Entscheidung hierüber verzögert getroffen werde oder zu einem Zeitpunkt erfolge, an dem die Mitwirkung eines Verteidigers obsolet geworden sei. Gestützt werde diese Rechtsauffassung auch durch das Unverzüglichkeitsgebot in § 141 Abs. 1 S. 1 StPO. Dadurch habe der Gesetzgeber deutlich gemacht, dass es seine Absicht gewesen sei, jedem Beschuldigten ab der Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen die Möglichkeit der Einholung kompetenten, d.h. anwaltlichen Rats zwecks bestmöglicher Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung zu stellen.
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Daneben wird angeführt, dass auch wenn es die Pflicht eines Verteidigers sei, ab dem Moment der Mandatsübernahme bestmöglich im Sinne des Mandanten tätig zu werden, liege die Befürchtung nicht fern, dass einzelne Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Antragsstellung bis zu ihrer Bestellung nicht im gleichen Maße für ihren Mandanten tätig werden würden, wie dies bei einem Wahlverteidiger mit einem solventen Mandanten der Fall wäre, wenn sie befürchten müssten, letztlich keine Vergütung zu erhalten. Die Möglichkeit der rückwirkenden Beiordnung eines Pflichtverteidigers stelle sich somit als Instrument dar, um auch nur dem Verdacht eines solchen Verhaltens entgegenzuwirken.
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Für diese Ansicht spreche auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Denn nach dieser Rechtsprechung komme die rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe beispielsweise nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ausnahmsweise in Betracht. Der Rechtsprechung liege die Überlegung zugrunde, dass, sofern der Betroffene einen Antrag rechtzeitig gestellt habe und alle formalen Voraussetzungen für dessen Bewilligung erfüllt seien, es ihm und indirekt dem von ihm beauftragten Anwalt finanziell nicht zum Nachteil gereichen soll, dass aus von ihnen nicht zu vertretenden und einzig im Verantwortungsbereich der Justiz liegenden Umständen mit einer Entscheidung hierüber bis zum Abschluss der Instanz zugewartet worden war. Die skizzierte Interessenlage sei mit der Bestellung eines Pflichtverteidigers vergleichbar (OLG Bamberg, Beschluss vom 29.04.2021 – 1 Ws 260/21).
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c) Die Kammer schließt sich der erstgenannten Auffassung an:
17
Der Zweck der Pflichtverteidigung besteht – ausschließlich – darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen (§ 140 StPO) rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird. Die Beiordnung eines Verteidigers erfolgt demzufolge nicht in dessen (finanziellen) Interesse, sondern allein im öffentlichen Interesse zum Schutz des Beschuldigten (vgl. BVerfGE 39, 238, NJW 1975, 1015; BGH, Beschluss vom 18.8.2020 – NJW 2020, 3331 Rn. 6). Finanzielle Erwägungen, insbesondere hinsichtlich des Kosteninteresses des Beschuldigten und damit – indirekt – auch anwaltlicher Vergütungsansprüche, sind dem System der §§ 140 ff. StPO fremd (BT-Drs. 19/13829, 21).
18
Dieser geschilderte Zweck der Pflichtverteidigung kann durch eine nachträgliche Bestellung nicht mehr erreicht werden. Die aufgrund der PKH-Richtlinie erfolgten Änderungen der §§ 140 ff. StPO haben auch nicht zu einer Veränderung bzw. Erweiterung dieses Zwecks geführt.
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aa) Nach den Ausführungen in der Gesetzesbegründung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 flankiert die PKH-Richtlinie das Recht auf Zugang zum Rechtsbeistand, da sie der Gewährleistung von dessen Effektivität dient, indem Beschuldigten und gesuchten Personen die Unterstützung eines – jedenfalls vorläufig – durch die Mitgliedstaaten finanzierten Rechtsbeistands zur Verfügung gestellt wird (BT-Drs. 19/13829, S. 21).
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Das deutsche Recht verfügt im Bereich des Strafprozessrechts nicht über ein System der Bereitstellung von Mitteln, wenn der Beschuldigte dies zur Wahrnehmung seines Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand benötigt. Es charakterisiert sich seit Schaffung der StPO vielmehr durch ein System, in dem – unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit des Beschuldigten – diesem in bestimmten Fällen, nämlich in allen Fällen der notwendigen Verteidigung, sofern der Beschuldigte keinen Wahlverteidiger hat, ein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt wird, und zwar auch völlig unabhängig vom Willen des Beschuldigten und gegebenenfalls sogar gegen dessen Willen.
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Die Vergütung des ihm zur Seite gestellten Verteidigers zahlt nach deutschem Recht nicht der Beschuldigte, sondern zunächst der Staat. Je nach Verfahrensausgang und entsprechender Kostenentscheidung trifft die Last der Verfahrenskosten, zu denen auch die Vergütung und die Auslagen des Pflichtverteidigers gehören, jedoch den Beschuldigten. Korrekturen dieses Ergebnisses sind dann im Vollstreckungsverfahren möglich: Ob und inwieweit wegen der Verfahrenskosten tatsächlich vollstreckt wird, richtet sich dann nach den finanziellen Verhältnissen des Verurteilten.
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Alles in allem handelt es sich somit beim deutschen System um ein von paternalistischen Gedanken getragenes System der Beiordnung eines (zunächst) staatlich finanzierten Rechtsbeistands. Das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 hatte insoweit das Ziel, die PKH-Richtlinie unter Wahrung dieses deutschen Systems der notwendigen Verteidigung und Pflichtverteidigung umzusetzen. (BT-Drs. 19/13829, S. 21-22).
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bb) Artikel 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie verlangt von den Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass beschuldigten Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistands verfügen, Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Dabei können die Mitgliedstaaten eine Bedürftigkeitsprüfung, eine Prüfung der materiellen Kriterien oder beides vornehmen, um festzustellen, ob Prozesskostenhilfe zu gewähren ist. Das deutsche System der notwendigen Verteidigung, auf dem die Pflichtverteidigung aufbaut, knüpft – im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union – allein an die Prüfung des Rechtspflegeinteresses an, die in der PKH-Richtlinie als „Prüfung der materiellen Kriterien“ bezeichnet wird. Die PKH-Richtlinie ermöglichte die Beibehaltung dieses Systems, weil eine Bedürftigkeitsprüfung nach der Richtlinie nicht zwingend erforderlich war.
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Nach Art. 4 Abs. 2 der PKH-Richtlinie wäre es auch möglich gewesen, ausschließlich eine Bedürftigkeitsprüfung in das neue Gesetz aufzunehmen, sodass solvente Beschuldigte überhaupt keinen Anspruch mehr auf einen Pflichtverteidiger gehabt hätten. In Einklang mit der Richtlinie wurde aber das bestehende deutsche System aufrechterhalten, wobei bei Fällen der notwendigen Verteidigung für jeden Beschuldigten zumindest vorläufig die Kosten übernommen werden, und erst bei Verurteilung im Vollstreckungsverfahren eine Rückforderung erfolgen kann.
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Allerdings musste das nationale Recht den Anforderungen aus Artikel 4 Absatz 4 der PKH-Richtlinie genügen, wonach bei der Prüfung des Rechtspflegeinteresses der Schwere der Straftat, der Komplexität des Falles und der Schwere der zu erwartenden Strafe Rechnung zu tragen ist. Im Einklang mit diesen Voraussetzungen wurden die Fälle, in denen eine notwendige Verteidigung (aufgrund materieller Kriterien) vorliegt, erweitert.
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cc) Soweit daher von Teilen der obergerichtlichen Rechtsprechung angeführt wird, dass Art. 4 der Richtlinie nunmehr auch die finanziellen Grundlagen regeln würde, und zwar in der Weise, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistandes gesichert werden solle, wird die tatsächliche Umsetzung dieser Richtlinie ins deutsche Recht verkannt. Denn es wurde im Einklang mit der Richtlinie gerade keine Bedürftigkeitsprüfung in das deutsche Recht aufgenommen, sondern es erfolgt, wie bisher, ausschließlich eine Überprüfung, ob die notwendige Verteidigung im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist, vgl. Art. 4 Abs. 1 a.E., Abs. 2, Abs. 4 der Richtlinie. Bedürftigen Beschuldigten weitergehende finanzielle Unterstützung zu bieten, war gerade nicht Gegenstand der Gesetzesänderung.
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dd) Auch das in Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie normierte Unverzüglichkeitsgebot erfordert keine rückwirkende Beiordnung, um dessen Einhaltung sicherzustellen und so eine ordnungsgemäße Verteidigung zu sichern. Denn die Beachtung dieser zeitlichen Vorgabe der Richtlinie für die Beiordnungsentscheidung wurde durch ihre Umsetzung – etwa in § 141 Abs. 1 S. 1, § 142 Abs. 1 S. 2 StPO – grundsätzlich sichergestellt (BT-Drs. 19/13829, S. 23, 37; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 141 Rn. 1, 7). Die Konsequenzen einer fehlerhaft unterbliebenen Beiordnung sind dagegen weder Gegenstand der PKH-Richtlinie, noch der §§ 140 ff. StPO. Dies spricht dafür, dass auch mit der Neuregelung – die in Kenntnis der o.g. BGH-Rspr. erfolgte – gerade keine Abkehr von der ursprünglichen Rechtslage erfolgen sollte und folglich auch nach Umsetzung der Richtlinie die ordnungsgemäße Verteidigung lediglich für das jeweilige laufende Verfahren sichergestellt werden soll (LG Leipzig, Beschluss vom 11.9.2023 − 17 Qs 48/23).
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Eine nachträgliche Bestellung würde auch zu keiner Heilung bereits eingetretener Verteidigungsmängel oder der Gewährleistung einer ordnungsgemäßen Verteidigung führen. Soweit vom OLG Bamberg argumentiert wird, dass eine nachträgliche Beiordnung erforderlich sei, um die Qualität der Verteidigung zu sichern, da eine angemessene Verteidigung vereinzelt nur erfolge, wenn der Zahlungsanspruch gesichert sei, kann die Kammer diesen Überlegungen nicht beitreten. Insoweit ist wiederum darauf zu verweisen, dass es gerade nicht Zweck der Pflichtverteidigung ist, die finanziellen Interessen der Verteidiger zu wahren. Damit ist es auch nicht Aufgabe des Staates, das Unternehmerrisiko der Verteidiger zu tragen. Zudem ist bei der Einstellung des Ermittlungsverfahrens eine umfangreiche Verteidigung gerade nicht erforderlich, sodass insoweit auch keine „Qualitätssicherung“ angezeigt ist. Daneben ergeben sich weder aus der Richtlinie noch aus den §§ 140 ff. StPO solche „generalpräventive“ Erwägungen. Die Richtlinie hat vielmehr nur das konkrete Verfahren im Blick (vgl. Art. 4 Abs. 6).
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Letztlich begegnet auch der Verweis auf eine Vergleichbarkeit der Rechtsprechung zu der nachträglichen Bewilligung von Prozesskostenhilfe hinsichtlich der Vorschriften §§ 397a Abs. 2 und 404 Abs. 5 StPO (OLG Bamberg, aaO) durchgreifenden Bedenken – § 397a StPO betrifft den Nebenkläger, § 404 Abs. 5 StPO das Adhäsionsverfahren. Damit geht es nicht um die Kosten der Strafverteidigung eines Beschuldigten. Nach Art. 4 Abs. 6 der Richtlinie wird zudem ausdrücklich normiert, dass Prozesskostenhilfe nur für die Zwecke des Strafverfahrens bewilligt wird, in dem die betreffende Person der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt wird. Daneben geht es dabei – anders als bei der Einstellung des Ermittlungsverfahrens – ausschließlich um Fälle, in denen es tatsächlich zur Erhebung einer öffentlichen Klage gekommen ist, vgl. §§ 396 Abs. 1, 404 Abs. 5 StPO. Ferner ist eine Vergleichbarkeit auch deshalb abzulehnen, weil für die Gewährung von (nachträglicher) Prozesskostenhilfe, anders als bei dem ausschließlich an materielle Kriterien anknüpfende System der Pflichtverteidigung, eine Bedürftigkeitsprüfung vorzunehmen ist.
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3. Es kann daher letztlich dahinstehen, ob vorliegend überhaupt die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO vorlagen. Nach Aktenlage zum Zeitpunkt der Einstellung des Ermittlungsverfahrens lag ein Fall der notwendigen Verteidigung nicht nahe. Unterstellt, ein solcher Fall läge tatsächlich vor, ist der diesbezüglich getätigte Vortrag in der Beschwerdebegründung jedenfalls verspätet.
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a) Die Beiordnung eines Verteidigers ist wegen der Schwere der drohenden Rechtsfolge nicht geboten. Angesichts der Tatsache, dass dem Beschuldigten allenfalls ein versuchter Diebstahl zur Last liegt, ist trotz der umfangreichen Vorstrafen des Beschuldigten die Verhängung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr fernliegend. Dabei sind nicht ohne Weiteres andere anhängige Strafverfahren mit einzubeziehen. Es bedarf vielmehr der Prüfung im Einzelfall, ob andere Verfahren und die Erwartung späterer Gesamtstrafenbildung das Gewicht des abzuurteilenden Falles tatsächlich so erhöhen, dass die Mitwirkung eines Verteidigers geboten ist (OLG Stuttgart, Beschl. vom 02.03.2012 – 2 Ws 37/12). Dem Beschuldigten liegen allein im Verfahren (…) mehrere gewerbsmäßig begangene, vollendete Diebstähle mit teils erheblichem Schaden zur Last. Es ist daher fernliegend, dass der gegenständliche versuchte Diebstahl – ohne Schaden – dabei beträchtlich ins Gewicht fallen würde. Sofern eine Wiederaufnahme des gegenständlichen Verfahrens und eine Verbindung mit anderen Verfahren erfolgen sollte, würde erst dann ein Fall der notwendigen Verteidigung auch für den gegenständlichen Vorwurf vorliegen.
32
b) Auch eine Schwere der Tat, welche die Beiordnung eines Verteidigers gebieten würde, ist nicht ersichtlich; gleiches gilt für besondere Schwierigkeiten der Sach- oder Rechtslage.
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c) Zu guter Letzt ist nach Aktenlage – zum Zeitpunkt der Einstellung des Ermittlungsverfahrens – auch nicht zu ersehen, dass der Beschuldigte nicht imstande sein könnte, sich selbst zu verteidigen. Bei der Prüfung dieser Frage, welche stets eine Gesamtwürdigung der persönlichen Fähigkeiten, der Umstände des Falls sowie des Gesundheitszustandes erfordert, hat die Kammer berücksichtigt, dass der Beschuldigte unter Betreuung steht und dem Betreuer mehrere Aufgabenkreise übertragen worden sind. Aus der Akte geht aber hervor, dass der Beschuldigte nach Auskunft der Heimleiterin keine Demenz habe und in einem geistig normalen Zustand sei. Vom Verteidiger des Beschuldigten wurde bis zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens nichts Gegenteiliges mitgeteilt. Es wurde lediglich pauschal auf die bestehende Betreuung und eine deshalb notwendige Begutachtung nach §§ 20, 21 StGB hingewiesen. Im Hinblick auf die Ausführungen der Heimleiterin und der von den Polizeibeamten geschilderte Eindruck, wonach der Beschuldigte einen geistig klaren Eindruck gemacht habe, ergibt sich zum Zeitpunkt der Einstellung des Verfahrens insbesondere auch unter Berücksichtigung des sehr einfach gelagerten Sachverhalts nicht, dass der Beschuldigte sich nicht selbst verteidigen könnte oder eine Begutachtung nach §§ 20, 21 StGB erforderlich gewesen wäre.
34
Soweit der Verteidiger in seiner Stellungnahme vom 22.03.2024 zu der Beschwerde nun mitteilt, dass der Beschuldigte Demenz habe, würde dies, unterstellt, damit läge ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, auch nach der geschilderten Rechtsprechung der OLGs Nürnberg und Bamberg hier nicht zu einer nachträglichen Beiordnung führen. Denn danach müssen die Voraussetzungen gem. § 140 Abs. 2 StPO zum Zeitpunkt der Einstellung vorgelegen haben und die Entscheidung allein aufgrund justizinterner Vorgänge unterblieben worden sein. Zum Zeitpunkt der Einstellung lagen diese Voraussetzungen aber gerade nicht vor, da erst in der Beschwerdeinstanz konkret zu einer psychischen Erkrankung des Beschuldigten vorgetragen worden ist. Das Unterbleiben der begehrten Entscheidung beruht daher nicht allein auf justizinternen Umständen (so auch OLG Bremen, Beschluss vom 23.9.2020 − 1 Ws 120/20).
III.
35
Trotz dessen, dass die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft A. erfolgreich war, waren in entsprechender Anwendung des §§ 473 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO die Kosten des Rechtsmittels und die durch dieses dem Beschuldigten entstandenen notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen. Ersichtlich wollte die Staatsanwaltschaft A. durch die beabsichtigte Aufhebung des erlassenen Beiordnungsbeschlusses den gesetzmäßigen Zustand wieder herstellen. Denn in solchen Fällen der Rechtsmitteleinlegung lediglich im übergeordneten Interesse der Wiederherstellung gesetzeskonformer Normanwendung erweist sich eine dem Beschuldigten nachteilige Entscheidung über die Kosten allein danach, ob das Rechtsmittel zu seinen Gunsten oder Ungunsten eingelegt worden ist und ob es den beabsichtigten Erfolg gehabt hat, nicht nur als mit dem das Kostenrecht durchziehenden Gebot der sachlichen Gerechtigkeit unvereinbar, sondern auch als vom Gesetzgeber nicht vorbedacht, weshalb die mangels diesen Fall erfassender Regelungen bestehende Gesetzeslücke durch eine entsprechende Anwendung von §§ 473 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 StPO zugunsten des Beschuldigten auszufüllen ist (BGH, Beschl. vom 20.02.1963 – 4 StR 497/62; OLG Düsseldorf, Beschl. vom 04.09.1997, 1 Ws 694/97; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 473 Rn. 17).