Titel:
Asyl, Iran: Anspruch eines Regimegegners auf Flüchtlingsschutz
Normenketten:
VwGO § 86 Abs. 1 S. 1
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4
Leitsatz:
Es ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn eine Person mit ihren oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass sie zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Regimegegnerin, welche auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Iran, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Inhaftierung und Abgabe einer Verpflichtungserklärung im Jahr 2017, Fotos von regimekritischen Demonstrationen 2019, Durchsuchungen, Demokratische Partei, Kurdistan Iran, DPK-I, Sympathisant der DPK-I, Herstellung und Vervielfältigung regimekritischen oppositionellen Materials, wie Flyer, Plakate, CDs, insgesamt glaubhaftes Vorbringen im Einzelfall, Vermutung erneuter Verfolgung mangels stichhaltiger gegenteiliger Gründe, Relevanz einer Verpflichtungserklärung für drohende weitergehende staatliche Maßnahmen, fortgesetzte oppositionelle Aktivitäten in Deutschland wie Demonstrationsteilnahmen und Teilnahmen an Veranstaltungen einer exilpolitisch aktiven Partei, regimekritische Aktivitäten in den sozialen Medien, relevante Gefahrenerhöhung durch aktuelle Situation im Iran, Reisewarnung des Auswärtigen, Amtes, Verfolgungsinteresse des iranischen Staates, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung bei einer Rückkehr in den Iran, Sympathisant DPK-I, Regimegegner, Vorverfolgung, fortgesetzte oppositionelle Aktivitäten in Deutschland, Flüchtlingseigenschaft
Fundstelle:
BeckRS 2024, 7920
Tenor
I. Die Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. November 2023 werden aufgehoben, soweit sie sich auf den Kläger beziehen.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Der Kläger sowie seine Ehefrau und sein 12 Jahre alter Sohn sind iranische Staatsangehörige mit kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reisten am 6. Dezember 2020 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 1. Februar 2021 Asylanträge. Zur Begründung ihrer Asylanträge gaben sie im Wesentlichen an: Der Kläger habe mit der DPK-I (DPK-I) zusammengearbeitet, Druckaufträge etwa für Plakate oder Flyer erledigt und CDs gebrannt. Er habe im Jahr 2019 anlässlich der Proteste um die Benzinpreiserhöhungen Fotos angefertigt. Sein Haus sowie sein Ladengeschäft seien durchsucht worden. Auch sein Computer sei beschlagnahmt worden. Er sei zunächst in die Türkei ausgereist. Sein Bruder sowie ein Bruder der Ehefrau hätten Vorladungen erhalten, weil man habe erfahren wollen, wo er sich aufhalte. Bei einer Rückkehr fürchte er, inhaftiert oder gar hingerichtet zu werden. Die Ehefrau habe von den Aktivitäten des Klägers nichts gewusst. Sie habe wegen ihm, etwa ein Jahr später, den Iran verlassen. Er habe an Online-Treffen der Parteimitglieder des deutschen Komitees seiner Partei teilgenommen sowie an Demonstrationen in B. im September 2022, des Weiteren an einer Konferenz im August 2022. Außerdem sei er zu den Protesten im Iran auf I. aktiv gewesen.
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Mit Bescheid vom 2. November 2023 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dem Kläger sowie seiner Ehefrau und seinem Sohn die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger sowie seine Ehefrau und sein Sohn wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Fall einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen. Die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat wurde angedroht. Die Ausreisefrist wurde bis zum Ablauf der zweiwöchigen Klagefrist ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe seine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Die Angaben zu den fluchtauslösenden Ereignissen seien arm an Details geblieben, vage und oberflächlich. Es falle auf, dass der Kläger umfassend in allgemeiner Form über die Situation in seinem Herkunftsland berichte, während das eigene Verfolgungsschicksal nur oberflächlich und detailarm geschildert werde. Zu den eigenen Inhalten seiner Tätigkeit für die Partei DPK-I habe er nur allgemeine Aussagen treffen können. Er trage selbst vor, nicht Mitglied der Partei zu sein. Eine Verhaftung im Mai 2017 sei folgenlos geblieben. Er habe auch nicht veranschaulichen können, ob und gegebenenfalls welches belastende Material bei den vorgetragenen Beschlagnahmungen konfisziert worden sein sollte. Er sei auch nicht in der Lage, justizielle Unterlagen vorzulegen. Die Ehefrau sei ein Jahr später ausgereist. Zu der Einleitung eines förmlichen Strafverfahrens sei nichts vorgetragen worden. Auch unter Zugrundelegung des Vortrags der exilpolitischen Aktivitäten ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nach Erkenntnislage sei gesamtbetrachtend nicht davon auszugehen, dass alle Iraner und Iranerinnen, die sich im Ausland aufgehalten hätten und exilpolitisch aktiv gewesen seien, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politscher Verfolgung zu rechnen hätten. Bei der Einschätzung des Verfolgungsrisikos komme es auf den jeweiligen Einzelfall an. Auf dem vorgelegten Bildmaterial sei nicht zu erkennen, dass der Kläger durch seine Aktivitäten als wirkmächtiger Protagonist der exilpolitischen Szene in Erscheinung trete. Zudem seien seine Aktivitäten allenfalls von untergeordneter Bedeutung. Es sei nicht erkennbar, wie der Kläger das Verfolgungsinteresse der iranischen Behörden auf sich gezogen haben sollte. Nach herrschender Rechtsprechung schätzten iranische Behörden die Bedeutung und den Stellenwert des Asylverfahrens realitätsgerecht ein. Die Asylantragstellung werde von ihnen als legitimes Mittel angesehen, um sich zeitlich befristet außerhalb Irans aufhalten zu können.
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Am 13. November 2023 ließen der Kläger sowie seine Ehefrau und sein Sohn Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben. Zur Klagebegründung ist im Wesentlichen vorgebracht: Der Kläger seien im Iran staatlicher Verfolgung wegen seiner politischer Überzeugung bzw. seiner parteipolitischen Aktivitäten mit der DPK-I (DPK-I) und exilpolitische Aktivitäten in Deutschland (Nachfluchtgründe) ausgesetzt. Die Furcht des Klägers vor staatlicher Verfolgung sei begründet. Sie sei individuell und konkret und ergebe sich aus gängiger Praxis des iranischen Gottesstaates und dessen Anhänger gegen Regimegegner und aus dem Schicksal von zahlreichen politischen Aktivisten und Andersdenkenden, die verfolgt, inhaftiert und den Repressalien des iranischen Geheimdienstes von Folter bis zum Tod ausgesetzt gewesen seien und immer noch seien.
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Mit Schriftsatz vom 8. März 2024 ließen die Kläger unter Vorlage einer Bescheinigung der DPK-I sowie von Fotos zur Klagebegründung im Wesentlichen weiter ausführen: Der Kläger habe aus voller Überzeugung mit der oppositionellen DPK-I (DPK-I) zusammengearbeitet und habe dafür plausible und nachvollziehbare Gründe. Diese Gründe lägen in erster Linie in den Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrungen, die der Kläger von klein auf habe sammeln müssen. Die Diskriminierung der Kurden durch die iranische Regierung habe dazu beigetragen, dass er sich für Rechte der kurdischen Minderheit habe einsetzen und etwas gegen die Diktatur habe unternehmen wollen. Zu seinen parteipolitischen Aktivitäten hätten die Gestaltung von Flyern und Plakaten der DPK-I, die Vervielfältigung der Flugblätter und mündliche Aufklärungsarbeit gehört. Zahlreiche Aktivisten der oppositionellen Parteien würden verfolgt. Die DPK-I sei eine der bedeutendsten oppositionellen kurdischen Gruppen, deren zahlreiche Mitglieder und Sympathisanten bisher durch die Islamische Republik Iran verhaftet, gefoltert und hingerichtet worden seien. Öffentliche Aktivitäten und Veranstaltungen der Partei würden durch Spitzel des iranischen Regimes sehr genau beobachtet, auch in Deutschland. Der Kläger habe den Iran wegen staatlicher Verfolgung aufgrund seiner parteipolitischen Aktivitäten mit der DPK-I verlassen müssen. Die erste Festnahme des Klägers im Mai 2017 sei nicht folgenlos geblieben. Denn er habe sich schriftlich verpflichtet, mit keiner Partei kooperiert zu haben und Informationen bezüglich der Parteien an die staatlichen Stellen weiterzugeben. Wenn ein Betroffener zum zweiten Mal festgenommen werde, werde ihm die Verpflichtung bei der vorherigen Festnahme auch zur Last gelegt. Im Falle des Klägers komme noch dazu, dass er bereits mit der DPK-I kooperiert und mit dieser direkt zusammengearbeitet habe. Er habe für die Partei Flyer und Plakate vervielfältigt bzw. gestaltet oder CDs gebrannt. Der Kläger habe sehr plausibel berichtet, dass iranische Geheimdienstler sein Haus und seinen Laden durchsucht und seinen Laptop, Computer und seine Harddisc mit belastenden Materialien – Dateien von Flyern und Plakaten der DPK-I – beschlagnahmt hätten. Würden solche Aktivitäten im politischen Kontext des heutigen Iran betrachtet, werde ihre politische Brisanz verdeutlicht. Die Islamische Republik Iran stütze sich mehr als je zuvor auf offene Unterdrückung von Andersdenkenden und Verfolgung oppositioneller Parteien. Deshalb versuche sie jeden regimekritischen Widerstand bzw. Protest im Keim zu ersticken. Darüber hinaus habe der Kläger seine parteipolitischen Aktivitäten nach Einreise in die Bundesrepublik Deutschland fortgesetzt. Er nehme an den Sitzungen und Veranstaltungen der DPK-I teil, beteilige sich an öffentlichen Kundgebungen und Demonstrationen und setze sich für die Menschenrechte im Iran ein. Fotos belegten die aktive Teilnahme des Klägers an der DPK-I-Veranstaltung anlässlich Jahrestages der Gründung der DPK-I am … … 2023 in F. am Main, wobei er auch eine kurze Rede gehalten habe, sowie an den Demonstrationen gegen das iranische Regime und für die Unterstützung der Bewegung „Frau L. F.“ im Iran am … … 2023 in K. Seit September 2022 habe der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft. Im Iran gebe es nach China die meisten Hinrichtungen weltweit. Allein im Januar und Februar 2023 seien 94 Menschen hingerichtet worden. Das Zentrum des aktuellen Widerstands gegen die Islamische Republik Iran sei Kurdistan. Ohnehin würden Kurden diverser gesellschaftlicher Diskriminierungen ausgesetzt. Politisch Verfolgte aus Kurdistan – wie der Kläger – würden noch intensiver verfolgt und härter bestraft.
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Die Kammer übertrug den Rechtsstreit mit Beschluss vom 15. November 2023 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 27. November 2023,
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In der mündlichen Verhandlung am 25. März 2024 beantragte die Klägerbevollmächtigte für den Kläger noch zusammen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn,
die Beklagte unter Aufhebung der Nummern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. November 2023 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise den Klägern den subsidiären Schutz zuzuerkennen;
hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
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Das Gericht hörte den Kläger und seine Ehefrau informatorisch an. Des Weiteren trennte es die Klageverfahren der Ehefrau und des Sohnes ab, führte sie unter dem Aktenzeichen W 8 K 24.30410 fort und setzte den abgetrennten Klageteil aus.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Verfahrens W 8 K 24.30410) und auf die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl nicht alle Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erschienen sind (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. November 2023 ist in seinen Nrn. 1 und 3 bis 6 rechtswidrig – soweit sie sich auf den Kläger beziehen – und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG). Aus diesem Grund war der streitgegenständliche Bescheid, wie zuletzt beantragt, insoweit aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG) war nicht zu entscheiden.
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Unter Berücksichtigung der aktuellen abschiebungsrelevanten Lage im Iran hat der Kläger einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG.
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Gemäß §§ 3 ff. AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit oder seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Bedrohung liegt dann vor, wenn anknüpfend an Verfolgungsgründe (vgl. dazu Art. 10 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 – so genannte Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b AsylG) Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (§ 3a AsylG).
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Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377) liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
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Nach Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU ist hierbei die Tatsache, dass ein Betroffener bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Betreffenden vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betreffende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bedroht werden. Dadurch wird derjenige, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden. Hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften. Diese Beurteilung obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377 – juris Rn. 23).
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Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers (der Klägerin) fallenden Ereignissen, insbesondere seinen (ihren) persönlichen Erlebnissen, muss er (sie) eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger (oder eine Klägerin) hinsichtlich seiner (ihrer) eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
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Nach Überzeugung des Gerichts besteht für den Kläger aufgrund seines Vorfluchtschicksals und seiner persönlichen Situation sowie seiner exilpolitischen Aktivitäten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr in den Iran, weil aus der Sicht des iranischen Staates die Aktivitäten des Klägers als regimefeindlich angesehen wurden und auch noch werden. Der Kläger gilt selbst als Regimegegner. Der iranische Staat hat bezogen auf den Kläger schon in der Vergangenheit sein Verfolgungsinteresse bekundet. Ins Gewicht fällt, dass der Kläger schon vor seiner Ausreise von einer Verfolgung unmittelbar bedroht war, sodass gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU die Vermutung dafürspricht, dass dem Kläger bei einer Rückkehr erneut Verfolgung droht, ohne dass stichhaltige Gründe dagegensprechen.
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Dem Kläger ist es gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen. Unter Zugrundelegung der glaubhaften Angaben des Klägers sowie seiner Ehefrau ist das Gericht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr politischer Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht. Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger und von seiner Ehefrau, davon überzeugt, dass das Vorbringen des Klägers sowohl zu seinem Vorfluchtschicksal im Zusammenhang mit der DPK-I (DPK-I) als Unterstützer im Iran und den daraus resultierenden staatlichen Repressionen als auch zu seinen exilpolitischen Aktivitäten glaubhaft ist. Für den Kläger spricht nicht nur der in sich stimmige Inhalt seiner Angaben, einschließlich der Erwähnung nebensächlicher Details, in der mündlichen Verhandlung, sondern – wie auch bei seiner Ehefrau – vor allem auch die dabei gebrauchte Wortwahl sowie die gezeigte Mimik und Gestik, auch verbunden mit einem Einblick in seine Gefühlslage und Gedankenwelt für die Glaubhaftigkeit seiner Angaben. Gerade diese Elemente bei der Aussage (Körpersprache, Gestik, Mimik usw.) sprechen gewichtig für die Ehrlichkeit des Klägers und seiner Ehefrau und für den wahren Inhalt ihrer Angaben. Das Vorbringen des Klägers war nicht nur in sich konsistent, sondern auch hinreichend detailliert. Er konnte auf Nachfrage auch Details ergänzen. Insgesamt bestätigt sich so der Eindruck, dass der Kläger von einem tatsächlich persönlich erlebten Schicksal berichtet hat.
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Nach der vorliegenden Erkenntnislage und der darauf fußenden Rechtsprechung ist beim Kläger wegen der von ihm vorgebrachten – vermeintlich bzw. tatsächlich – regimefeindlichen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erneut mit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran zu rechnen.
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Denn nach der Rechtsprechung ist allgemein mit politischer Verfolgung zu rechnen, wenn eine Person mit ihren oppositionellen und (exil-)politischen Aktivitäten derart nach außen in Erscheinung getreten ist, dass sie zum einen durch die iranischen Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als ernsthafte Regimegegnerin, welche auf die Verhältnisse im Iran einzuwirken vermag, identifiziert und qualifiziert worden ist, und dass zum anderen wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staats besteht (vgl. BayVGH, B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; B.v. 15.1.2013 – 14 ZB 12.30220 – juris Rn. 11 sowie VG Würzburg, U.v. 19.02.2024 – W 8 K 23.30832 – UA S. 14 ff.; U.v. 30.10.2023 – W 8 K 23.30338 – juris Rn 25. ff.; U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 – juris Rn. 29 ff.; U.v. 23.10.2023 – W 8 K 23.30233 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 ff; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 ff; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30631 – juris Rn. 25 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 33 ff.; U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff.; U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff.; VG Würzburg, U.v. 16.10.2017 – W 8 K 17.31567 – juris Rn. 23 und 35; U.v. 15.2.2017 – W 6 K 16.32201 – juris Rn. 31 und 42; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung). Dabei ist zu bedenken, dass der iranische Staat sowohl die Überwachung möglicher Regimekritiker verstärkt als auch seine Repressionen deutlich verschärft hat und nach der aktuellen Erkenntnislage im Einzelfall auch Personen gefährdet sein können, die nicht exilpolitisch herausgehoben aktiv waren.
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Nicht nur exponierten Oppositionellen droht bei einer Rückkehr Verfolgung, sondern gerade auch aus dem Ausland, explizit auch aus Deutschland, kommende Iraner müssen damit rechnen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt zu werden. Dies gilt erst recht für Personen, die sich während des Auslandsaufenthalts öffentlich regime- oder islamkritisch geäußert haben. Dabei ist zu bedenken, dass es den iranischen Behörden nach den vorliegenden Erkenntnissen gelungen ist, die oppositionellen Gruppierungen zu unterwandern, und dass sich zudem Exil-Iraner und Exil-Iranerinnen auch gegenseitig verraten (vgl. im Einzelnen auch VG Würzburg, U.v. 19.2.2024 – W 8 K 23.30832 – UA S. 14 f.; U.v. 30.10.2023 – W 8 K 23.30338 – juris Rn. 26. f.; U.v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30707 – juris Rn. 29 f.; U. v. 20.03.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 28 f.; U.v. 19.12.2022 – W 8 K 22.30531 – juris Rn. 25; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 22.30541 – juris Rn. 26 ff.; U.v. 7.11.2022 – W 8 K 21.30749 – juris Rn. 32 ff. sowie VG Aachen, U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff., 59).
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Die vorstehend skizzierte Gefährdungslage gilt gerade bei Kurden, zumal wenn sie – wie hier – insbesondere in den Augen des iranischen Staates mit exilpolitischen Parteien bzw. Organisationen oder deren Medien in Verbindung stehen (vgl. jeweils Nachweise zur Erkenntnislage und zur Rechtsprechung ausführlich VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 24 ff., 39 sowie VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris Rn. 66 ff., auch zu älteren Erkenntnisquellen). Im Einzelfall müssen auch nicht radikale bzw. nicht exponierte Mitglieder kurdischer Oppositionsparteien im Iran flüchtlingsrelevant mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen; für diese kann der Grad der Gefährdung höher sein als womöglich bei anderen Oppositionellen (vgl. VG Würzburg, U.v. 3.6.2022 – W 8 K 22.30034 – juris Rn. 39; vgl. auch BayVGH, B.v. 30.3.2023 – 14 ZB 23.30070 – juris Rn. 12 mit Blick auf OVG MV, B.v. 7.9.2022 – 4 LZ 235/22 OVG – unveröff., offengelassen; siehe zu Volksmujahedin/MEK etwa VG Köln, U.v. 24.7.2023 – 12 K 3711/20.A – juris Rn. 33 ff.; VG Karlsruhe, U.v. 15.5.2023 – A 19 K 10655/18 – juris Rn. 72 ff.; VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2177/20.A – juris Rn 42 ff.). Aus der Rechtsprechung des VG Würzburg zur AKPI (siehe VG Würzburg, U.v. 31.1.2022 – W 8 K 21.31264 – juris) folgt nichts anderes, weil letztlich auf den Einzelfall abzustellen ist (vgl. etwa auch VG Köln, U.v. 24.7.2023 – 12 K 3711/20.A – juris Rn. 33 und 37; VG Braunschweig, U.v. 05.06.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff.; VG Saarland, U.v. 28.7.2022 – juris Rn. 31 ff. zur Komalah; VG Berlin, U.v. 14.7.2022 – 3 K 427.19 A – juris Rn. 11 f. zur DPKI; VG Bayreuth, U.v. 13.7.2022 – B 2 K 20.30315, 7993388 – juris, UA S. 12 f. zur DPKI).
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In einer aktuellen Information berichtet das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich wie folgt über kurdische separatistische Gruppierungen einschließlich der ausdrücklich genannten DKP-I (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Iran, vom 26.1.2024, S. 21 ff.). Da kurdische Oppositionsparteien im Iran illegal sind, behandelt die iranische Regierung deren Mitglieder und diejenigen, die sie tatsächlich oder aus der Sicht der Regierung unterstützen, einerseits härter als zivile Aktivisten in der kurdischen Region. Andererseits sieht die iranische Regierung grundsätzlich jede Art von politischen oder zivilem Aktivismus als potentielle Bedrohung an, so dass auch diese Aktivisten Gefahr laufen, verfolgt zu werden. Auch einfache Tätigkeiten wie die Teilnahme an Protestmärschen oder Generalstreiks können zu Beschuldigungen führen, mit Oppositionsparteien zu kooperieren. Dabei wird nicht zwischen Parteimitgliedern und Unterstützern unterschieden und auch nicht zu unabhängigen Aktivisten. Die Verfolgung von Personen ist willkürlich und variiert von Fall zu Fall. Verurteilungen von Kurden erfolgen häufig im Zusammenhang mit Terrorvorwürfen und auch das Strafmaß ist oftmals unverhältnismäßig hoch. Aktivitäten erfolgen dort unter Geheimhaltung. Gleichzeitig werden aber auch andere Organisationen unterstützt. Die kurdischen politischen Parteien führen Propagandaaktivitäten durch, um ein Bewusstsein für die Politik der iranischen Regierung zu schaffen und den Menschen zu ermutigen, durch verschiedene friedliche und lösungsorientierte Maßnahmen wie Demonstrationen, Generalstreiks und symbolische Handlungen, wie das Tragen kurdischer Kleidung zu besonderen Anlässen, gegen die Regierung zu protestieren. Der iranische Geheimdienst ist mit einem Netzwerk von Informanten verbunden, die die Aktivitäten der iranischen kurdischen Parteien gerade in der KRI (KRI) verfolgen und darüber berichten. Die Geheimdienste haben wahrscheinlich einen gewissen Überblick über die Mitglieder und Aktivitäten der Partei. Die Mitglieder der Parteien werden vom iranischen Geheimdienst kontaktiert und Drohungen und Druck ausgesetzt. Auch die Familien der Mitglieder im Iran werden häufig kontaktiert, um die den Parteien angehörenden Familienmitglieder zu überreden. Je höher die Position eines Parteimitglieds ist, desto größer ist der Druck auf die Familie im Iran. Als im September 2022 Proteste im Iran ausbrachen, konzentrierte sich die staatliche Propaganda darauf, die Demonstrationen, die zunächst in den kurdischen Gebieten Iraks ausbrachen, als Komplott der kurdischen Oppositionspartei in Exil jenseits der Grenze darzustellen. Die iranische Regierung hat Militärkräfte in die kurdischen Gebiete entsandt und mehrfach Stellungen der iranisch-kurdischen Oppositionsgruppen in der KRI mit Drohnen und Raketen angegriffen. Außerdem wurden Attentate auf iranisch-kurdische Oppositionelle in der Region Kurdistan verübt. Die Bedeutung der kurdisch-iranischen Oppositionsgruppen in der KRI wird dabei seitens des iranische Regimes übertrieben, vor allem, um das ungesetzliche gewaltsame Vorgehen gegen die Protestbewegung im eigenen Land zu rechtfertigen. Die exilpolitischen Organisationen einschließlich der DKP-I gründeten ein Kooperationszentrum, das von Anfang an, an der Bewegung gegen das iranische Regime beteiligt war und zu Streiks und Demonstrationen aufgerufen hat.
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Weiter führt das BFA (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran, vom 26.1.2024, S. 177 f.) bezogen auf die Rückkehr aus der KRI (KRI) aus, dass eine Person, die aus Europa in den Iran zurückkehrt, von der Behörden stärker verdächtigt wird, als jemand, der aus der KRI zurückkehrt. Für Rückkehrer ausgestellte Sicherheitsbriefe sind teilweise nicht eingehalten worden, insbesondere in dem Fall, in dem die betroffene Person des politischen Aktivismus beschuldigt wurde oder Mitglied einer kurdischen Partei war. In einigen Fällen wurden Personen vorgeladen, in anderen wurden die Rückkehrer verhaftet und über einen längeren Zeitraum inhaftiert. Eine ähnliche Ungewissheit gilt auch für andere Rückkehrer, denen eine Zusammenarbeit mit der kurdischen Opposition nachgesagt wird (vgl. auch SFH, Factsheet Iran, Stand: Januar 2024, S. 1).
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Die (Verfolgungs-)Situation im Iran stellt sich im Übrigen nach den vorliegenden Erkenntnissen wie folgt dar.
26
Im Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30. November 2022 (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022) ist ausgeführt, dass die aktuelle iranische Regierung innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist und daher auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet ist. Jegliche Formen von Dissens werden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrückt. Teile der iranischen Bevölkerung sind aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übt oder sich für die Menschenrechte organisiert, setzt sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus (S. 4). Gegen Regimekritiker und Aktivisten wird unerbittlich vorgegangen. Es kommt regelmäßig zu „ungeklärten“ Todesfällen in Gefängnissen. Die Zahl der Todesurteile und Hinrichtungen steigt (S. 5). Je gefährlicher Proteste in ihrer Größe, Sichtbarkeit, Dauer oder Grad ihrer Politisierung für die Regierung werden, desto härter gehen die Sicherheitskräfte dagegen vor. Tote und verletzte Demonstrierende werden zur Abschreckung sogar gezielt verursacht, zumindest in Kauf genommen. Demonstrierende werden als von außen (neuerdings auch Deutschland) gezielt instrumentalisierte Aufrührer und bedrohliche Straftäter dargestellt, um die Gewalt zu rechtfertigen. Seit dem Tod einer 22-jährigen kurdischen Iranerin (M. „D.“ A.*) am 16. September 2022 kommt es zu anhaltenden landesweiten Protesten. Bisher sind nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen über 50 Minderjährige im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden. Personen, die in den sozialen Medien aktiv waren und über Kontakte zum Ausland verfügen, unterliegen daher vermutlich einer besonderen Gefahr der Strafverfolgung (S. 6). Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder islamische Grundsätze in Frage stellen. Dabei sind Gruppierungen, die die Interessen religiöser oder ethnischer Minderheiten vertreten, besonders stark im Fokus und sind stärkerer Repression ausgesetzt. Als Rechtsgrundlage dienen weitgefasste Straftatbestände. Personen, deren öffentliche Kritik sich gegen das System der islamischen Republik Iran als solches richtet und die zugleich intensive Auslandskontakte unterhalten, können der Spionage beschuldigt werden. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (S. 9 f.). Von Seiten des iranischen Regimes werden vor allem „ausländische Medien“ beschuldigt, die Proteste initiiert zu haben und zu lenken. Das Internet wird stark eingeschränkt. Darüber hinaus wird der Internetverlauf „gefiltert“ bzw. mitgelesen. Jede Person, die sich regimekritisch im Internet äußert, läuft Gefahr, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, einen „Cyber-Krieg“ gegen das Land führen zu wollen und Proteste anzustacheln (S. 11 f.). Das Regime verfolgt (vermeintlich und tatsächlich) militante separatistische Gruppierungen (vor allem die kurdisch-marxistischen Komalah-Partei sowie die DPIK usw.) (S. 14). Muslimen ist es verboten zu konvertieren und auch an Gottesdiensten anderer Religionen teilzunehmen. Die Konversion sowie Missionstätigkeiten unter Muslimen wird strafrechtlich verfolgt. Muslimische Konvertiten und Mitglieder protestantischer Kirchen sind willkürlichen Verhaftungen und Schikanen ausgesetzt (S. 15 f.). Fälle von Sippenhaft existieren, meist in politischen Fällen; üblicher ist jedoch, dass Familienmitglieder unter Druck gesetzt werden, um im Sinne einer Unterlassung politischer Aktivitäten auf die Angeklagten einzuwirken (S. 17). Die exilpolitische Gruppe M.-e Kh. (MEK/MKO) wird als Terrororganisation eingestuft und gilt als Staatsfeind. Mitglieder werden mit allen Mitteln bekämpft. Auch Aktivitäten kurdischer exilpolitischer Gruppen werden genau beobachtet und sanktioniert. Iraner, die im Ausland leben, sich dort öffentlich regimekritisch äußerten, sind von Repressionen bedroht, nicht nur, wenn sie in den Iran zurückkehren. Ihre im Iran lebenden Familien werden regelmäßig unter Druck gesetzt (S. 19). Auf eine Vielzahl von Verbrechen steht die Todesstrafe, wie auch die im November 2022 im Zusammenhang mit der angeblich gewaltsamen Teilnahme an Protesten verhängten Todesurteile erneut zeigen (S. 21). Hinweise auf extralegale Tötungen existieren, besonders im Rahmen von Folter in Gefängnissen. Glaubhafte Hinweise liegen vor, dass Sicherheitskräfte ab September 2022 gezielt auf Köpfe und lebenswichtigen Organe von Demonstrierenden schossen bzw. dass Personen durch sonstige rohe Gewaltanwendung bei den Protesten ums Leben kamen. Willkürliche Festnahmen, Haft und unverhältnismäßige Strafen sind in politischen Fällen üblich (S. 22). Allein der Umstand, dass eine Person in Deutschland einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr keine staatlichen Repressionen aus. Ausgenommen davon sind Personen, die seitens iranischer Sicherheitsbehörden als ernsthafte Regimegegner identifiziert werden und an denen ein Verfolgungsinteresse besteht. Die Auswirkungen der aktuellen Proteste und deren blutigen Niederschlagung auf Rückkehrende lässt sich im Augenblick nicht abschließend einschätzen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Bereits vor den aktuellen Protesten ist es in Einzelfällen zu einer Befragung durch die Sicherheitsbehörden über den Auslandsaufenthalt gekommen, deren Ausgang sich der Kenntnis des Auswärtigen Amtes entzieht. Insbesondere in Fällen, in denen der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. Bisher wurde kein Fall bekannt, in dem Zurückgeführte im Rahmen der Befragung psychisch oder physisch gefoltert worden sind. Der Chef der Judikativen hat explizit Exil-Iraner und Iranerinnen ermutigt, nach Iran zurückzukehren, und ihnen eine Rückkehr ohne Inhaftierung in Aussicht gestellt, sofern dies mit der iranischen Justiz koordiniert wird (S. 25).
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In einer neueren Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG Schleswig-Holstein (Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023) ist weiter ausgeführt, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass Rückkehrende verstärkt von den Sicherheitsbehörden überprüft werden. Die Behörden können erkennen, wann der Iran bei legaler Ausreise verlassen worden ist und wie lange der Auslandsaufenthalt gedauert hat und ob der Iran auf dem legalen Weg verlassen worden ist. Das Auswärtige Amt kann nicht ausschließen, dass sich die Befragungen angesichts der aktuellen Lage verstärkt auf Aktivitäten im Ausland beziehen, etwa auch auf die Teilnahme an Demonstrationen. Flächendeckende Befragungen zur politischen Überzeugung werden jedoch nicht durchgeführt. Ein längerer Auslandsaufenthalt führt allein zu keinen Repressionen. Repressionen dürften abhängig vom Einzelfall sein, insbesondere von der Einschätzung der iranischen Behörden über die jeweiligen Aktivitäten im Ausland. Eine Asylantragstellung im Ausland genügt nicht. Wenn der Iran illegal verlassen worden ist, muss mit einer Befragung gerechnet werden. In Betracht kommt auch eine Bestrafung wegen illegaler Ausreise. Erschwerend wirkt, wenn weitere Umstände hinzutreten, etwa wenn eine Person flüchtig und zuvor untergetaucht gewesen ist. Regimekritische Aktivitäten und Äußerungen im Ausland, unter anderem in den sozialen Medien, können nach Rückkehr in den Iran zur strafrechtlicher Verfolgung und Repressionen führen. Bei Kontrolle der Nichteinhaltung von Bekleidungsvorschriften kommt im Iran eine Gesichtserkennungstechnologie zum Einsatz. Auch Warn-SMS wurden schonverschickt, z. B. im Straßenverkehr, an Ladeninhaber oder bei Aufenthalt an bestimmten Orten. Das iranische Rechtssystem ist von Willkür geprägt. Es ist Teil der Repressionsstrategie des Regimes, Unsicherheit dadurch zu schaffen, dass es keine klaren Regeln oder rote Linien gibt. Die Bevölkerung lebt so immer in Ungewissheit, welche Verhaltensweisen gegebenenfalls als Vorwand für ein Gerichtsverfahren oder andere Formen der Bestrafung, wie beispielsweise Erziehungsseminare, Geldbußen, vorübergehende Autobeschlagnahmen, Ausreisesperren, Passentzug, Hausarrest, Sperrung von Konten, Drohung mit und gegebenenfalls auch Anwendung von sexualisierter Gewalt und Ähnlichem, genutzt werden. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass der iranische Staat seine Staatsangehörigen auch im Ausland überwacht und damit auch Informationen über eine Mitgliedschaft in christlichen Kirchen und Aktivitäten sammelt. Dem Auswärtigen Amt liegen widersprüchliche Aussagen dazu vor, ob allein das Bekanntwerden des formalen Glaubensübertritts genügt, um im Iran staatliche Repressionen zu erfahren. Die Verfolgung von Angehörigen anderer Religionsformen hat auch unter der Regierung des jetzigen Präsidenten noch einmal deutlich zugenommen. Regimekritische Äußerungen und Aktivitäten – auch außerhalb Irans – können, je nach Einzelfall, bei Rückkehr strafrechtliche Verfolgung und Repressionen nach sich ziehen. Die konkreten Repressionen hängen davon ab, wie das häufig willkürlich handelnde Regime die Aktivitäten und Äußerungen im Einzelfall bewertet. Dem Auswärtigen Amt sind Fälle bekannt, in denen Aktivitäten im Ausland zur Verhaftung und Anklage wegen unterschiedlicher Delikte geführt haben. Personen, die aus der Sicht des Regimes besonders gefährlich für das System erscheinen, beispielsweise durch große Sichtbarkeit ihrer kritischen Äußerungen oder aufgrund realer oder perzipierter Umsturzabsichten, können sogar im Ausland entführt und ermordet werden. Repressionsmaßnahmen hängen davon ab, wie das Regime die Äußerungen/Aktivitäten im Einzelfall einschätzt. Das Vorgehen der Behörden ist häufig willkürlich.
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Nach den aktuellen Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes für Iran, einschließlich Reisewarnung, droht selbst deutschen Staatsangehörigen bzw. Doppelstaatlern die konkrete Gefahr, willkürlich festgenommen, verhört und zu langen Haftstrafen verurteilt zu werden. In jüngster Zeit kam es zu einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen auch unbeteiligter ausländischer Staatsangehöriger. Selbst Personen, die in der Vergangenheit ohne Probleme ein- und ausreisen konnten, können bei einem erneuten Aufenthalt willkürlich aufgrund zeitlich weit zurückliegender oder neuer Tatvorwürfe festgenommen werden. Strafrechtliche Vorschriften sind häufig so vage formuliert, dass eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen erfasst werden kann, ohne dass dies dem Betroffenen vorher deutlich sein muss. Die Rechtsprechung ist mitunter eindeutig politisch motiviert. Aufgrund im Iran weit ausgelegter Begriffe, wie zum Beispiel „nationale Sicherheit“, „Spionage“, „Terrorismus“ oder so genannter „Korruption auf Erden“ können zum Beispiel bloße Äußerungen, das Teilen, Kommentieren oder Liken von Beiträgen in sozialen Medien, aber auch persönliche Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Notizen für eine Strafverfolgung ausreichen. Es kommt oft ohne nachvollziehbare Gründe zu Verhören und/oder Verhaftungen. Auch Familienangehörige von Inhaftierten werden regelmäßig unter Druck gesetzt. Auch in Deutschland getätigte Meinungsäußerungen und Handlungen können im Iran als regierungskritisch wahrgenommen werden und deshalb zu strafrechtlichen Konsequenzen führen. Gleiches gilt für regierungskritische Äußerungen im Internet bzw. das bloße Teilen oder Liken eines fremden Beitrags. Vor Reisen nach Iran wird gewarnt. Personen, die sich beabsichtigt oder zufällig am Umfeld von Demonstrationen aufhalten, droht die Festnahme und Verurteilung (Auswärtiges Amt, Iran: Reise- und Sicherheitshinweise, Reisewarnung, Stand: 19.2.2024, unverändert gültig ab 15.1.2024 sowie Stand: 25.3.2024, unverändert gültig ab 27.2.2024).
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Medienberichten ist zu entnehmen, dass seit Beginn der landesweiten Proteste ab September 2022 bis in den November hinein, schon allein nach offiziellen Angaben, mehr als tausend Personen angeklagt worden sind. Fast 15.000 Menschen sind festgenommen worden, denen schwere Strafen drohen, um einen abschreckenden Effekt zu erzielen. Bei den seit Mitte September anhaltenden Protesten sind mindestens 318 Menschen getötet worden, darunter 49 Minderjährige und 38 Einsatzkräfte. Mit scharfer Munition wird direkt in Menschenmengen geschossen, teilweise auch mit kleinen Metallgeschossen, die wie Schrot zersplittern. Ärzte, die Verletzte behandeln wollen, werden daran gehindert und sind selbst von Repressalien bedroht. Selbst wer nicht direkt an den Demonstrationen teilnimmt, sondern sich selbst nur solidarisch erklärt oder die Gewalt des Staates verurteilt, gerät ins Visier des Regimes. Mehr als 14.000 Personen sind festgenommen worden; nicht alle davon sind selbst auf der Straße gewesen. Verhaftete werden im Staatsfernsehen öffentlich vorgeführt und vorverurteilt. Verschiedene Vorwürfe, wie etwa Krieg gegen Gott oder Korruption auf Erden, werden erhoben, auf denen in der islamischen Republik Iran die Todesstrafe steht. Die iranische Justiz wirft den Demonstranten subversive Aktivitäten vor, wie Angriffe auf die Sicherheitskräfte oder öffentliche Gebäude (vgl. Zeit-Online, Bereits mindestens tausend iranische Demonstranten angeklagt, vom 8.11.2022; tagesschau.de, Droht Protestteilnehmern die Todesstr…, vom 7.11.2022; NZZ, Irans Regime droht seinen Gegnern mit der Todesstrafe, vom 3.11.2022; FAZ, 1.000 Demonstranten im Teheran angeklagt, vom 1.11.2022).
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Weiter bis in den Dezember 2022 hinein zogen sich Proteste durch das ganze Land und die gesamte iranische Bevölkerung. Es gab Kundgebungen in 160 Städten. Das iranische Regime machte – nicht zum ersten Mal – das Ausland verantwortlich. Die Regierung ging und geht mit großer Brutalität gegen die Muslimen vor. Es gibt viele Videos von Polizeigewalt und Repressionen. Immer wieder gehen auch Einsatzkräfte in zivil gegen Demonstrierende vor. Inzwischen soll es nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen rund 500 Tote geben, außerdem sollen mehr als 18.000 Menschen festgenommen worden sein. Auf Seiten der Einsatzkräfte des Regimes gab es demnach mehr als 60 Tote. Es gibt eine Reihe von Todesurteilen. Die ersten Verurteilten wurden hingerichtet, teilweise nach einem erzwungenen Geständnis, wobei das erpresste Geständnis seit vielen Jahren im Iran System hat. Auch auf Seiten der Demonstrierenden kommt es zu Gewalt bis hin zur Tötung von Einsatzkräften. Die iranische Regierung kennt ausdrücklich keine Gnade. Sie sieht Feinde des Iran und deren Verbündete im Inland hinter den Protesten. Als Feinde begreift die iranische Führung die USA und Israel aber auch Saudi-Arabien, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Der Revolutionsführer Al Chamenei hat entschieden, auf nackte Gewalt zu setzen. Die Staatskräfte sind angewiesen, mit Härte vorzugehen und auch den Tod von Protestierenden in Kauf zu nehmen. Die Gewalt wird wahllos eingesetzt. Selbst zufällige Passanten, Jugendliche und Kinder bleiben nicht verschont. Des Weiteren gibt es schwere Vorwürfe gegen Sicherheitskräfte im Iran, bewusst sexualisierte Gewalt gegen Demonstrantinnen einzusetzen bis hin zur Vergewaltigung. Inhaftierte berichten über lange Verhöre, Schläge, Schlafentzug und Drohungen, auch Familienangehörige festzunehmen. Geständnisse oder Reuebekenntnisse werden unter Folter erpresst und auf Video aufgenommen. Auch Augenzeugen und Familienangehörige werden drangsaliert. (vgl. etwa Deutschlandradio – Drei Monate Proteste im Iran, vom 17.12.2022; Die Zeit, Gehängt im Namen Gottes, vom 15.12.2022; FAZ, Iran warnt vor einem Bürgerkrieg, vom 18.11.2022 sowie Amnesty International, Journal, „Frau, Leben, Freiheit“, vom 7.12.2022; „Mullah muss weg“, vom 5.12.2022; „Mindestens 21 Menschen von Todesstrafe bedroht“ vom 18.11.2022; FR, Keine Gnade im Iran vom 28.12.2022; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie Demonstrantinnen? vom 25.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes, Zusammenfassung Iran – Juli bis Dezember 2022, vom 1.1.2023; Amnesty International, Report 2022, Länderbericht „Iran“, vom 28.3.2023).
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Die Protestaktionen und Repressionen gingen auch nach dem Jahreswechsel im Jahr 2023 weiter, auch wenn die Proteste zwischenzeitlich etwas abgenommen haben. Auf der Straße finden sich teilweise subtilere Formen, z.B. Anti-Regimeslogans, beschriftete Geldscheine, Slogans auf Wänden, übermalte Plakate, Rufe von Dächern und aus Fenstern. Immer mehr Frauen, gerade auch in T., legen öffentlich das Kopftuch ab. So drücken insbesondere viele Frauen inzwischen durch zivilen Ungehorsam ihren Unmut aus. Der iranische Staat geht mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vor. Weiterhin werden echte und vermeintliche Gegner verhaftet und misshandelt. Oppositionelle werden in unfairen Gerichtsverfahren zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Haftbedingungen wirken wie eine zusätzliche Bestrafung. Verhaftete kommen in Isolationshaft bzw. verschwinden direkt nach ihrer Festnahme. Oft beginnen unmittelbar nach der Inhaftierung meist Folter oder andere Misshandlungen um die Inhaftierten zu bestrafen, zu erniedrigen und zu Geständnissen zu zwingen. Schläge, auch mit einer Peitsche, und Aufhängen an den Gliedmaßen sind dabei die häufigsten Formen. Es werden auch Elektroschocks und Erstickungstechniken wie „waterboarding“ eingesetzt, ebenso sexualisierte Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen oder Scheinhinrichtungen angewendet. Hinzu kommen verschiedene Formen psychischer Folter. Man droht etwa, nahe Verwandte zu inhaftieren, zu foltern und zu töten. Gleichzeitig wird vor Ort medizinische Behandlung verweigert. Sicherheitsbehörden gehen gezielt gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor und setzen mit Gewalt die diskriminierende Kleiderordnung auch für Frauen durch. Das iranische Regime kennt keine Gnade. Es sieht ausländische Mächte hinter den Protesten und begreift neben der USA und Israel auch weitere Staate wie Deutschland als Feinde (vgl. etwa FR, Das Regime sitzt auf einem Pulverfass, vom 23.2.2023; NZZ, Die nächste Etappe der Proteste beginnt, vom 21.2.2023; NZZ, Proteste im Iran: In mehreren Iranischen Städten wird erneut demonstriert, vom 17.2.2023; taz, Drei Journalistinnen im Iran festgenommen vom 24.1.2023; SZ, Der Staat im Staate, vom 23.1.2023; Der Spiegel, Tödliches Patt, vom 21.1.2023; Amnesty Journal Iran, Doppelt bestraft, vom 20.1.2023; HRW World Report 2023, Iran, vom 12.1.2023; NZZ, Schwere Vorwürfe gegen Polizisten im Iran: Vergewaltigen sie die Demonstrantin…, vom 25.12.2022; FR, Keine Gnade im Iran, vom 28.12.2022 sowie Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 9.1.2023 bis 27.2.2023).
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Im Zeitraum von September 2022 bis Februar 2023 wurden über 500 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20 000 inhaftiert. Festgenommene berichten von Folter. Bis Januar wurden 18 Personen zum Tode verurteilt. Vier Todesurteile wurden vollstreckt (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden, vom 23.2.2023).
33
Die Protestkundgebungen haben sich auch anlässlich des internationalen Frauentages (8.3.2023) sowie in der Folgezeit fortgesetzt, die sich insbesondere auch gegen die Kopftuchpflicht und für die Freiheit und Gleichheit gerichtet haben. Auch im Zusammenhang mit den aufgetretenen Giftanschlägen gegen Schülerinnen und der deshalb erfolgten Proteste haben die iranischen Behörden den Vorwurf geäußert, dass die jüngsten Ausschreitungen durch Personen erfolgten, die mit ausländischen Medien kooperierten. Zahlreiche Schülerinnen hatten sich an den Demonstrationen nach dem Tod von M. J. A., einer Kurdin, beteiligt und verstoßen weiterhin gegen das Kopftuchgebot. Der islamische Staat mit seinem riesigen Sicherheitsapparat verfügt über ein dichtes Netzwerk von Überwachungskameras im ganzen Land und ist so fähig zu einer engmaschigen Bespitzelung. Es geht dabei im Iran nicht nur um das Kopftuch, sondern um die systematische Unterdrückung von Frauen. Weiße Foltermethoden werden eingesetzt; „weiße Folter“, also „saubere“ Methoden, weil die Methoden vorrangig die Psyche einer Person zermürben und keine physischen Spuren hinterlassen. Zudem sind unter den Protestierenden sehr viele Kurden, sodass die iranische Regierung umso mehr mit exzessiver Gewalt gegen diese vorgeht, zumal auch des Slogan „J. J. Az.“ – Frau L. F. – aus dem Kurdischen kommt. Die Brutalität des iranischen Staates in seiner ganzen Bandbreite trifft selbst Kinder und Jugendliche (FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty Journal, Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 13.3.2023 und 20.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; FR, Mit Giftgas gegen die Jugend vom 13.3.2023; FZ, Mädchen vergiftet und der Staat schaut zu, vom 11.3.2023; taz, Es geht um so viel mehr als das Kopftuch, vom 7.3.2023).
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In der Folgezeit kam es zu weiteren regimefeindlichen Protesten und auch entsprechenden Repressionen des islamischen Staates, etwa zum Neujahrsfest Mitte März 2023. Auch Minderjährige waren physischer, psychischer und selbst auch sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Unter den Aufständischen im Iran sind sehr viele Kurden und Kurdinnen. Deshalb gehen die Sicherheitskräfte – besonders in kurdischen Gebieten – hart gegen Protestierende vor und wenden exzessive Gewalt an. Auch weitere Foltermethoden werden angesetzt, bei denen es vorrangig darum geht, die Psyche einer Person zu zermürben, ohne dass diese Methoden physische Spuren hinterlassen. Ankündigungen zur Abschaffung der Sittenpolizei haben sich als falsch erwiesen. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften für Frauen werden auf verschiedene Weise geahndet, etwa Ermahnung und Schläge, Teilnahme an Moralunterricht und Geldstrafen bis zur Inhaftierung und Strafverfahren, auch sexualisierte Gewalt gegenüber Gefangenen. Wenn auch im geringen Umfang sind immer noch Demonstranten auf den Straßen Irans zu sehen; ebenso Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften. In sozialen Netzwerken sind die Protestaktivitäten allgegenwärtig. Verstöße gegen Bekleidungsvorschriften werden wieder strenger kontrolliert. Die iranischen Behörden verstärken die Unterdrückung von Frauen und Mädchen, die sich dem Kopftuchzwang widersetzen. Behörden verbannen Frauen ohne Kopftücher aus Hochschulen, öffentlichen Verkehrsmitteln, verwehren ihnen den Zugang zu Finanzdienstleistungen und schließen Unternehmen, die die Kopftuchpflicht nicht umsetzen. Durch Massenüberwachungstechnologien werden unverschleierte Frauen in ihren Autos und in Fußgängerzonen identifiziert. Im April 2023 wurden etwa mehr als eine Million Frauen, die ohne Kopftuch am Steuer gefilmt worden sind, per Textnachrichten davor gewarnt, dass ihre Fahrzeuge beschlagnahmt würden. Frauen wurden von Universitäten suspendiert oder von Abschlussprüfungen ausgeschlossen. Ein neues geplantes Gesetz sieht härtere Haftstrafen vor. Hinzu können Ausreiseverbote, Beschlagnahme von Pässen, Entzug von Bürgerrechten kommen. Gerade im Zusammenhang mit dem Jahrestag des Todes von M. A. im September 2023 kommt es verstärkt zu Verhaftungen und repressiven Maßnahmen. Familien Getöteter werden schikaniert, etwa willkürlich festgenommen, inhaftiert, Grabsteine zerstört. Die Straßenproteste im Iran haben zwar mittlerweile nachgelassen, jedoch ist die Opposition gleichwohl noch aktiv, etwa in den sozialen Medien. Zudem gehört ziviler Ungehorsam, Missachtung der Gesetze zum Alltag, ebenso die Repressionen der Behörden. Am 20. September 2023 ist ein Gesetzentwurf zu Hidschab- und Keuschheitsregeln mehrheitlich vom Parlament angenommen worden. Das Parlament ist seitens des Wächterrats, der das Gesetz ratifizieren muss, zur Nachbesserung aufgefordert worden. Der Gesetzentwurf sieht erweiterte Strafen bei Verstößen gegen islamische Vorschriften vor, die von zwischenzeitlichen Festnahmen über Geldstrafen und den Entzug von Bürgerrechten bis hin zu Haftstrafen reichen können. Als Verstoß gelten demnach die Verbreitung und die Förderung von Nacktheit, Unsittlichkeit, Hidschabab-Verletzungen oder unangemessene Kleidung in der Öffentlichkeit, in sozialen oder in ausländischen Medien. Zudem soll eine umfassende Geschlechtertrennung durchgesetzt werden. Eine Erweiterung der Zuständigkeit von Sicherheitsbehörden für die Überwachung und Durchsetzung der Kleiderordnung ist ebenfalls vorgesehen. Im Übrigen hat Iran auch zuletzt wieder seine Repressionen verschärft und nutzt gerade auch den Krieg im Gaza-Streifen, um im eigenen Land hart durchzugreifen. Die staatliche Repressionswelle nach dem Tod hält bis heute an. Es gab im Jahr 2023 mehr als 800 Hinrichtungen, um gerade auch den Frauen, die ihr Kopftuch abnahmen, und ihren Unterstützern Angst zu machen. Bei der Niederschlagung der Proteste wurden, unabhängig von den Hinrichtungen mehr als 500 Menschen getötet (vgl. im Einzelnen die im Regelfall wöchentlich erscheinenden Briefing Notes des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27.3.2023 bis zum 18.12.2024 sowie etwa taz, Der Nutznießer des Krieges sitzt im Iran, vom 25.10.2023; NZZ, Iran verschärft die Repression, vom 25.10.2023; Amnesty International, Journal, Iran, Viel Glut unter der Asche, vom 4.9.2023; Amnesty International, Aktuell, Iran: Familien der Getöteten müssen am Jahrestag der Proteste in Frieden trauern dürfen, vom 21.8.2023; Amnesty International, Iran: Zunehmende Unterdrückung von Frauen und Mädchen durch Sittenpolizei und Massenüberwachung vom 26.7.2023; NZZ, Was als Protest gegen den Tod einer jungen Iranerin begann, ist zur dauerhaften Herausforderung für das Regime geworden, vom 11.6.2023; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Zum Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der islamischen Republik, Entscheiderbrief 5/2023 S. 4 ff.; Amnesty International, Auskunft an das OVG SH vom 20.4.2023; FR, Eine Tochter kämpft für ihre Mutter, vom 28.3.2023; Amnesty International, Journal Iran, Widerstand aus Tradition, vom 22.3.2023; Der Spiegel, Folter von Minderjährigen, vom 18.3.2023; vgl. zum Ganzen auch BFA, Bundesamt für Fremdenwesen der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023 und vom 26.1.2024; HRW, Bericht Iran, Ereignisse des Jahres 2023, vom 11.1.2024, SFH, Factsheet Iran, Stand: Januar 2024, S. 1; UN-Menschenrechtsrat, Ermittlungskommission, PM vom 8.3.2024).
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Auch im Jahr 2024 werden Strafverfahren eingeleitet und Strafen verhängt, wenn Personen ohne die obligatorische Verschleierung auftreten, an Protesten teilnehmen oder über Frauen berichten. Des Weiteren ist anzumerken, dass aktuell, seit Beginn des Jahres 2024 ca. 95 Todesurteile in iranischen Gefängnissen vollstreckt worden sein sollen. Am 29. Januar 2024 trafen die vollstreckten Urteile gerade vier kurdische Gefangene. Nach weiteren Angaben sollen im Jahr 2023 zwischen 791 oder 834 Todesurteile vollstreckt worden sein, davon 39 wegen politischer Straftaten und an sechs Teilnehmern der „Frau L. F.“-Proteste. Die Hinrichtungen dienen der Einschüchterung, um eine Klima der Angst zu verbreiten. Die iranische Propaganda lenkt zudem mit Hinweis auf die Ereignisse in Israel und im Zusammenhang mit den Palästinensern von den eigenen Repressionen ab (vgl. NZZ, Keine Atempause im Iran: Die Welle der Hinrichtungen hält ungebrochen an, vom 18.3.2024; taz, Haft und Peitschenhiebe, vom 19.2.2024; Iranische Ablenkungsmanöver, vom 12.2.2024; In den Iran darf wieder abgeschoben werden, vom 3.1.2024; BAMF, Briefing Notes, wöchentlich ab 8.1.2024 bis 25.3.2024, insbesondere vom 11. bis 25.3.2024 sowie vom 5.2.2024 und 29.1.2024).
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Darüber hinaus erfolgen gegen Kinder von regierungskritischen Eltern in unterschiedlichen Ausmaß diverse Repressionen, von Benachteiligungen über Bedrohungen bis hin zu Inhaftierungen und Verhaftungen. Bedrohungen von Familien sind für die Regimebehörden ein Mittel, um die extraterritoriale Repression zu verschärfen. Diese Art der stellvertretenden Bestrafungen wird in erster Linie eingesetzt, um öffentliche und publikumswirksame Aktivitäten der regierungskritischen Betroffenen im Ausland einzuschränken und zu bestrafen. Familien ins Visier zu nehmen, ist dabei eines der wirksamsten Mittel, um Dissidenten im Ausland einzuschränken und zum Schweigen zu bringen (SFH, Iran: Kinder von regierungskritischen Eltern, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, 6.11.2023, S. 7 ff.).
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Hinzu kommt des Weiteren, dass die iranische Regierung seit Jahren die sozialen Medien überwacht, um Regimegegner zu identifizieren. Die sozialen Medien sind ein wichtiger Bestandteil in der Protestbewegung. Die iranische Regierung geht auch anlässlich der Proteste in den sozialen Medien gegen aktive Aktivisten und Aktivistinnen vor. Abseits der Überwachung von Inhalten in den sozialen Medien reagieren die iranischen Behörden auf die Proteste unter anderem mit einer Drosselung der Internetgeschwindigkeit. Es wird vermutet, dass die Behörden ein Computersystem verwenden, das hinter den Kulissen der iranischen Mobilfunknetze arbeitet und den Betreibern eine breite Palette von Fernbefehlen zur Verfügung stellt, mit denen sie die Nutzung der Telefone ihrer Kunden verhindern, stören und überwachen können, wie z.B. die Datenverbindungen verlangsamen, die Verschlüsselung von Telefongesprächen hacken, die Bewegungen von Einzelpersonen oder Gruppen verfolgen und detaillierte Zusammenfassungen von Metadaten darüber erstellen, wer mit wem, wann und wo gesprochen hat. Die iranischen Behörden sind dabei in der Lage, sich auch ohne physischen Zugriff auf Geräte in Smartphones zu hacken und private Kommunikationen wie auch Kommunikationspartner in den sozialen Medien zu überwachen. Aber auch Iraner und Iranerinnen, die im Ausland leben und sich dort öffentliche regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht. Es ist bekannt, dass Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums in Europa präsent sind und die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung halten. Iranische Agenten agieren teilweise aus den jeweiligen Botschaften heraus. Auch die gerade in Europa lebenden Iraner werden unter genauer Beobachtung gehalten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran vom 13.4.2023, S. 12, 33, 49 f.; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation, Iran, Ahwazi-Aktivisten und -organisationen, Behandlung durch iranische Behörden, vom 10.3.2023, S. 24 f.; Kurzinformation der Staatendokumentation, Iran, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden, vom 23.2.2023, S. 2 f.; vgl. auch schon Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 23.5.2022; Accord, Anfragebeantwortung zum Iran, Überwachung von Aktivitäten im Ausland, exilpolitische Aktivitäten, Konversion, vom 5.7.2019).
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Denn da ein erheblicher Anteil regimekritischer Debatten im virtuellen Raum und über die sozialen Medien stattfindet, überwacht das iranische Regime entsprechend das Internet und den mobilen D.weg. Netzaktivitäten besonders engagierter Personen, die Einfluss auf die öffentliche Meinung ausüben können, können in den Blickfang staatlicher Kontrollen geraten. Staatliche Maßnahmen werden seit Jahren vorangetrieben, um regimefeindliche Aktivitäten zu identifizieren und gegen diese vorzugehen. Da das Hauptaugenmerk des Sicherheitsapparates auf dem Schutz des islamischen Regimes liegt, sollen jegliche Aktivitäten identifiziert werden, die dessen Kontrolle und Autorität gefährden und untergraben können. Im Fokus der Überwachung können Online- und Social-Media-Aktivitäten von Personen, Gruppen und Medien stehen, die das politische und religiöse Gefüge anfeinden und in Frage stellen. Besonders gefährdet sind insbesondere diejenigen mit einer hohen Reichweite und Vernetzung (etwa auch aufgrund ihrer Profession, Kontakte, Bekanntheit) sowie mit entsprechend anzunehmendem Einfluss auf die Öffentlichkeit, darunter auch Iranerinnen und Iraner im Ausland (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Informationszentrum Asyl und Migration, Länderanalysen Kurzinformation Iran, Netzaktivitäten – Netzüberwachung, Juli 2023).
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Die dargelegte Situation hat erhebliche Auswirkung auf die Beurteilung der Gefährdung von Rückkehrern in den Iran.
40
Das BFA (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation, Iran, vom 26.1.2024, S. 172 ff.) führt dazu unter Heranziehung diverser Quellen aktuell aus: Gerade die Protestwelle ab September 2022 hat Auswirkungen auf Exil-Iraner und die Behandlung von Aktivisten bei einer Rückkehr. Die Bekämpfung oppositioneller Gruppierungen und Einzelpersonen stellt im Inland wie auch bei im europäischen Ausland den Schwerpunkt iranischer nachrichtendienstlicher Aktivitäten dar. Die Aktivitäten umfassen dabei unter anderem Ermordungen, Entführungen, Einschüchterungen im digitalen Raum und den Einsatz von Spürnasen-Software. Die iranischen Nachrichtendienste bemühen sich aktiv um die Anwerbung von Informanten innerhalb der Oppositionsgruppen. Dabei ist es den Behörden gelungen diese Oppositionsgruppen auch im Exil zu unterwandern. Auch Auslandsstudenten und -studentinnen, die versuchen ein Bleiberecht im Ausland zu erhalten, in dem sie zum Christentum konvertieren oder sich Oppositionsgruppen anschließen, machen sich dadurch verwundbar und werden entsprechend von den iranischen Behörden unter Druck gesetzt, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Für politisch aktive Personen besteht bei einer Rückkehr ein größeres Risiko. Personen, die politisch sehr aktiv oder bekannt sind, können nicht in den Iran zurückkehren. Einfache Bürger haben möglicherweise keine Probleme. Dies ist alles sehr einzelfallabhängig. Personen, die im Ausland aktiv waren und anonym geblieben sind, können zurückkehren. Auch Bildmaterial von Demonstrationsteilnehmern wird gesammelt, wobei lediglich die Teilnahme an Demonstrationen im Ausland für sich nicht als hochrangiges Ziel betrachtet wird. Organisatoren von Protesten werden jedoch auf Probleme stoßen. Die iranische Diaspora im Ausland wird seit Ausbruch Mitte September 2022 deutlicher und offener bewacht. Die iranischen Behörden verwenden nach eigenen Angaben auch Gesichtserkennungstechnologie. Auch die Online-Überwachung hat sich seit September 2022 verstärkt. Die Behörden überwachen Aktivisten im Exil, haben aber nicht die Kapazitäten, alle von ihnen zu überwachen. Sie setzen Prioritäten. Gefahrerhöhend ist der Einfluss, den eine Person hat, ob diese für das Regime Priorität hat. Ausschlaggebend sind dabei zwei Faktoren, zum einen der Zugang zu öffentlicher Aufmerksamkeit und Verbindungen zum Heimatland. Als einflussreich gilt beispielsweise, wer in Fernsehsendern wie Iran International oder Voice of America (VoA) zu sehen ist. Die Anzahl der Follower kann ein Richtwert sein. Im Zentrum steht aber die Frage, ob es einer Person gelingt, mit ihren Beiträgen den Kurs mitzuprägen. Vor allem haben es iranische Behörden bei der Überwachung auf Führungspersönlichkeiten und Organisatoren abgesehen. Auch wenn es keine klaren Kriterien gibt, laufen Familienmitglieder von politischen Aktivisten und Aktivistinnen wie auch von Mitgliedern kurdischer Oppositionsparteien mit Stützpunkt im Nordirak Gefahr, von den Behörden ins Visier genommen zu werden. Probleme entstehen auch, wenn Personen aus ihrem Umfeld den Behörden gemeldet werden.
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Bei einer Rückreise ist es – nach weiteren Erkenntnisquellen – praktisch unmöglich den Sicherheitsverfahren am internationalen Flughafen in T. zu entgehen. Es gibt Beobachtungs- und Überwachungslisten. Wer mit Laissez-Passer und unter Zwang zurückkehrt, muss damit rechnen, am Flughafen verhört zu werden. Mobiltelefone und Konten in sozialen Medien können überprüft werden. Auch freiwillig mit gültigen Pässen Zurückkehrende können ähnlichen Kontrollen und Reaktionen ausgesetzt sein. Repressalien, gerade gegen Teilnehmer an Demonstrationen im Ausland, können nicht ausgeschlossen werden. Ein langer Auslandsaufenthalt erhöht das Risiko einer Befragung bei der Rückkehr. Auch soziale Medien und die Kommunikation und Mails werden überwacht und überprüft. Regierungskritische Mitglieder der iranischen Diaspora in Deutschland werden identifiziert und müssen bei einer Rückkehr mit erheblichen Konsequenzen rechnen. Es ist davon auszugehen, dass die iranischen Sicherheitsbehörden Informationen über Teilnehmer an Demonstrationen im Ausland abrufen können, ebenso auch Informationen über Aktivitäten in sozialen Medien. Ein Iraner oder eine Iranerin, die im Ausland an Straßenprotesten teilgenommen hat, wird nicht unbedingt sofort verhaftet, aber die Reaktion wird dann davon abhängen, wer die rückkehrende Person ist und was sie getan hat. Organisierende von Protesten werden auf Probleme stoßen. Im Iran bestehen strenge Gesetze und Vorschriften über politische und soziale Aktivitäten, einschließlich kritischer Äußerungen in sozialen Medien und der Teilnahme an Demonstrationen, insbesondere, wenn diese regierungskritisch sind. Teilweise sind harte Strafen möglich. Die Konsequenzen können nach den persönlichen individuellen Umständen variieren. Zusätzliche Risikofaktoren sind Netzwerke, die in den Iran hineinwirken und Wirksamkeit beim iranischen Publikum auslösen. Gefahrerhöhend sind auch Äußerungen in persischer Sprache sowie öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Angehörige von Minderheiten, bei denen der Vorwurf im Raum steht, dass sie Separatismus unterstützen, sind ebenfalls erhöht gefährdet, etwa auch kurdischen Minderheiten. Da viele bei ihren Aktivitäten im Ausland ihre Identität nicht verbergen, ist ihre Identifikation einfach. Der iranische Geheimdienst hat ein Interesse daran die Teilnehmenden der großen Solidaritätsdemonstrationen in B. zu identifizieren. Dabei hilft ihm, dass sich die Beteiligten gegenseitig fotografieren und die Bilder im sozialen Netzwerk verbreiten. Er überwacht die sozialen Medien. Der Gefahr von Cyber-Attacken ausgesetzt sind insbesondere Aktivisten mit hohem Profil. Auch die Reichweite des Betreffenden ist relevant und die Frage, ob diese Person einen Trend oder eine Debatte auslösen kann. Neben der Reichweite und der Anführung einer Gruppe kann auch die Verbindung oder die Kommunikation zu einer Gruppe ein Faktor sein. Rote Linien der Inhalte können sich jederzeit ändern. Die willkürliche Machtausübung ist ein inhärentes Merkmal der autoritären Herrschaft und fördert Angst und Selbstzensur. Die Quantität der Kritik ist weniger relevant als der Einfluss der betroffenen Person. Iranische Behörden gehen zum Teil unvorhersehbar vor. Auch eine unbekannte Person kann nach der Rückkehr verhaftet werden. Das Vorgehen ist gerade nicht logisch. Informanten im Ausland würden teilweise freiwillig, teilweise aber unter Zwang rekrutiert. Die Überwachung wurde seit Ausbruch der Proteste im Jahr 2022 deutlicher, offener und intensiver. Ort, Größe und Aufmerksamkeit einer Demonstration können eine Rolle spielen. Demonstrierende werden auch von Geheimdienstmitarbeitern gefilmt und fotografiert (vgl. ausführlich SFH, Iran: Konsequenzen regierungskritische Aktivitäten im Ausland bei der Rückkehr, 26.11.2023; Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023; Überwachung der Diaspora, 24.11.2023; Überwachung von Demonstrationen im Ausland, 24.11.2023; vgl. auch Auswärtiges Auskunft, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023; Bundesministerium des Innern und für Heimat, Verfassungsschutzbericht 2022, S. 296 und 314).
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Nach dieser Erkenntnislage wirken die landesweiten Unruhen, Proteste und sonstigen Aktivitäten im Iran seit September 2022 sowie die repressiven Gegenmaßnahmen durch den iranischen Staat bei einer Rückkehr aus dem (westlichen) Ausland in den Iran gefahrerhöhend jedenfalls, wenn die asylsuchende Person schon zuvor wegen ihres Vorfluchtverhaltens und/oder wegen ihres Verhaltens im Ausland im Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden stand und steht.
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Gleichwohl ist nach der Erkenntnislage gesamtbetrachtend nicht davon auszugehen, dass jeder Iraner bzw. jede Iranerin, die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen. Konkret bleibt weiter, im Einzelfall zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner Aktivitäten im Iran bzw. seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner erkannt und identifiziert wird und im Falle einer Rückkehr deswegen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Gefahr gerät. Angesichts der Massenproteste in und außerhalb Iran und auch in Deutschland (auch im Internet) innerhalb des letzten eineinhalb Jahre ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jeglicher Teilnehmer unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss (VG Würzburg, U.v. 19.2.2024 – W 8 K 23.30832 – UA S. 35 ff.; U.v. 30.10.2023 – W 8 K 23.30338 – juris Rn. 42 f.; U.v. 25.9.2023 – W 8 K 23.30323 – juris Rn. 45; U.v. 20.3.2023 – W 8 K 22.30683 – juris Rn. 37 m.w.N. sowie etwa VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 39).
44
Denn im Iran ist trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage gleichwohl gesamtbetrachtend davon auszugehen, dass nicht jede(r) Iraner bzw. Iranerin, der/die sich im Ausland aufgehalten hat, bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politischer Verfolgung zu rechnen hat. Vielmehr ist auf den jeweiligen Einzelfall abzustellen und zu prüfen, ob jemand aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten von iranischen Behörden als Regimegegner qualifiziert und identifiziert wird. Angesichts der Massenproteste von September 2022 bis heute im Iran und in anderen Staaten, auch in Deutschland, ist es lebensfremd und unwahrscheinlich, dass jede(r) Teilnehmer(in) unterschiedslos bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit flüchtlingsrelevanten Repressalien rechnen muss. Aufgrund der Masse an regimekritischen Aktionen in Deutschland und andernorts sowie der Anzahl der Teilnehmenden an diesen Aktionen einschließlich der damit verbundenen Masse an Veröffentlichungen auch in sozialen Medien und der begrenzten Kapazitäten der iranischen Behörden hat das Gericht – nach den vorliegenden Erkenntnissen – keine Anhaltspunkte, dass gleichsam jede(r) Teilnehmer(in) ohne weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr verfolgt würde. Bedeutung für eine relevante Verfolgungsgefahr im Einzelfall kann einer Gesamtschau, insbesondere vom Ausmaß der Aktivitäten vor der Ausreise sowie Umfang, Inhalt, Ausmaß der Tätigkeiten im Ausland und dem zu erwartenden Grad der Aktivitäten bei einer Rückkehr in den Iran, zukommen. Relevant sind dabei zum Beispiel auch die Intensität der Aktivitäten in Deutschland, die Verbindung zu einer im Iran verbotenen oppositionellen Partei, die Erkennbarkeit nach außen, die Identifizierbarkeit der Person bei ihren Aktivitäten und neben der Qualität auch die Quantität der Aktivitäten, um letztlich auf ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsinteresse des iranischen Staates schließen zu können. Denn maßgeblich für die Frage, ob ein(e) Iraner(in) bei einer Rückkehr in den Iran mit Verfolgung rechnen müsste, ist, ob diese(r) sich in Deutschland ernsthaft, offen und kontinuierlich regimekritisch betätigt hat und ob gerade diese Betätigung die Annahme rechtfertigt, dass der freie Ausdruck seiner (ihrer) regimekritischen Haltung für die Identität insofern so wichtig ist, dass er (sie) auch bei einer Rückkehr in den Iran den Drang verspüren würde, sich an regimekritischen Protesten zu beteiligen. Umgekehrt ist der Schluss gerechtfertigt, dass der (die) Betreffende bei der Rückkehr in den Iran sich auch dort nicht aktiv an oppositionellen Tätigkeiten beteiligten würde, wenn er (sie) sich selbst schon in Deutschland bei den sich ihm (ihr) gefahrlos bietenden Möglichkeiten und Freiheiten nur sehr rudimentär an regimekritischen Protesten sowohl tatsächlich als auch online beteiligt und auch sonst nicht das Verfolgungsinteresse des iranischen Staates weckt, so dass keine Verfolgungsgefahr anzunehmen ist (vgl. m.w.N VG Würzburg, U.v. 30.10.2023 – W 8 K 23.30338 – juris Rn. 42 f.; ebenso etwa zuletzt VG Köln, U.v. 21.7.2023 – 12 K 319/20.A – juris Rn. 22 ff.; VG Hamburg, U.v. 20.7.2023 – 10 A 4016/21 – juris Rn. 27; BayVGH B.v. 10.7.2023 – 14 ZB 22.31080 – juris Rn. 13; VG Braunschweig, U.v. 5.6.2023 – 2 A 222/19 – juris Rn. 36 ff., 39 ff.; VG Meiningen, U.v. 28.8.2023 – 5 K 1269/21 Me, 7676319 – juris, UA S. 11 f.; U.v. 6.3.2023 – 5 K 1368/22 Me, 9331572 – juris S. 9 f. und 11 f.; VG Gießen, U.v. 28.4.2023 – 3 K 2214/19.GI.A – juris Rn. 30; VG Aachen, U.v. 18.4.2023 – 10 K 2279/20.A – juris Rn. 49 ff., 59 f. U.v. 5.12.2022 – 10 K 2406/20.A – juris Rn. 35 ff., 50 ff., 52 ff.; VG Berlin, U.v. 17.1.2023 – VG 17 K 4/23 A – juris UA S. 7).
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Ausgehend von der gegebenen Bedrohungs- und Gefährdungslage muss der Kläger nach den Umständen seines Einzelfalles, die er glaubhaft dargelegt hat, bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit politisch motivierter Verfolgung rechnen.
46
Der Kläger hat – übereinstimmend mit seinen Angaben im Verfahren beim Bundesamt – in der mündlichen Verhandlung glaubhaft die näheren fluchtauslösenden Umstände geschildert, insbesondere im Zusammenhang mit der im Iran verbotenen oppositionellen kurdischen Partei DPK-I.
47
In dem Zusammenhang konnte der Kläger auch einzelne vom Bundesamt noch kritisch gesehenen Aspekte plausibel erklären und erläutern.
48
Der Kläger legte ehrlich dar, dass er noch kein offizielles Mitglied sei, sondern inoffizielles Mitglied, er sei ein Sympathisant seiner Partei DPK-I.
49
Zur Erklärung merkte er an, dass die Partei aufgrund des Zusammenschlusses mit einer verwandten Parteigliederung noch keinen gemeinsamen Führer habe und zurzeit keine neuen Mitglieder aufgenommen würden. Er habe aber einen Antrag auf Aufnahme als Mitglied gestellt.
50
Des Weiteren legte er überzeugend seine Motivation dar, für die oppositionelle kurdische Partei aktiv zu sein. Er sei, ebenso wie seine Ehefrau, Kurde. Er habe mitbekommen, dass sie diskriminiert und benachteiligt worden seien. Obwohl er und seine Frau A. seien, seien sei als Kurden immer diskriminiert worden. Er verfolge auch nationalistische Interessen. Er habe sich ein Ziel gesetzt und das Ziel sei die Freiheit für die Kurden. Seine Motivation sei eben gewesen, bei diesem Ziel anzukommen.
51
Zu seiner parteipolitischen Einstellung erklärt der Kläger weiter, es sei im Iran ein Verbrechen kurdisch zu sprechen, es gebe nur schwarz oder weiß, man sei dafür oder dagegen. Die Partei DKP sei in Mahabad gegründet worden. Deshalb seien sei dort immer besonders unterdrückt worden. Sie könnten nicht ihre Sprache sprechen. Viele seien auch nur deshalb im Gefängnis, weil sie die kurdische Sprache verbreiteten. Der Slogan seiner Partei sei „Sicherheit für die kurdische Bevölkerung in einem demokratischen Iran“. Er glaube an die Partei, er warte darauf, als volles Mitglied aufgenommen zu werden und werde seine Aktivitäten fortsetzen, weil es das sei, was er glaube.
52
Der Kläger beschrieb plausibel, wie er während eines Studiums über einen Freund, mit dem er zusammengewohnt habe, in Kontakt mit der Partei DPK-I gekommen sei. Er habe dort zwei- bis dreimal für diese designt. Er habe dann aber seine Aktivitäten zunächst anders als sein Freund sein lassen. Der Freund sei dann auch von der Uni geworfen worden. Im Jahr 1395 (etwa 2016 nach europäischer Zeitrechnung) sei der Freund wieder auf ihn zugekommen, um wieder für die Partei aktiv zu werden.
53
Ein Jahr bzw. 14 Monate später sei er verhaftet worden. Drei Leute seien zu ihm gekommen. Sein Laden sei durchsucht worden. Er sei beleidigt worden. Man habe ihm keine Gründe genannt. Es habe ihn gewundert, dass es ihn überhaupt getroffen habe. Sie hätten alles bei ihm durchsucht und kaputt gemacht und seinen Computer mitgenommen. Sie hätten ihn in ein Auto geschafft und die Augen verbunden. Sie hätten ihn dann mitgenommen. Bei seinen Schilderungen brachte er auch immer Details vor, etwa als er angab, die Personen seien ohne Uniform gewesen, aber sie hätten Handschellen und Waffen dabeigehabt. Sie hätten ihn Fragen gestellt und unbegründet zusammengeschlagen. Er sei noch nie in einem Gefängnis gewesen. Die Schläge, die er dabei bekommen habe, werde er nie vergessen. Der Kläger erklärte, ohne zu dramatisieren, dass er am ersten Tag so ohne Stock „nur“ mit den Händen geschlagen worden sei und am zweiten und dritten Tag sei es immer schlimmer geworden. Unter anderem habe er einen Schlag auf sein Bein bekommen. Die nächsten sechs bis sieben Monate habe er nicht richtig laufen können. In dem Zusammenhang beschrieb er, dass er aufgrund Kalziummangels eine Knochenkrankheit habe, die sich noch heute auswirke. Er, der Kläger, sieht als Auslöser dieser Krankheit die erhaltenen Schläge, die Blutungen und die unbehandelten Verletzungen. Der Mangel an Kalzium im Blut habe sich auf seine Knochen ausgewirkt. Er sei zehn Tage lang beschimpft und gedemütigt worden. Man habe auch schlecht über seine Familie gesprochen. Nach zehn Tagen habe er am ganzen Körper vom Kopf abwärts Schmerzen gehabt. Der Kopf sei äußerlich noch in Ordnung gewesen. Aber er sei in schlechter psychischer Situation gewesen. Er sei zusammengebrochen.
54
Der Kläger betonte weiter, dass er ein Papier habe unterschreiben müssen, dass er keinen Kontakt zu der Partei habe und keinen weiteren Kontakt aufnehmen werde und, falls er Informationen über Mitglieder habe, diese bekannt gebe. Seit diesem Vorfall im Jahr 1396 habe er psychische Probleme. Er habe auch neurologische Ausfallerscheinungen als Folge der Schläge. Zu dem Zeitpunkt habe er einen Foto-Shop gehabt, der zunächst verplombt gewesen sei. Er habe dann zunächst nichts für die Partei gemacht, aber wieder, als er einige Zeit später ein Foto-Atelier aufgemacht habe.
55
Der Kläger beschrieb, dass das Atelier im Keller gewesen sei. Deshalb sei es für ihn leichter gewesen, seine oppositionellen Tätigkeiten auszuüben. Zwei bis drei Monate nach dem Ende der Verhaftung habe er wieder Aktivitäten aufgenommen. Er habe auch an Sitzungen teilgenommen sowie an Gedenktagen für ehemalige Führer der Partei. Es seien Flugblätter und Broschüren gefertigt worden, einmal sogar bis zu 8000 Stück. Diese seien an Gedenktagen verteilt worden. Weiter habe er Reden von ehemaligen Führern der Partei, die aufgenommen gewesen seien, auf CDs gebrannt, die ebenfalls verteilt worden seien.
56
Der Kläger gab weiter ehrlich an, dass er in diesem Zeitraum zwar keine Probleme mit den staatlichen Stellen gegeben habe, weil er aufgrund seiner Erfahrung vorsichtig gewesen sei und habe weiterarbeiten können, wenn er den Laden zugemacht habe. Er habe aber gleichwohl immer Angst gehabt, dass er wieder Probleme und Schläge bekomme. Ihm sei seine Zielsetzung wichtiger gewesen.
57
Der Kläger beschrieb dann, wie er im achten Monat des Jahres 1398 an einem vierwöchigen Workshop im Teheran teilgenommen habe betreffend Fotografie. Am 24.8.1398 habe es Streiks und Proteste in T. gegeben. Er habe nach seinem Workshop an diesen Protestaktionen und Demonstrationen teilgenommen. Diese seien immer schlimmer geworden. Es habe viele Tote gegeben. Er habe mit seiner Kamera auch viele Fotos gemacht von Folterungen usw. der Sicherheitskräfte auch an normalen Menschen. Er habe fotografiert, wie Leute Schläge auf den Kopf bekommen hätten, und habe auch Fotos von Tränengaseinsatz gemacht. Es seien 1 500 Menschen gestorben. Er vermute, dass er auch deshalb identifiziert worden sei, weil er die Fotos gemacht habe.
58
Am 30.8.1398 habe er mitbekommen, dass Sicherheitskräfte bei ihm zu Hause gewesen seien. Gleichzeitig habe er erfahren, dass nicht nur bei ihm zu Hause Durchsuchungen erfolgt seien, sondern auch in seinem Atelier. Bei den Durchsuchungen seien jeweils Dokumente, etwa wie der Pass, aber auch sein Computer und sonstige Dokumente mitgenommen worden, also auch sein Laptop und entsprechende Speichermedien.
59
Für die Glaubhaftigkeit des Vorbringens des Klägers spricht zusätzlich die anschauliche Erzählung seiner Ehefrau in der mündlichen Verhandlung, die bei der Durchsuchung zu Hause zusammen mit ihrem Sohn anwesend gewesen ist. Die Ehefrau des Klägers, die beim Bericht von der Durchsuchung sichtlich berührt und mitgenommen wirkte, bei der ihre Gefühlslage offenkundig war, streute bei ihrer Darstellung auch immer wieder nebensächliche Details ein. Gesamtbetrachtet ist das Gericht überzeugt, dass die Ehefrau des Klägers von einer tatsächlich erlebten sie traumatisierenden Situation berichtet hat.
60
Die Ehefrau des Klägers schilderte, dass es an der Wohnungstür geklopft habe. Die Leute, die gekommen seien und die Durchsuchung vorgenommen hätten, hätten nach ihrem Ehemann, dem Kläger, gefragt. Sie seien mit Schuhen einfach reingekommen, wie wilde Menschen, und hätten alles durchsucht. Sie hätten sie schikaniert. Ihr Sohn habe ein Spielzeug umklammert. Sie habe ihren Sohn in den Arm genommen. Sie hätten sich in eine Ecke gesetzt. Die Leute hätten alle Schränke durchsucht und alle Kommoden und alle Schubladen aufgemacht. Sie seien von ihrem Benehmen her sehr unhöflich gewesen, gerade mit ihr. Als sie nach der Durchsuchungsanordnung gefragt habe, hätten diese geantwortet, sie hätten eine Waffe und dies sei eine Durchsuchungserlaubnis. Sie sei persönlich mit Schimpfwörtern beleidigt worden, etwa, dass sie eine Prostituierte sei und die Fresse halten solle. Es seien zwei große Männer gewesen. Die Durchsuchung sei wie ein Erdbeben gewesen. Alle hätten Angst gehabt. Sie habe so viel Angst bekommen, wie sie noch nie im Leben gehabt habe. Sie sei geschockt worden, sie sei gerade von der Schule gekommen gewesen und habe ihren Sohn abgeholt gehabt. Sie sei erst ein paar Minuten dagewesen. Sie habe noch ihre Kleidung von draußen, Straßenkleidung, angehabt. Sie habe sich dann nicht getraut, selbst direkt mit ihrem Handy ihren Mann anzurufen, sondern sei zu ihrem Vermieter und der habe den Freund des Klägers angerufen. Sie habe sowohl ihren Bruder als auch ihren Schwager, also den Bruder des Klägers, angerufen. Auch dieser sei sehr schockiert gewesen.
61
Der Kläger erklärte, er sei daraufhin nicht mehr nach Hause in die Wohnung, sondern er habe die Ausreise organisiert. Aufgrund der zwei Jahre zuvor abgegebenen Verpflichtungserklärung sowie der damaligen Inhaftierung habe er gewusst, was auf ihn zukommen werde.
62
Zu der Verpflichtungserklärung ist anzumerken, dass es nach den vorliegenden Erkenntnisquellen im Iran regelmäßig vorkommt, dass verhaftete Personen erst freigelassen werden, nachdem sie gezwungen wurden, „Reue“-Schreiben zu unterzeichnen und sich zu verpflichten, von politischen Aktivitäten abzusehen und nicht an regierungsfeindlichen Kundgebungen teilzunehmen (vgl. BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Iran, vom 26.1.2024, S. 68 und 122; vgl. auch SFH, Iran: Situation der Frauen, Themenpapier der SFH-Länderanalyse, vom 18.11.2023, S. 25; Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023, S. 7; Amnesty International, Pressemitteilung, Aktuell, Iran, vom 16.3.2023, Iran: Peitschenhiebe, Elektroschocks und sexualisierte Gewalt gegen inhaftierte Kinder). Weiter ist im Iran davon auszugehen, dass jemand, der eine Verpflichtungserklärung des Inhalts unterschrieben hat, künftig etwa an Protestaktionen gegen das Regime nicht mehr teilzunehmen, zumindest mit administrativen Maßnahmen rechnen muss, wenn er gleichwohl bei der Teilnahme an Demonstrationen identifiziert wird (vgl. VG Meiningen, U.v. 13.2.2013 – 5 K 20074/11 Me, 5423589 – juris UA S. 6). Die Missachtung einer mit einer Verpflichtungserklärung verbundenen Verwarnung ist im Rahmen der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit der Einleitung weitergehender staatlichen Maßnahmen zu berücksichtigen (vgl. OVG NRW, B.v. 16.6.2021 – 6 A 1407/19.A – juris Rn. 35).
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Aufgrund des glaubhaften Vorbringens des Klägers, an dem nach Überzeugung des Gerichts (§ 108 VwGO) aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung nicht zu zweifeln ist, ist jedenfalls festzuhalten, dass die von Beklagtenseite ins Feld geführten Aspekte nicht geeignet sind, die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 der Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU, dass einer bereits vorverfolgten bzw. unmittelbar bedrohten Person bei einer Rückkehr erneute Verfolgung droht, zu widerlegen. Nach Überzeugung des Gerichts liegen keine stichhaltigen Gründe vor, die die Wiederholungsgefahr einer solche Verfolgung bzw. des Eintritts eines Schadens entkräften würden.
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Für ein fortbestehendes Verfolgungsinteresse spricht neben den erfolgten Durchsuchungen der Umstand, dass – nach Angabe des Klägers – sein Bruder sowie sein Schwager Vorladungen erhalten hätten, weil staatliche Stellen hätten erfahren wollen, wo er sich derzeit aufhalte. Hinzu kommt die Aussage in der mündlichen Verhandlung, dass Sicherheitskräfte zudem vor einiger Zeit die Speichermedien der Kameras (Überwachungskameras), die um das Haus seiner Schwiegermutter angebracht gewesen seien, mitgenommen hätten. Aber auch insoweit erweckte der Kläger nicht den Eindruck, mit seinen Aussagen aufbauschen zu wollen. Vielmehr erklärte er zu diesem Aspekt, keine neuen Informationen aus seiner Heimat zu haben.
65
Gefahrerhöhend treten darüber hinaus für den Kläger seine exilpolitischen Aktivitäten hinzu, die nicht nur im Zusammenhang mit seinem Vorfluchtschicksal, sondern auch im Zusammenhang mit den aktuellen Vorkommnissen im Iran mit den dortigen Protesten und Unruhen und dem scharfen Vorgehen der Sicherheitskräfte stehen. Nicht zuletzt die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes verdeutlicht, dass nicht bloß exponierten Oppositionellen bei einer Rückkehr Verfolgung droht, sondern dass gerade aus dem Ausland, nicht zuletzt aus Deutschland, kommende Iraner damit rechnen müssen, dass ihnen der Vorwurf gemacht wird, westlich beeinflusst zu sein und der Spionage bezichtigt werden. Dies gilt erst recht für Personen, die schon vor der Ausreise im Fokus des iranischen Staates standen bzw. die sich während ihres Auslandsaufenthaltes regimekritisch öffentlich geäußert haben, wie der Kläger im Zusammenhang mit Parteiveranstaltungen, Demonstrationen sowie in den sozialen Medien. Hinzu kommt der Umstand, dass der Kläger Kurde ist und eine politisch motivierte Verfolgung vor seiner Ausreise unmittelbar bevorstand, wobei seine Aktivitäten aus der Sicht des iranischen Staates im Zusammenhang mit einer verbotenen kurdischen Oppositionspartei steht, und zwar durch seine Unterstützung der DPK-I.
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Als weiterer verfolgungsrelevanter erschwerender Umstand ist zu werten, dass der Kläger flüchtig ist, untergetaucht war und den Iran illegal verlassen hat (siehe Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG SH vom 14.6.2023, S. 4 f. und 6 f.).
67
Der Kläger erklärte ausdrücklich im Klageverfahren auch unter Vorlage einer Bescheinigung der Partei DPK-I sowie von Fotos und Sreenshots, dass er in Verbindung zu der oppositionellen regimekritischen und im Iran verbotenen Partei DPK-I stehe und an deren Veranstaltungen teilnehme, sofern ihm das als (noch) nicht offizielles Mitglied, sondern Sympathisant möglich und gestattet sei. So sei er bei Veranstaltungen bzw. Demonstrationen in Frankfurt, Berlin und Köln gewesen. Außerdem sei er in der Wh.A.-Gruppe der Partei und bekomme so Informationen der Partei. Insgesamt habe er an sieben bis acht Demonstrationen in Deutschland teilgenommen. Auch insofern gab er ehrlich vor, dass er in der Partei und auch bei den Demonstrationen keine besonderen Funktionen habe, er habe aber lediglich bei DPK-I-Veranstaltungen kurze Reden gehalten. Weiter gefahrerhöhend kommen nicht nur die parteipolitischen Aktivitäten hinzu, wobei nach den bereits zitierten Erkenntnissen der iranische Staat bei der Verfolgung Oppositioneller nicht zwischen Mitglied und Sympathisant unterscheidet, sondern auch sein Engagement für die Protestbewegung „Frau L. F.“, mit deren Zielen er sich ebenfalls solidarisiert hat. Die exilpolitischen Aktivitäten des Klägers beziehen sich damit einerseits auf seine parteipolitischen Anliegen, anderseits auf die aktuellen Vorkommnisse im Iran mit den dortigen Protesten und Unruhen und dem scharfen Vorgehen der Sicherheitskräfte dagegen, das sich besonders gegen Kurden richtet.
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Zu seinen Aktivitäten über die sozialen Medien gab der Kläger weiter an, dass er die vom Internet erhaltenen Informationen auf seine Seite stelle, um sie der Öffentlichkeit preiszugeben. Er sei bei WhatsApp,I. und Telegram aktiv. Er habe vielleicht 130 bis 140 Follower. In den sozialen Medien sei er mit seinem eigenen Foto und mit seinem Klarnamen aktiv. Damit macht sich der Kläger für den iranischen Staat leicht identifizierbar, wie den vorliegenden Erkenntnissen zu entnehmen ist (vgl. SFH, Iran: Überwachung der sozialen Medien im Ausland, vom 25.11.2023, S. 7. f.)
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Ergänzend wird angemerkt, dass die Feststellung, dass das Vorbringen eines Asylbewerbers stereotyp sei und dass gewisse exilpolitische Aktivitäten asyltaktisch motiviert seien bzw. iranische Behörden die Bedeutung und den Stellenwert des Asylverfahrens realitätsgerecht als legitimes Mittel zur Aufenthaltserlangung im Ausland einschätzten (wie die Beklagte meint), bei der Beurteilung, ob ein exilpolitisches Verhalten eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr begründet, ohne Wert ist, weil es unabhängig davon auf die Umstände des konkreten Einzelfalles ankommt und im Übrigen angesichts der Willkür der iranischen Behörden und der Unberechenbarkeit ihrer Verfolgungsintentionen die Annahme eines asyltaktischen Verhaltens für sich nicht geeignet ist, eine Verfolgungsgefahr auszuschließen (vgl. ausführlich dazu mit weiteren Belegen: VG Würzburg, U.v. 19.2.2024 – W 8 K 23.30832 -UA S. 43 ff., 48 f.), wobei darüber hinaus auch nicht geklärt ist, wie die iranischen Stellen auf rechtsstaatliche und menschrechtsgemäße Weise im jeweiligen Einzelfall aufklären könnten und würden, ob ein bestimmtes exilpolitisches regime- und/oder islamkritisches Verhalten in Deutschland „nur“ asyltaktisch motiviert ist.
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Nach alledem bestehen nach Überzeugung des Gerichts keine Zweifel, dass der Kläger zum einen aus politischen Gründen bereits im Iran in den Fokus der iranischen Behörden geraten ist und ernsthafte Repressalien unmittelbar gedroht haben, weil er aus Sicht der iranischen Behörden als Regimegegner eingestuft wurde und wird, gerade auch wegen seiner Verbindungen zur exilpolitischen oppositionellen Kurdenpartei DPK-I.
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Zum anderen hat er seine regimekritischen und auch parteipolitischen Aktivitäten in Deutschland fortgesetzt.
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Insoweit ist anzumerken, dass – wie auch den oben zitierten Auskünften und Erkenntnissen zur Verfolgung von tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern zu entnehmen ist – nicht darauf abzustellen ist, dass der Betreffende tatsächlich bei einer oppositionellen Institution beteiligt war – egal, ob als Mitglied, als Sympathisant oder als Unterstützer – oder sich selbst als Regimegegner einstuft, sondern vielmehr darauf, was die iranischen Sicherheitskräfte annehmen und ob bei diesen aus ihrer Sicht ein Verfolgungsinteresse wegen des befürchteten Hineinwirkens des Betreffenden in den Iran besteht. Letzteres ist beim Kläger aufgrund seiner glaubhaften Angaben zu bejahen. Der Vorwurf der iranischen Sicherheitskräfte bezog sich darauf, dass sich der Kläger aus iranischer Sicht schon im Iran oppositionell betätigt hatte. Der Kläger hat sich anschließend in Deutschland weiter regimekritisch betätigt.
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Denn besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Art von Aktivitäten, die als Angriff auf das politische System empfunden werden oder religiöse Grundsätze in Frage stellen (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Iran, Stand: 18.11.2022, vom 30.11.2022, S. 9). Solche Aktivitäten wurden und werden dem kurdischen Kläger auch mit Bezug zur verbotenen kurdischen Partei DKP-I vorgeworfen. Insbesondere auch aufgrund der aktuellen Lage im Iran, die plastisch auch in der zitierten aktuellen Reisewarnung des Auswärtigen Amtes deutlich wird, droht dem Kläger sowohl aufgrund der Vorkommnisse im Iran als auch aufgrund seines aktuellen Aufenthalts in Deutschland der Vorwurf, ein Regimegegner zu sein und unter westlichem Einfluss zu stehen, zumal er sich mit den aktuellen Protesten im Iran solidarisiert und diesbezüglich auch im Internet über soziale Medien exilpolitisch engagiert hat. Letztere Umstände wirken gefahrerhöhend und begründen zusätzlich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus politischen Gründen bei einer Rückkehr in den Iran (vgl. etwa Accord, Iran: Informationen zu den Parteien DPKI, KDP-I, Komala PIK, Komala KDP, Komalah – CPI, Komala CPI, WCPI, WP-Hekmatist, WPI-Hekmatist, Khad-Rasmi, vom 24.11.2022, S. 34).
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Schon allein das Vorfluchtschicksal ist unter Berücksichtigung der aktuellen politischen Situation im Iran für sich ausreichend für die Annahme einer mit beachtlichen Wahrscheinlichkeit drohenden politischen Verfolgung. Hinzu kommen die exilpolitischen regimefeindlichen Aktivitäten des Klägers, gerade auch im Zusammenhang mit der im Iran verbotenen Oppositionspartei DPK-I.
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Bei einer eventuellen Rückkehr in den Iran müsste der Kläger unter Gesamtwürdigung aller Umstände erneut mit Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit rechnen. Das Gericht hat keinen Zweifel, dass es schon in der Vergangenheit im Iran Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger unmittelbar drohten bzw. in Form der zehntägigen Inhaftierung samt Misshandlung sowie der Durchsuchungen sogar erfolgten und dass seitens des iranischen Staates weiterhin ein Verfolgungsinteresse gegen den Kläger besteht. Mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran seitens staatlicher Stellen weiter eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt bzw. vorgeworfen würde, verbunden mit der Befürchtung, der Kläger werde sich weiter regimekritisch verhalten, und dass sich entsprechende staatliche Verfolgungsmaßnahmen hieran anknüpfen würden. Eine Rückkehr in den Iran ist dem Kläger unter diesen Vorzeichen von Rechts wegen nicht zumutbar.
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Nach alledem ist dem Kläger unter Aufhebung der ihn betreffenden Antragsablehnung in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheides – soweit sie sich auf den Kläger bezieht – die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder sonstige Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nrn. 3 und 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben waren (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG [„oder“] und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG), soweit sie sich auf den Kläger beziehen. Über die hilfsweise gestellten Anträge, insbesondere zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG), war nicht zu entscheiden.
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Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) – bezogen auf den Kläger – rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.
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Schließlich war auch die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 bis 3 AufenthG (Nr. 6 des Bundesamtsbescheids) – bezogen auf den Kläger – aufzuheben, weil mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung auch die Voraussetzungen für diese Entscheidung entfallen sind (vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.