Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 19.03.2024 – 203 StObWs 97/24
Titel:

Gefährlichkeitsprognose zur Gewährung von Vollzugslockerungen

Normenketten:
StVollzG § 11, § 115 Abs. 2 S. 1
BayStVollzG Art. 2 S. 2, Art. 13
Leitsätze:
1. Der Vollzugsbehörde steht bezüglich des unbestimmten Rechtsbegriffs der Missbrauchsbefürchtung ein Beurteilungsspielraum zu mit der Folge, dass das Vorliegen dieser Voraussetzungen im gerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt überprüfbar ist. (Rn. 5)
2. Die Justizvollzugsanstalt hat in ihre Überlegungen zur Missbrauchsbefürchtung mit einzustellen, dass mit zunehmender Dauer der Strafverbüßung der Resozialisierungsaspekt an Bedeutung gewinnt. (Rn. 12)
1. Zur Ablehnung einer Vollzugslockerung wegen Missbrauchsgefahr hat die Vollzugsbehörde die hierfür relevanten Tatsachen konkret festzustellen und darzulegen, warum die Gefahr nicht durch Sicherungsvorkehrungen ausgeräumt werden kann; allgemeine Befürchtungen, pauschale Wertungen oder nur formelhafte Begründungen genügen nicht. (Rn. 7, 11 und 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Maßgebender Ansatz für die Gefährlichkeitsprognose vor der Gewährung einer Vollzugslockerung ist nicht die Frage, ob überhaupt in der Person des Verurteilten die erneute Gefahr der Begehung von Straftaten droht, sondern es kommt entscheidend darauf an, ob zu befürchten ist, der Verurteilte werde gerade die Gewährung von Lockerungen zu Straftaten missbrauchen. Etwaige Zweifel bei der Prognose gehen zulasten des Gefangenen. (Rn. 9 und 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Strafvollzug, Vollzugslockerungen, Ausgang aus JVA, Gefährlichkeitsprognose, Prognosebegründung, Resozialisierungsziel, gerichtliche Nachprüfbarkeit
Fundstellen:
BeckRS 2024, 7820
NStZ 2024, 698
LSK 2024, 7820

Tenor

1. Die Rechtsbeschwerde des Leiters der Justizvollzugsanstalt St. gegen den Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing vom 17. Januar 2024 wird als unbegründet zurückgewiesen.
2. Der Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde wird auf 1000.- Euro festgesetzt.
3. Die Kosten der Rechtsbeschwerde sowie die notwendigen Auslagen des Gefangenen trägt die Landeskasse.

Gründe

I.
1
Die Justizvollzugsanstalt wendet sich mit ihrer Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss der auswärtigen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Regensburg beim Amtsgericht Straubing vom 17. Januar 2024, der Beschwerdeführerin zugestellt am 30. Januar 2024. Die Strafvollstreckungskammer hat auf Antrag des Strafgefangenen festgestellt, dass die Ablehnung von Ausgang durch Bescheid vom 2. November 2023 rechtswidrig war und den Beschwerdegegner in seinen Rechten verletzt.
2
Die Rechtsbeschwerde der Justizvollzugsanstalt vom 9. Februar 2024, beim Ausgangsgericht eingegangen am 12. Februar 2024, rügt die Verletzung materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft M. hat beantragt, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und den Antrag des Strafgefangenen auf Feststellung der Rechtswidrigkeit zurückzuweisen. Der Beschwerdegegner beantragt die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.
II.
3
Die gemäß Art. 208 BayStVollzG, § 118 Abs. 1 StVollzG form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist mit der Sachrüge gemäß § 116 Abs. 1 StVollzG zur Fortbildung des Rechts zu Fragen der Missbrauchsbefürchtung bei Lockerungsentscheidungen zulässig. Sie erweist sich allerdings als unbegründet. Die Überprüfung des angefochtenen Beschlusses auf die Sachrüge hin hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler aufgezeigt. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
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1. Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 BayStVollzG kann als Lockerung des Vollzugs angeordnet werden, dass Gefangene für eine bestimmte Tageszeit die Anstalt unter Aufsicht (Ausführung) oder ohne Aufsicht Vollzugsbediensteter (Ausgang) verlassen dürfen. Nach Absatz 2 der Vorschrift dürfen Lockerungen mit Zustimmung der Gefangenen angeordnet werden, wenn nicht zu befürchten ist, dass die Gefangenen sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzugs zu Straftaten missbrauchen werden. Vollzugslockerungen sind danach zwingend zu versagen, wenn zu befürchten ist, dass der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerung zu Straftaten missbrauchen werde. Ein Ermessen ist in diesem Fall nicht eröffnet. Der Missbrauch bezieht sich auf Straftaten aller Art, nicht nur erheblicher (vgl. Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 17; Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 11 Rn. 9; Harrendorf/Ullenbruch in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, Strafvollzugsgesetz, 7. Aufl. 2020, 10. Kapitel Vollzugsöffnende Maßnahmen C II Rn. 53).
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2. Der Vollzugsbehörde steht bezüglich des unbestimmten Rechtsbegriffs der Missbrauchsbefürchtung ein Beurteilungsspielraum zu mit der Folge, dass das Vorliegen dieser Voraussetzungen im gerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt überprüfbar ist (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 27. November 2023 – 203 StObWs 456/23 –, juris Rn. 12; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 StObWs 318/20 –, juris Rn. 21; KG Berlin, Beschluss vom 22. August 2011 – 2 Ws 258 und 260/11 Vollz –, juris Rn. 50; Arloth/Krä a.a.O. § 11 Rn. 10 und § 115 Rn. 16; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 51; kritisch zum Beurteilungsspielraum Spaniol in Feest/Lesting/Lindemann, Strafvollzugsgesetze, 8. Aufl., Teil IV § 115 StVollzG Rn. 30). Bezüglich der Kontrolle des Beurteilungsspielraums ist die Strafvollstreckungskammer auf die Prüfung beschränkt, ob die Vollzugsbehörde von einem zutreffenden und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen ist, alle entscheidungsrelevanten Umstände berücksichtigt, die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums eingehalten und die richtigen Wertmaßstäbe angewendet hat (vgl. Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 19; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 51; Laubenthal in: Schwind/Böhm/Jehle/Laubenthal, a.a.O. 12. Kapitel Rechtsbehelfe § 115 II Rn. 23; Arloth/Krä a.a.O. § 115 Rn. 16 m.w.N.; Bachmann in Laubenthal/Nestler/Neubacher/Verrel/Baierl, Strafvollzugsgesetze, StVollzG, 13. Aufl., Kap. P II § 115 Rn. 87, 88; Spaniol a.a.o § 115 StVollzG Rn. 28, 31).
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3. Die Vollzugsbehörden ihrerseits haben eine Prognoseentscheidung zu treffen (Senat a.a.O. Rn. 18; BeckOK Strafvollzug Bund/Setton, 23. Ed. 1.2.2023, StVollzG § 11 Rn. 27; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 53).
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a. Dazu hat die Vollzugsbehörde eine Gesamtwürdigung aller für die Entscheidung erheblichen Umstände vorzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. September 2019 – 2 BvR 681/19 –, juris; Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 – 203 StObWs 225/23 –, juris Rn. 24; OLG Hamm, Beschluss vom 4. September 2018 – III-1 Vollz (Ws) 376/18 –, juris Rn. 21; OLG Hamm, Beschluss vom 21. Juli 2021 – III-1 Vollz (Ws) 207 und 239/21 –, juris; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 54). Will die JVA eine Lockerung wegen Missbrauchsgefahr ablehnen, hat sie in ihrer Entscheidung darzulegen, dass aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ernstlich zu befürchten steht, der Gefangene werde die Maßnahme zur Begehung einer Straftat ausnutzen (Senat a.a.O. Rn. 22; KG Berlin, Beschluss vom 8. Juni 2009 – 2 Ws 20/09 Vollz –, juris Rn. 35; Setton a.a.O. Rn. 26). Die relevanten Tatsachen sind von der Vollzugsbehörde konkret festzustellen; allgemeine Befürchtungen, pauschale Wertungen oder nur formelhafte Begründungen genügen nicht (vgl. Senat a.a.O. Rn. 23; Senat, Beschluss vom 25. Januar 2021 – 203 StObWs 514/20 –, juris Rn. 26; Senat, Beschluss vom 21. September 2020 – 203 StObWs 318/20 –, juris Rn. 22; vgl. auch BVerfG, stattgebende Kammerbeschlüsse vom 17. September 2019 – 2 BvR 650/19 –, juris Rn. 21, und vom 18. September 2019 – 2 BvR 681/19 –, juris Rn. 18 und – 2 BvR 1165/19 –, juris Rn. 17, Rn. 19; OLG Hamm, Beschluss vom 6. Oktober 2016 – III-1 Vollz (Ws) 340/16 –, juris Rn. 17). Zu berücksichtigen sind insbesondere die Persönlichkeit des Betroffenen, sein Vorleben, etwaige frühere Verurteilungen, die Umstände und das Gewicht der Tat sowie die Tatmotivation, der Umgang mit der Tat, die Persönlichkeitsentwicklung, das Verhalten im Vollzug sowie die Eignung für eine Therapie und die Durchführung einer solchen.
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b. Die Beurteilung hat zudem lockerungsbezogen zu erfolgen (Senat, Beschluss vom 3. Juli 2023 a.a.O. Rn. 25; OLG Hamm, Beschluss vom 3. März 2020 – III-1 Vollz (Ws) 5/20 –, juris; OLG München, Beschluss vom 17. Dezember 2012 – 4 Ws 204/12 (R) –, juris; Arloth/Krä a.a.O. § 11 Rn. 11a; Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 53).
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c. Etwaige Zweifel bei der geforderten Prognose gehen, wie sich dem Begriff des Befürchtens entnehmen lässt, zulasten des Gefangenen (Arloth/Krä a.a.O., § 11 Rn. 9).
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d. Die Vollzugsbehörde hat bei ihrer Prognose zu berücksichtigen, dass nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung die Vorschriften über Vollzugslockerungen und vollzugsöffnende Maßnahmen der Wiedereingliederung der Gefangenen und deren Resozialisierungsinteresse dienen (st. Rspr., vgl. etwa BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 18. September 2019 – 2 BvR 1165/19 –, juris Rn. 17). Durch Lockerungsmaßnahmen werden dem Gefangenen Chancen eingeräumt, sich zu beweisen und zu einer günstigeren Entlassungsprognose zu gelangen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 5. August 2010 – 2 BvR 729/08 –, juris, Rn. 32; BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 15. Mai 2018 – 2 BvR 287/17 –, juris Rn. 30).
11
e. Die Behörde muss im Falle einer Missbrauchsbefürchtung auch darlegen, warum die Gefahr nicht durch Sicherungsvorkehrungen ausgeräumt werden kann (BVerfG, Beschluss vom 20. Juni 2012 – 2 BvR 865/11 – juris Rn. 16).
12
f. Gemessen daran erweisen sich die Erwägungen der Vollzugsbehörde als fehlerhaft. Die negative Prognose der Justizvollzugsanstalt kann nämlich bei Berücksichtigung der Dauer des Strafvollzugs (seit 9. Dezember 2019) und der vom Gefangenen begangenen Straftaten (Einbrüche in Freizeitbäder) ungeachtet der anhaltenden Verweigerungshaltung des Gefangenen, an einer Gruppentherapie teilzunehmen, nicht mehr maßgeblich darauf gestützt werden, dass er nach einer früheren Entlassung am 29. August 2019 sehr schnell wieder rückfällig geworden ist und die damaligen Therapiebemühungen beim Gefangenen keinen Erfolg gezeigt hatten. Vielmehr hätte die Justizvollzugsanstalt in ihre Überlegungen mit einstellen müssen, dass mit zunehmender Dauer der Strafverbüßung der Resozialisierungsaspekt (vgl. Art. 2 S. 2 BayStVollzG) an Bedeutung gewinnt. Auch besteht die Möglichkeit, dass der Eindruck des wiederholten Strafvollzugs das Risiko der Begehung von Straftaten abgeschwächt hat, nachdem der Gefangene erneut einen mehrjährigen Freiheitsentzug als Sanktion für die von ihm verübten Straftaten erfahren hat. Dies gilt auch, wenn der Gefangene die Teilnahme an einer bestimmten Therapie für sich ablehnt. Mit Blick auf das Näherrücken des Strafendes und die zunehmende Bedeutung des Resozialisierungsinteresses bedarf es zur tragfähigen Begründung einer Missbrauchsbefürchtung bei dem Strafgefangenen nunmehr eines substantiierten Eingehens auf dessen aktuelle Absprachefähigkeit, sich am Tage des Ausgangs unter normalen Lebensbedingungen zu bewähren, und auf seine Motivation, während der Stunden des Ausgangs straffrei zu bleiben und eine Haftentlassung nicht durch die Begehung von neuerlichen Straftaten während eines Ausgangs zu gefährden.
13
Maßgebender Ansatz ist dabei entgegen den Ausführungen der Justizvollzugsanstalt nicht die Frage, ob überhaupt in der Person des Verurteilten die erneute Gefahr der Begehung von Straftaten droht (vgl. Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 53, 54) – dieser Gesichtspunkt ist im Rahmen des Verfahrens nach §§ 57, 57a StGB zu beantworten –, sondern es kommt für die Prognose entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Gefangenen das ihm bei der Gewährung der konkreten vollzugsöffnenden Maßnahme entgegengebrachte Vertrauen rechtfertigt oder ob zu befürchten ist, der Verurteilte werde gerade die Gewährung von Lockerungen zu Straftaten missbrauchen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 23. Juli 2001 – 3 Ws 50/01 –, juris Rn. 12). Die Vollzugsbehörde hat insbesondere bei längerer Dauer des Strafvollzugs und zunehmender Gefahr einer Entkoppelung von der Gesellschaft (vgl. Art. 5 Abs. 2 BayStVollzG) in ihre Erwägungen mit einzustellen, ob etwaigen Missbrauchsbefürchtungen durch geeignete, an Art. 3, Art. 4, Art. 5 Abs. 3 und Art. 6 Abs. 1 S. 2 BayStVollzG zu messende Behandlungsangebote begegnet oder durch eine situationsangepasste Ausgestaltung der Lockerung Rechnung getragen werden kann (vgl. Harrendorf/Ullenbruch a.a.O. Rn. 53). So kommt eine Verringerung des Missbrauchsrisikos im Falle der Begleitung des Gefangenen durch eine geeignete Person, etwa einem Vollzugshelfer, oder einer Verkürzung der Dauer des Ausgangs in Betracht. Eine anfänglich zeitliche Beschränkung könnte zudem den vom Gefangenen veranschlagten Kostenaufwand, den die Anstalt als weiteren Aspekt ihrer Entscheidung angeführt hat, nicht unerheblich reduzieren. Ob die Anstalt entsprechende Überlegungen angestellt oder dem Antragsteller alternative Therapieformen angeboten hat, lässt sich ihren Ausführungen nicht entnehmen.
III.
14
Die Festsetzung des Beschwerdewerts beruht auf §§ 60, 52 GKG. Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG, § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. Art. 208 BayStVollzG.