Inhalt

VG Ansbach, Beschluss v. 02.04.2024 – AN 14 E 24.30
Titel:

Keine Eingriffsqualität eines Gutachtens zu ähnlichem Produkt eines anderen Herstellers

Normenketten:
Novel-Food-VO Art. 4 Abs. 2
VwGO § 123
GG Art. 12
BGB § 823
Leitsatz:
Ein durch die Lebensmittelüberwachung in Auftrag gegebenes Gutachten zu bezüglich eines ähnlichen Produkts, das eine Verkaufsplattform zur Begründung eines Verkaufsstopps heranzieht, stellt keinen Eingriff in ein subjektives Recht dar. (Rn. 48) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verkaufsstopp bei A., Gutachten des LGL, keine Eingriffsqualität, Gutachten für Konkurrenzprodukt, Verkaufsstopp, Eingriffsqualität, Widerruf, Gutachten, Neem, Nahrungsergänzungsmittel, Rechtsschutzinteresse, Konsultationsverfahren, Lebensmittelunternehmen, öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch, Verwaltungsinternum
Fundstelle:
BeckRS 2024, 7652

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 40.000 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt vom Antragsgegner den Widerruf einer gutachterlichen Äußerung.
2
Die Antragstellerin ist ein in Österreich ansässiges Lebensmittelunternehmen, das in Deutschland und Österreich ein in Kapselform zur Aufnahme in den Körper bestimmtes Nahrungsergänzungsmittel aus den getrockneten Blättern des Neembaums (Azadirachta indica) in den Verkehr bringt.
3
Am 4. April 2023 teilte die Verkaufsplattform A. (A.; im Folgenden: A.) der Antragstellerin mit, dass sie deren Angebot „Neem-Kapseln mit reinem, hochqualitativem Neem-Pulver aus Neem-Blättern von Biozertifizierter Farm ohne Zusatzstoffe in vegan Kapseln gefüllt“ gesperrt habe. Bei dem Artikel handele es sich um ein Produkt, das Neem enthalte. Alle Teile des Neembaums, ausgenommen die Frucht in Nahrungsergänzungsmitteln, seien ein nicht zugelassenes neuartiges Lebensmittel (Novel Food).
4
Der Bevollmächtigte der Antragstellerin zeigte sich daraufhin mit Schreiben vom 8. April 2023 gegenüber A. als Bevollmächtigter der Antragstellerin an und wies darauf hin, dass diese sich vor dem Verkaufsstart mit der für sie zuständigen österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES) hinsichtlich der Frage, ob hier Novel Food vorliege, abgestimmt habe. Es sei bestätigt worden, dass nach den der AGES vorliegenden Daten Neem in Pulverform eingesetzt in der Lebensmittelkategorie Nahrungsergänzungsmittel nicht neuartig in diesem Sinne sei. Daher werde A. aufgefordert, die Sperre aufzuheben. Diese erwiderte hierauf mit Schreiben ihrer Rechtsabteilung vom 25. April 2023 dahingehend, dass nur für die Früchte der Neempflanze gegebenenfalls ein Verzehr als Lebensmittel in der EU nachgewiesen werden könne, sodass diese kein Novel Food im Sinne dieser Verordnung darstellten. Das streitgegenständliche Produkt bestehe aber aus Pulver, das aus den Blättern der Pflanze gewonnen werde. Die Blätter der Neempflanze seien ein zur Zeit nicht zugelassenes neuartiges Lebensmittel und dürften daher nicht in den Verkehr gebracht werden. Dies entspreche der rechtlichen Bewertung des Kreisverwaltungsreferats München, des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und des Bayerischen Landesamtes für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL). Die vorgelegte Stellungnahme der AGES differenziere nicht nach den Bestandteilen der Neempflanze, die aber unterschiedlich zu bewerten seien.
5
In der Folgezeit wandte sich eine andere Rechtsanwaltskanzlei (offenbar im Auftrag der Antragstellerin, jedoch ohne dieses Mandatsverhältnis offenzulegen) an das LGL mit der Bitte, die rechtliche Bewertung des Landesamtes, auf die A. im April 2023 einen Verkaufsstopp derartiger Produkte gestützt habe, zu erhalten. Dieses Ersuchen wurde zunächst mit E-Mail der Rechtsabteilung des LGL vom 20. Juli 2023 unter Hinweis auf den behördeninternen Charakter der Gutachten des LGL abgelehnt. Mit E-Mail vom 17. August 2023 wurde das im Auftrag des Landratsamts …, Lebensmittelüberwachung, bezüglich eines ähnlichen Produkts, das jedoch nicht von der Antragstellerin in den Verkehr gebracht wird, am 18. November 2022 erstellte Gutachten übermittelt. Daraufhin verlangte die Rechtsanwaltskanzlei (wiederum ohne Nennung der Antragstellerin) eine Erklärung gegenüber A., um den Verkaufsstopp zu beenden. Dies wurde vom LGL mit E-Mail vom 25. September 2023 abgelehnt.
6
Nach weiterem Schriftverkehr stellte der Bevollmächtigte der Antragstellerin mit Schreiben vom 13. Dezember 2023, das am gleichen Tag beim Bayerischen Verwaltungsgericht München eingegangen ist, für diese den vorliegenden Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Die Antragstellerin beantragt:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die im Befund/Gutachten vom 18. November 2022 mit dem Aktenzeichen … von dem Antragsgegner getätigte Aussage „Zusammenfassend ist daher davon auszugehen, dass es sich bei dem laut Deklaration enthaltenen “Neem Pulver“ um ein neuartiges Lebensmittel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Buchstabe a) Ziffer iv) VO (EU) 2015/2283 handelt, welches Art. 6 Abs. 2 VO (EU) 2015/2283 nicht entspricht.“ zu widerrufen.
7
Es bestehe ein Anordnungsgrund im Sinne von § 123 VwGO. Die Antragstellerin habe wesentliche Umsätze mit dem Produkt über die Verkaufsplattform von A. gemacht. Mit dem aufgrund des Gutachtens des Antragsgegners ausgesprochenen Verkaufsstopp sei die Antragstellerin an einem Vertrieb auf A. gehindert. A. leite sein Verkaufsverbot von der Einschätzung des Neemblattpulvers durch den Antragsgegner ab. Vor dem Verbot habe die Antragstellerin dort Umsätze von … EUR erzielt. Diese Umsätze seien komplett weggefallen und könnten nicht anderweitig ausgeglichen werden. Ohne den Widerruf würden der Antragstellerin irreparable Nachteile entstehen.
8
Ein Anordnungsanspruch sei gegeben, weil die streitgegenständliche Aussage auf den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Antragstellerin einwirke und zu erheblichen Umsatzeinbußen führe. Zunächst habe der Antragsgegner außerhalb seiner sachlichen und fachlichen Kompetenz und des erteilten Prüfungsumfangs eine gutachterliche Beurteilung eines Produktes als Novel Food vorgenommen und angekündigt, dies auch weiterhin tun zu wollen. Das Landratsamt … habe eine Probenahme zur Untersuchung und Begutachtung mit der Bemerkung „Zulässigkeit der Inhaltsstoffe“ an den Antragsgegner übersandt. Der Antragsgegner habe, ohne hierfür ermächtigt zu sein und ohne eine entsprechende Anfrage, Stellung zur aus seiner Sicht bestehenden Beurteilung von Neempulver als Novel Food genommen. Für die Einstufung als neuartiges Lebensmittel sei aber nicht die Behörde, sondern der Unternehmer in Eigenverantwortung zuständig. Erst wenn bei Neuartigkeit oder Zweifeln des Unternehmers ein Konsultationsverfahren gemäß Art. 4 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über neuartige Lebensmittel, zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates und der Verordnung (EG) Nr. 1852/2001 der Kommission (ABl. L 327 v. 11.12.2015 – Novel-Food-Verordnung, NFV) stattfinde, trete eine Behördenkompetenz ein. Hierfür sei auf nationaler Ebene das BVL zuständig.
9
Es bestehe auch keine funktionelle Zuständigkeit innerhalb der Organisation des Antragsgegners. Auch wenn eine Kompetenz bestehen würde, würden die an eine derartige Stellungnahme bzw. Einschätzung zu stellenden fachlichen Anforderungen nicht erfüllt. Der Antragsgegner verweise im Gutachten vom 18. November 2022 zwar auf angeblich durchgeführte Recherchen, habe eine solche aber auf Nachfrage nicht vorlegen können. In einem Schreiben vom 26. Oktober 2023 werde im Hinblick auf die Recherche auf verschiedene öffentlich zugängliche Quellen/Listen der Europäischen Kommission bzw. der Mitgliedstaaten verwiesen und insbesondere auf den EU Novel Food Katalog sowie die „Unionsliste“. Beim Antragsgegner bestehe offenbar die Rechtsauffassung, dass mit einem Blick in diese Unterlagen ermittelt werden könne, ob ein Lebensmittel vor dem Stichtag in nennenswertem Umfang in der Europäischen Union als Lebensmittel verzehrt worden sei. Dies sei komplett irrig (wird ausgeführt). Maßgeblich sei vielmehr, ob das Lebensmittel nicht vor dem Stichtag 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurde.
10
Die Feststellung der Novel-Food-Eigenschaft werde in dem streitgegenständlichen Gutachten rechtswidrig vor dem Akkreditierungssymbol der DAkkS erfasst. Eine dem Akkreditierungssymbol immanente Einschränkung, dass nur analytische Labortätigkeiten und keine Akkreditierung von Gutachtertätigkeiten erfasst würden, gebe es hier nicht. Insoweit laufe ein Beschwerdeverfahren bei der Deutschen Akkreditierungsstelle.
11
Eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache liege nicht vor. Dies sei nur der Fall, wenn die Entscheidung und ihre Folgen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auch nach der Hauptsache-Entscheidung nicht mehr rückgängig gemacht werden könnten. Hier stünden dem Verbot irreparable Nachteile der Antragstellerin gegenüber, da es aufgrund der streitgegenständlichen Aussage zu erheblichen Umsatzeinbußen gekommen sei und laufend weiter komme.
12
Mit Beschluss vom 20. Dezember 2023 hat das Verwaltungsgericht München sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Ansbach verwiesen (M 26b E 23.5944).
13
Der Antragsgegner hat sich mit Schriftsatz vom 22. Januar 2024 gegen den Antrag gewendet und beantragt,
den Antrag der Antragstellerin abzulehnen.
14
Es werde nicht in Abrede gestellt, dass Bestandteile des Neembaumes in traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln, vor allem in Indien und China, Verwendung finden mögen. Dies sei jedoch kein Hinweis für die Verwendung der Blätter als Lebensmittel/Nahrungsergänzungsmittel im Bereich der Europäischen Union in nennenswertem Umfang vor dem 15. Mai 1997.
15
Die Antragstellerin verschweige, dass nicht nur das BVL, sondern auch das österreichische Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz die in Rede stehenden Pflanzenteile des Neembaums als neuartiges Lebensmittel ansehe. Die entsprechenden Stellungnahmen beider Behörden habe das LGL der Antragstellerin mit E-Mail vom 27. Oktober 2023 übermittelt.
16
Tatsächlich sei das LGL nicht ohne Untersuchungsauftrag des Landratsamts tätig geworden. In dem Untersuchungsauftrag sei ausdrücklich auch um Prüfung der „Zulässigkeit der Inhaltsstoffe“ gebeten worden (Feld „Bemerkungen“ unter Ziffer 8 des Untersuchungsauftrags). Wesentlich zu beachten sei, dass das Gutachten des LGL bezüglich des Produkts eines nicht am vorliegenden Verfahren beteiligten Dritten erstellt worden sei.
17
Zur Novel-Food-Eigenschaft von Neem sei anzumerken, dass man unter dem Begriff neuartiges Lebensmittel alle Lebensmittel verstehe, die vor dem 15. Mai 1997 nicht in nennenswertem Umfang in der Europäischen Union für den menschlichen Verzehr verwendet worden seien und die mindestens in eine der in Art. 3 NFV genannten Kategorien fielen. Da Neemblattpulver eindeutig der Kategorie „aus Pflanzen oder Pflanzenteilen“ nach Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) Ziffer iv NFV zugeordnet werden könne, bleibe der Verzehr in nennenswertem Umfang in der EU zu prüfen. Der Lebensmittelunternehmer hätte sich mit dem Status des von ihm vertriebenen Erzeugnisses zwingend befassen müssen und das Produkt nicht einfach vertreiben dürfen. Es sei unzutreffend, dass das LGL für die Frage der Einstufung eines Lebensmittels als Novel Food nicht zuständig sei. Es nehme für sich nicht in Anspruch, eine europaweit zuständige Genehmigungsbehörde für Novel Food zu sein, vielmehr erfülle es lediglich seine ihm übertragenen gesetzlichen Aufgaben als Fachbehörde im Rahmen der Untersuchung von Erzeugnissen nach dem Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB). Teil dieser Aufgaben sei es, im Rahmen der Begutachtung von Proben im Auftrag der Kreisverwaltungsbehörden diesen Abweichungen von lebensmittelrechtlichen Vorschriften mitzuteilen, was vorliegend sogar ausdrücklich im Prüfauftrag erfolgt sei.
18
Die Antragstellerin habe zudem bisher nicht glaubhaft gemacht, dass das streitgegenständliche Gutachten überhaupt an A. gelangt sei. Worauf A. seine dem Vertriebsverbot zugrundeliegende Rechtsauffassung stütze, sei dem Antragsgegner und offenbar auch der Antragstellerin nicht bekannt. Der vage Hinweis, die rechtliche Bewertung von A. entspreche der des LGL, lasse keine Rückschlüsse auf das streitgegenständliche Gutachten zu.
19
Das LGL habe auch keine unzureichende Recherche betrieben (wird ausgeführt). Die rechtmäßige oder unrechtmäßige Verwendung des DAkkS-Akkreditierungssymbols stehe in keinem sachlichen Zusammenhang mit dem Eilverfahren (wird ausgeführt).
20
In rechtlicher Hinsicht wurde vorgetragen, dass der Antrag bereits wegen des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig sei. Das im Auftrag des Landratsamts … erstellte Gutachten sei in Bezug auf das Produkt eines nicht am Verfahren beteiligten Dritten erstellt worden. Mit ihm seien keine Eingriffe in Rechtspositionen der Antragstellerin verbunden. Daneben wende sich die Antragstellerin gegen den falschen Antragsgegner, da sie erreichen wolle, ihre Produkte wieder über die Online-Plattform von A. verkaufen zu können. Dieses Rechtsschutzziel müsse sie gegenüber A. durchsetzen. Weiterhin fehle es an einem Anordnungsgrund, da das Verkaufsverbot nach dem eigenen Vortrag der Antragstellerin bereits seit dem 7. April 2023 bestehe, der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung aber erst am 13. Dezember 2023 gestellt worden sei. Wenn die Antragstellerin selbst eine Eilbedürftigkeit erst nach acht Monaten erkenne, sei ihr die Verfolgung ihrer Rechtspositionen im Hauptsacheverfahren zumutbar.
21
Schließlich bestehe auch kein Anordnungsanspruch. Die Antragstellerin habe kein subjektiv-öffentliches Recht auf Widerruf der im Gutachten vom 18. November 2022 enthaltenen Feststellung. Die Äußerung, die sich auf das Produkt eines unbeteiligten Dritten beziehe, sei zutreffend und rechtmäßig. Die Antragstellerin habe die Rechtsunsicherheit, ob ihr Produkt in den Anwendungsbereich der NFV falle, selbst zu vertreten. Bei einer solchen Unsicherheit könne, wie sie selbst vortrage, ein sogenanntes Konsultationsverfahren durchgeführt werden. Wenn dies nicht getan werde, müsse das Unternehmen die Rechtsunsicherheit hinnehmen. Soweit eine fehlende Behördenkompetenz geltend gemacht werde, werde auf die Ausführungen im Urteil des VG Würzburg vom 10. November 2023 (W 8 K 23.340) verwiesen. Mangels anderweitiger Kenntnisse müsse der Antragsgegner davon ausgehen, dass die Antragstellerin auch bei der zuständigen österreichischen Behörde keine Belege für einen nennenswerten Verzehr vor dem 15 Mai 1997 vorgelegt und auch kein Konsultationsverfahren eingeleitet habe. Die offizielle Anfrage des LGL über das BVL beim zuständigen österreichischen Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz vom 19. September 2023 habe ergeben, dass dieses Neemblattpulver als ein neuartiges Lebensmittel ansehen würde. In dem Schreiben des österreichischen Ministeriums werde ausgeführt, dass die Früchte der Neempflanze bei einer Verwendung ausschließlich in der Lebensmittelkategorie Nahrungsergänzungsmittel als nicht neuartig gälten. Andere Pflanzenteile wie zum Beispiel die Blätter seien nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr vor dem Stichtag 15. Mai 1997 in einem Lebensmittel verwendet worden. Aufgrund dessen sei das Inverkehrbringen anderer Pflanzenteile als Lebensmittel ohne eine vorhergehende Zulassung gemäß NFV nicht möglich.
22
Der Bevollmächtigte der Antragstellerin erwiderte hierauf mit Schriftsatz vom 5. Februar 2024, dass ein nicht in der Unionsliste aufgeführtes Lebensmittel nicht zwingend ein neuartiges Lebensmittel sei. Maßgeblich sei allein, ob das Lebensmittel vor dem 15. Mai 1997 in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet worden sei. Die Antragstellerin habe vor Inverkehrbringen des streitgegenständlichen Produkts auf ihre Anfrage am 3. Dezember 2020 die Information von der AGES erhalten, dass aufgrund der dort vorliegenden Daten Azadirachta indica (Neem) in Pulverform eingesetzt in der Lebensmittelkategorie Nahrungsergänzungsmittel als nicht neuartig erachtet werde. Darüber hinaus gebe es in Rumänien eine Liste der in Nahrungsergänzungsmitteln zugelassenen Pflanzen. Darin seien auf Seite 15 ausdrücklich die Blätter (folium) von „Azadirachta indica A.Juss“ als zugelassene Pflanzen gelistet. Diese rumänische Liste habe der Antragsgegner nicht in die Recherche einbezogen. Der Verkaufsstopp durch A. beruhe ursächlich auf der Rechtsauffassung des Antragsgegners. A. beziehe sich zwar auch auf das BVL, dies ändere jedoch nichts daran, dass A. die Rechtsauffassung des Antragsgegners als verbindlich und ursächlich heranziehe. Es sei ausschließlich die Entscheidung des Antragstellers, in welcher Form er gegen weitere Behörden vorgehe. Zudem behaupte das BVL gerade nicht die Novel-Food-Eigenschaft von Neemblattpulver, sondern verweise konstant korrekterweise auf die allgemeine Rechtslage. Das BVL treffe also gerade nicht die undifferenzierte Aussage, dass es sich um neuartige Lebensmittel handele. Schließlich stehe die Verwendung des Akkreditierungssymbols sehr wohl im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Verfahren (wird ausgeführt).
23
Auf gerichtliche Nachfrage stellte der Bevollmächtigte der Antragstellerin mit Schreiben vom 1. März 2024 klar, dass der Widerruf gegenüber dem Adressaten des Gutachtens, dem Landratsamt …, erfolgen solle. Da aber Dritte wie beispielsweise A. von dem Gutachten Kenntnis hätten, müsse es erlaubt sein, den Widerruf des Gutachtens auch Dritten bekanntzugeben.
24
Der Antragsgegner führte mit Schreiben vom 13. März 2024 ergänzend zu den Ausführungen im Schriftsatz der Antragstellerin vom 5. Februar 2024 aus, dass sowohl die obersten deutschen wie die österreichischen Behörden übereinstimmend erklärten, dass es sich bei Neemblattpulver um ein neuartiges Lebensmittel handele. Die in der E-Mail der AGES vom 3. Dezember 2020 vertretene Einschätzung sei von der zuständigen obersten Behörde in Österreich offensichtlich berichtigt worden. Die Beweislast, dass ein nicht neuartiges Lebensmittel vorliege, liege beim betreffenden Lebensmittelunternehmer. Diesen Nachweis habe die Antragstellerin offenbar nicht erbracht, da eine aktuelle Nachfrage beim zuständigen österreichischen Bundesministerium ergeben habe, dass diese Neemblattpulver ebenfalls als neuartiges Lebensmittel ansehe. Wenn sich der Lebensmittelunternehmer insoweit nicht sicher sei, könne ein Konsultationsverfahren nach Art. 4 NFV durchgeführt werden, spätestens seit dem Verkaufsstopp von A. hätten bei der Antragstellerin derartige Zweifel vorliegen müssen. Die vorgelegte Liste des rumänischen Landwirtschaftsministeriums datiere vom 6. Dezember 2022 und könne damit für das streitgegenständliche Gutachten vom 23. November 2022 nicht maßgeblich gewesen sein. Daneben sei unklar, welche rechtliche Qualität diese und die von der Antragstellerin als Anlage ASt. 17 vorgelegte Liste hätten. Daneben wurde die Argumentation zur Verwendung des DAkkS-Akkreditierungssymbols vertieft. Der Widerruf einer Feststellung oder Aussage würde zumindest voraussetzen, dass diese mit Außenwirkung an einen konkreten Adressaten gerichtet worden sei, woran es vorliegend bei dem im verwaltungsinternen Verhältnis zwischen dem LGL und dem Landratsamt … ergangenen Gutachten vollständig fehle. Daran ändere auch der vage Hinweis, die rechtliche Bewertung von A. entspreche der des LGL, nichts.
25
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Behördenakten Bezug genommen.
II.
26
Die Sachentscheidungsvoraussetzungen für den Antrag liegen vor (hierzu 1.), er ist aber unbegründet (hierzu 2.). Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch im Sinne von § 123 VwGO glaubhaft machen können.
27
1. a) Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet. In der Sache macht die Antragstellerin gegenüber dem Antragsgegner einen öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch geltend. Damit handelt es sich hier zweifellos um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinne von § 40 Abs. 1 VwGO.
28
b) Das Verwaltungsgericht Ansbach ist sachlich nach § 45 VwGO und örtlich aufgrund der Verweisung des Verfahrens durch das Verwaltungsgericht München, die nach § 83 VwGO, § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG für das Verwaltungsgericht Ansbach bindend ist, zuständig.
29
c) Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO ist auch statthaft. Er ist darauf gerichtet, den Antragsgegner, vertreten durch das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die in seinem Gutachten vom 18. November 2022 gemachte Aussage, bei Neempulver handele es sich um ein neuartiges Lebensmittel im Sinne der NFV, gegenüber dem Adressaten des Gutachtens, dem Landratsamt …, zu widerrufen und diesen Widerruf gegebenenfalls auch anderen Stellen, an die das Gutachten gelangt ist, zugänglich zu machen.
30
In der Hauptsache wäre für ein derartiges Klageverfahren die allgemeine Leistungsklage auf Widerruf der Aussagen des Gutachtens statthaft, da es sich bei der streitigen gutachterlichen Äußerung um eine tatsächliche Handlung und nicht etwa um einen Verwaltungsakt handelt. Folglich wäre in der Hauptsache keine Anfechtungsklage statthaft, sodass einstweiliger Rechtsschutz nicht über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO geltend zu machen wäre. Damit ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hier nicht im Sinne von § 123 Abs. 5 VwGO nachrangig.
31
d) Die Antragstellerin ist auch nach § 42 Abs. 2 VwGO analog antragsbefugt. § 42 Abs. 2 VwGO stellt einen allgemeinen Prozessrechtsgrundsatz auf, der auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO zu berücksichtigen ist. Daher muss für die Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sowohl ein Anordnungsanspruch als auch an Anordnungsgrund möglicherweise vorliegen (Schoch in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand März 2023, § 123 VwGO, Rn. 107).
32
Da auf dieser Ebene bereits die Möglichkeit eines Anordnungsanspruchs und eines Anordnungsgrundes ausreicht, steht der Antragsbefugnis weder entgegen, dass die streitige Feststellung in einem Gutachten des LGL, das nicht das Produkt der Antragstellerin betroffen hat, getroffen wurde, noch dass es sich dabei um ein Verwaltungsinternum handelte. Stattdessen sind diese Fragen in der Begründetheit des Antrags zu behandeln.
33
Ebenso wenig spricht gegen die Möglichkeit eines Anordnungsgrundes (Dringlichkeit der einstweiligen Anordnung), dass es von dem von A. verhängten Verkaufsstopp im April 2023 bis zur Einreichung des vorliegenden Antrags beim Verwaltungsgericht München über ein halbes Jahr gedauert hat. Denn diese verstrichene Zeit ist zu einem großen Teil damit zu begründen, dass die Antragstellerin zunächst versuchen musste, in den Besitz des streitgegenständlichen Gutachtens zu gelangen.
34
e) Dem Antrag fehlt auch nicht das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis. Dabei handelt es sich um eine allgemeine Sachentscheidungsvoraussetzung, die insbesondere dem Schutz der Gerichte vor überflüssiger Inanspruchnahme dient (Sodan in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 42 Rn. 335). Wird eine Klage oder ein einstweiliger Rechtsschutzantrag gestellt, so ist grundsätzlich vom Bestehen des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses auszugehen. Es fehlt lediglich ausnahmsweise, wenn besondere Umstände vorliegen (vgl. Ehlers in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand März 2023, Vorbemerkung § 40 VwGO, Rn. 80). Anerkannte Fallkonstellationen hierfür sind der Missbrauch der Rechtsschutzmöglichkeit, wenn ein einfacherer Weg zur Erreichung des Rechtsschutzziels besteht und wenn der Rechtsbehelf für den Antragsteller oder Kläger nutzlos ist. Grundsätzlich ist dabei ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. Wöckel in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, Vorb. §§ 40-53, Rn. 11).
35
aa) Die (zivilgerichtliche) Inanspruchnahme von A. stellt in diesem Sinne keinen einfacheren Weg zur Erreichung des Rechtsschutzziels dar.
36
Dies ergibt sich schon daraus, dass das hier verfolgte Ziel eines Widerrufs der im Gutachten vom 18. November 2022 getroffenen Aussage durch den Antragsgegner in einem solchen Verfahren nicht erreicht werden könnte. Aber auch wenn man mit dem Antragsgegner das Rechtsschutzziel der Antragstellerin in einem weiteren Sinn verstehen würde, stellte ein zivilgerichtliches Vorgehen gegen A. keinen einfacheren Weg dar. Denn A. würde sich in einem zivilgerichtlichen einstweiligen Rechtsschutzverfahren wie bereits vorprozessual wohl wiederum darauf berufen, dass das LGL die in dem streitgegenständlichen Gutachten formulierte Position vertritt. Es liegt daher jedenfalls nicht auf der Hand, dass eine zivilgerichtliche Inanspruchnahme von A. ein einfacherer Weg in diesem Sinne wäre, um das Ziel, das Produkt der Antragstellerin wieder über A. verkaufen zu können, zu erreichen.
37
bb) Auch die Durchführung eines Verfahrens nach Art. 4 Abs. 2 NFV wäre kein einfacherer Weg zur Erreichung des Rechtsschutzziels in diesem Sinne.
38
Wenn sich ein Lebensmittelunternehmer nicht sicher ist, ob ein Lebensmittel, das er in der Union in den Verkehr bringen will, in den Anwendungsbereich der NFV fällt, sieht die NFV in Art. 4 Abs. 2 die Möglichkeit vor, dass er ein sogenanntes Konsultationsverfahren einleitet: Dabei wendet sich der jeweilige Lebensmittelunternehmer an die zuständige Behörde seines Mitgliedstaats (in Deutschland das BVL, § 1 Nr. 1 NLV (vgl. Meisterernst, Lebensmittelrecht, 1. Aufl. 2019, § 14 Rn. 31)), die dann auf der Grundlage der vom Lebensmittelunternehmer selbst gelieferten und von anderen Mitgliedstaaten beigesteuerten Informationen in einem Verfahren prüft, ob es sich um ein neuartiges Lebensmittel in diesem Sinne handelt und dies gegebenenfalls feststellt (vgl. Ballke in Sosnitza/Meisterernst, Lebensmittelrecht, Stand August 2023, VO (EU) Nr. 2015/2083, Art. 4, Rn. 47).
39
In diesem Verfahren lässt sich wiederum das hier von der Antragstellerin verfolgte Ziel des Widerrufs der im Gutachten vom 18. November 2022 getroffenen Aussage nicht erreichen. Das Verfahren stellt aber auch dann, wenn man das Rechtsschutzziel in einem weiteren Sinne verstehen würde, keinen einfacheren Weg zu seiner Erreichung dar. Denn es würde wegen der nach Art. 4 Abs. 2 NFV notwendigen wechselseitigen Konsultationspflichten erheblich länger als ein Verfahren nach § 123 VwGO dauern. Daher lässt es das Rechtsschutzbedürfnis nicht entfallen.
40
2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.
41
Er richtet sich zwar mit dem Freistaat Bayern als dem Rechtsträger der Behörde, die die nach Auffassung der Antragstellerin zu widerrufende gutachterliche Äußerung getätigt hat, gegen den richtigen Antragsgegner (§ 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO analog). Die Antragstellerin konnte jedoch keinen den Antrag rechtfertigenden Anordnungsanspruch glaubhaft machen, § 123 Abs. 1, Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920, 294 ZPO.
42
a) Die Antragstellerin führt in ihren Schriftsätzen, ohne den von ihr geltend gemachten Rechtsanspruch genauer zu bezeichnen, allein aus, dass ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Antragstellerin erfolgt sei. In der Sache macht sie damit aber offensichtlich einen öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch geltend.
43
Dieser ist in Rechtsprechung und Lehre allgemein anerkannt (vgl. grundlegend Ossenbühl/ Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Aufl. 2013, 7. Teil; VG Ansbach, B.v. 3.2.2021 – AN 14 E 20.01380 – juris Rn. 5 f.f). Als seine Rechtsgrundlage werden (mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung) der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Freiheitsgrundrechte des Grundgesetzes in ihrer Funktion als Abwehrrechte, eine Analogie zu §§ 12, 862 und 1004 BGB sowie die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG herangezogen. Woraus er abzuleiten ist, kann jedoch im Ergebnis dahingestellt bleiben, da der Anspruch allgemein anerkannt ist. Tatbestandsvoraussetzungen des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs sind ein Eingriff in ein subjektives Recht, ein hoheitlicher Eingriff als Verletzungshandlung, die Rechtswidrigkeit des hoheitlichen Eingriffs sowie, dass der rechtswidrige Zustand noch fortbesteht (vgl. Ossenbühl/Cornils, a.a.O., 7. Teil, V.).
44
b) Die Antragstellerin hat die Tatbestandsvoraussetzungen des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs gegenüber dem Antragsgegner nicht glaubhaft machen können.
45
aa) Voraussetzung des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs ist zunächst ein Eingriff in ein subjektives Recht des Betroffenen.
46
Die Antragstellerin führt in ihren Schriftsätzen insoweit einen nicht gerechtfertigten Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb an. Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist im Rahmen des § 823 Abs. 1 BGB als Schutzgut anerkannt. Grundrechtlich ist dagegen umstritten, ob der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb der Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG oder der Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG zuzurechnen ist (vgl. zum Ganzen Axer in BeckOK GG, Stand 15.1.2024, Art. 14 Rn. 51 ff.). Vorzugswürdig ist dabei die Auffassung, die Eingriffe in den Gewerbebetrieb dem Art. 12 GG zurechnet. Denn die Eigentumsfreiheit in Art. 14 GG schützt das bereits Erworbene, wohingegen Art. 12 GG den Erwerbsvorgang der beruflichen Tätigkeit an sich schützt (vgl. Ruffert in BeckOK GG, Stand 15.1.2024, Art. 12 Rn. 161 m.w.N.).
47
Im vorliegenden Fall ist daher die Berufsfreiheit nach Art. 12 GG betroffen, da die Antragstellerin sich durch die in dem streitgegenständlichen Gutachten getroffene Aussage des Antragsgegners in ihrer beruflichen Tätigkeit beeinträchtigt sieht. Der Schutzbereich des Art. 12 GG ist hier auch eröffnet.
48
bb) Allerdings liegt kein Eingriff in dieses Grundrecht von Seiten des Antragsgegners vor.
49
Der Antragsgegner hat durch seine Aussagen in dem an das Landratsamt … gerichteten Gutachten vom 18. November 2022 nicht im Sinne des klassischen Eingriffsbegriffs in den Schutzbereich des Art. 12 GG zulasten der Antragstellerin eingegriffen. Nach dem klassischen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn von staatlicher Seite ein unmittelbarer und gezielter (finaler) Eingriff durch ein staatliches Ge- oder Verbot in den Schutzbereich eines Grundrechts erfolgt (BVerfG, B.v. 26.6.2002 – 1 BvR 670/91 – juris Rn. 68). Dies ist hier schon aus dem Grund nicht der Fall, als das Gutachten überhaupt nicht in Bezug auf ein Produkt der Antragstellerin erstellt wurde.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Eingriffsbegriff aber nicht auf die klassischen Eingriffsfälle beschränkt, vielmehr wird in Erweiterung des klassischen Eingriffsbegriffs grundrechtlicher Schutz auch gegenüber Realakten gewährt (BVerfG a.a.O, Rn.70; Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Vorb. zu Abschnitt I, Rn. 83; VG Ansbach, B.v. 3.2.2021 – AN 14 E 20.01380 – juris Rn. 58 m.w.N.). Die diesbezügliche verfassungsrechtliche Literatur ist zwar eher uneinheitlich (vgl. die Nachweise bei VG Ansbach, B.v. 3.2.2021 – AN 14 E 20.01380 – juris Rn. 59), beurteilt die Eingriffsqualität aber weitgehend nach den maßgeblichen Kriterien Finalität, Unmittelbarkeit und Erheblichkeit. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der Abwehrgehalt eines Grundrechts im Sinne eines Eingriffs betroffen, wenn die faktischen oder mittelbaren Beeinträchtigungen Eingriffen in Zielrichtung bzw. Zielsetzung und Wirkung gleichkommen (vgl. BVerfG, B.v. 11.7.2006 – 1 BvL 4/00 – BVerfGE 116,202 – juris Rn. 82; U.v. 17.12.2002 – 1 BvL 28/95 u.a. – BVerfGE 106, 275, juris Rn. 107; U.v. 17.3.2004 – 1 BvR 1266/00 – juris Rn. 35; B.v. 13.2.2017 – 1 BvR 1389/05 – juris Rn. 79). Gemeinsam ist allen diesen Positionen das Bestreben, nicht jede noch so entfernte mittelbare Folge staatlicher Maßnahmen als Grundrechtseingriff zu werten (so ausdrücklich VG München, U.v. 26.10.2017 – M 10 K 16.5485 – BeckRS 2017, 141281, Rn. 20 unter Verweis auf Kokott in Sachs, GG, 7. Aufl. 2014, Art. 4, Rn. 119 ff.).
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(1) Im vorliegenden Fall wurde das Gutachten vom 18. November 2022 nicht in Bezug auf ein Produkt der Antragstellerin erstellt. Das LGL hat dementsprechend auch keinerlei Zweck mit dem Gutachten in Bezug auf die Antragstellerin verfolgt. Eine Finalität in Bezug auf die Antragstellerin liegt daher zweifellos nicht vor.
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(2) Das Gutachten hat auch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Antragstellerin gezeitigt. Es handelt sich dabei einerseits um ein Verwaltungsinternum, das allein an die Behörde, die die Probenentnahme bezüglich des von einer Konkurrentin der Antragstellerin vertriebenen Produkts beauftragt hat (das Landratsamt …*) gerichtet war. Für diese, mit dem Vollzug lebensmittelrechtlicher Vorschriften in Bezug auf das Produkt, das Gegenstand des Gutachtens war, zuständige Behörde war das Gutachten eine für seine Entscheidung heranzuziehende gutachterliche Stellungnahme einer fachkundigen Behörde. Erst wenn das Landratsamt … auf der Grundlage des Gutachtens zu der Überzeugung gelangt wäre, dass gegenüber dem Hersteller verwaltungsrechtliche Maßnahmen ergriffen werden müssten, hätte das Gutachten Wirkungen entfaltet.
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Im Fall der Antragstellerin kommt andererseits noch hinzu, dass auch Vollzugsmaßnahmen des Landratsamts … keine, geschweige denn eine unmittelbare Auswirkung auf die Antragstellerin gehabt hätten. Diese war erst durch die (mögliche) Vermittlung des Verkaufsportals A. von den Aussagen des Gutachtens betroffen. Dementsprechend liegt hier eine gewissermaßen doppelte Unmittelbarkeit vor (vgl. ähnlich und aus dem gleichen Grund einen Grundrechtseingriff verneinend VG München, U.v. 26.10.2017 – M 10 K 16.5485 – BeckRS 2017, 141281, Rn. 21).
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Weiter ist hier zu berücksichtigen, dass A. sich nicht nur und ausschließlich auf die Rechtsauffassung des LGL, wie sie im Gutachten vom 18. November 2022 geäußert wurde, zur Begründung seines Verkaufsstopps berufen hat, sondern daneben auch die Rechtsauffassungen des BVL und des Kreisverwaltungsreferats der Landeshauptstadt … angeführt hat. Die Rechtsauffassung des LGL laut dem streitgegenständlichen Gutachten war auch in der Mitteilung über den Verkaufsstopp nicht in irgendeiner Weise gegenüber den anderen beiden Stellen hervorgehoben, so dass man daraus schließen könnte, dass A. sich maßgeblich auf das LGL berufen hätte. Dafür spricht auch nicht die Argumentation der Antragstellerin, das BVL treffe in seinem Schreiben vom 30. September 2022, anders als das LGL, keine undifferenzierte Aussage, dass es sich um neuartige Lebensmittel handele, sondern weise nur darauf hin, dass ihm keine Informationen zum Verzehr in nennenswertem Umfang vorlägen. Diese Argumentation ist aus der Sicht des Gerichts nicht nachvollziehbar. Denn auch das BVL führt – wenn auch unter Hinweis darauf, dass diese Aussage auf der Grundlage der ihm vorliegenden Informationen erfolge – deutlich aus, dass nur die Verwendung der Früchte der Neempflanze und nur in Nahrungsergänzungsmitteln nicht als Novel Food einzustufen sei. Damit lässt sich auch aus dem Schreiben des BVL entnehmen, dass das Produkt der Antragstellerin – vorbehaltlich anderer Informationen – nach dessen Auffassung Novel Food darstelle. Dass diese Aussage des BVL für A. gegenüber der gutachterlichen Aussage des LGL nur von untergeordneter Bedeutung gewesen wäre, liegt angesichts der eindeutigen Positionierung des BVL nicht nahe.
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Von unmittelbaren Auswirkungen des Gutachtens auf die grundrechtlich geschützte gewerbliche Betätigung der Antragstellerin kann daher keine Rede sein.
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(3) Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das streitgegenständliche Gutachten des LGL eindeutig nicht auf das Produkt der Antragstellerin und damit auch nicht auf deren Berufsausübung abgezielt hat. Weiter hatte es keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Antragstellerin. Dass der Antragstellerin nach ihren Angaben aufgrund des Verkaufsstopps Einnahmen in fünfstelliger Höhe entgangen sind, vermag diesen Mangel nicht in dem Sinne zu kompensieren, dass dennoch ein Eingriff durch das streitgegenständliche Gutachten in die Berufsfreiheit der Antragstellerin glaubhaft gemacht wäre.
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Im Ergebnis liegt damit kein Eingriff in die Berufsfreiheit der Antragstellerin vor. Ein öffentlich-rechtlicher Folgenbeseitigungsanspruch scheidet daher schon aus diesem Grunde aus. Ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht.
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Die Frage, ob hier überhaupt ein Anordnungsgrund vorliegt, kann daher ebenso dahingestellt bleiben wie die weiteren von der Antragstellerin vorgebrachten Argumente (tatsächliche Verwendung von Neemblattpulver als Lebensmittel vor dem Stichtag in der Europäischen Union, rechtswidrige Verwendung des Zertifizierungssymbols, fehlende Kompetenz des LGL für die im Gutachten getroffene Aussage).
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Nach alledem ist der Antrag mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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Nach § 52 Abs. 1 GKG ist in Verfahren vor den Gerichten der Verwaltungsgerichtsbarkeit der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers bzw. Antragstellers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Im vorliegenden Fall hat die Antragstellerin ausgeführt, dass sie im Zeitraum vom 1. Dezember 2022 bis zum 21. April 2023 über A. Einnahmen in Höhe von 21.131,57 EUR generierte, dem hätten Marketingmaßnahmen bei A. in Höhe von 4024,47 EUR gegenübergestanden. Dies ergibt in dem genannten Zeitraum einen Überschuss in Höhe von 17.107,10 EUR. Rechnet man dies auf einen Jahresbetrag um, so kommt man auf einen Streitwert in Höhe von rund 40.000 EUR. Eine Reduzierung des Streitwerts entsprechend Ziffer 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit war vorliegend nicht angezeigt, da der Antrag in der Sache im Wesentlichen auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet war.