Inhalt

BayObLG, Beschluss v. 11.01.2024 – 102 AR 221/23 e
Titel:

Zuständigkeitsstreitwert bei einer die Rückzahlung von Prämienerhöhungen betreffenden Stufenklage

Normenketten:
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6, § 254, § 281 Abs. 2 S. 2, S. 4
GVG § 23 Nr. 1, § 71
VVG § 203
Leitsätze:
1. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als iRd § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es entspricht einer verbreiteten Auffassung, dass sich der Zuständigkeitsstreitwert bei einer Stufenklage nicht durch Addition der Werte der verschiedenen Stufen ergibt, sondern sich nach dem Wert des Hauptantrags richtet. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3. Allein das Fehlen konkreten Vortrags zum Zuständigkeitsstreitwert kann nicht dazu führen, dass das verweisende Gericht den Streitwert auf einen seine Zuständigkeit unterschreitenden Wert festsetzt, ohne auch nur ansatzweise erkennbar darzulegen, aufgrund welcher Anhaltspunkte es die Bewertung vorgenommen hat. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
4. Das Zitat von Entscheidungen zum Zuständigkeitsstreitwert ersetzt eine Begründung seiner Höhe nicht. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
5. Die Berechnung des Zuständigkeitsstreitwerts kann sich auf den statistisch ermittelten durchschnittlichen jährlichen Vomhundertsatz der Steigerung der Prämienbelastung zurückliegender Jahre multipliziert mit der Zahl der Jahre, für die eine Rückzahlung beansprucht wird, stützen. (Rn. 31 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Zuständigkeitsbestimmung, Stufenklage, Zuständigkeitsstreitwert, Verweisungsbeschluss, Bindungswirkung, willkürliche Entscheidung, Rückzahlungsanspruch, Beitragsanpassung, durchschnittliche jährliche Prämienerhöhung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 758

Tenor

Sachlich zuständig ist das Landgericht München I.

Gründe

I.
1
Mit ihrer zum Landgericht München I erhobenen Klage vom 12. Mai 2023 wendet sich die Klägerin gegen Prämienerhöhungen ihrer privaten Krankenversicherung und verlangt im Wege der Stufenklage Auskunft und Rückzahlung von Beitragserhöhungen.
2
Die Klägerin hat in der Klageschrift folgende Anträge angekündigt:
1. Die Beklagtenseite wird verurteilt, der Klägerseite für alle Beitragserhöhungen im versicherten Zeitraum vom 01.01.2008 bis 12.05.2023 außer für die Beitragserhöhungen aus den Jahren 2008, 2009, 2018, 2019, 2020, 2021, 2022 und 2023 gem. § 259 BGB Auskunft über die Höhe der Prämieneinnahmen in den jeweiligen Krankenversicherungstarifen zu dem zwischen den Parteien geschlossenen Vertrag zur Versicherungsnummer ...  zu erteilen, mit Ausnahme der Prämieneinnahmen aus Pflegepflichtversicherungstarifen; dies durch
- die Mitteilung der im jeweiligen Jahr aktiven Tarife und
- der für diese Tarife im jeweiligen Jahr vorgenommenen Beitragserhöhungen unter Angabe des Datums der Beitragserhöhung.
2. Es wird festgestellt, dass die nach Erteilung der Auskunft gemäß dem Klageantrag zu 1) noch genau zu benennenden, einseitigen Erhöhungen in den Krankenversicherungstarifen der Klägerseite im Zeitraum zwischen dem 01.01.2008 und dem 12.05.2023, die die Beklagtenseite gegenüber der Klägerseite im Rahmen des zwischen ihnen bestehenden Krankenversicherungsverhältnisses zur Versicherungsnummer ... vorgenommen hat, unwirksam sind sowie dass der monatlich fällige Gesamtbetrag für die Zukunft auf einen nach Erteilung der Auskunft gemäß dem Klageantrag zu 1) noch genau zu beziffernden Betrag zu reduzieren ist, wobei sämtliche Tarife der Pflegepflichtversicherung von dieser Feststellung ausgeschlossen sind.
3. Die Beklagtenseite wird verurteilt, an die Klägerseite einen nach Erteilung der Auskunft gemäß dem Klageantrag zu 1) noch zu beziffernden Betrag, der sich aus den aufgrund der unter 2. festgestellten Unwirksamkeit ergebenden rechtsgrundlosen Zahlungen der Klagepartei an die Beklagte ergibt, zu zahlen, nebst der gezogenen Nutzungen hieraus seit ungerechtfertigter Zahlung bis zur Rechtshängigkeit sowie nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
4. (…).
3
Zur Klagebegründung hat die Klägerin insbesondere vorgetragen, die Beklagte habe die Prämien nach § 203 Abs. 2 VVG erhöht. Sämtliche Beitragsanpassungen in dem Zeitraum, für den sie Rückforderungen geltend mache, seien jedoch wegen formaler Fehler in den von der Beklagten verwendeten Anschreiben und Informationsschreiben an ihre Versicherungsnehmer (“Beiblätter”) oder materieller Fehler, die die treuhänderische Zustimmung rechtsfehlerhaft machten, unwirksam. Sie, die Klägerin, habe die anteiligen Erhöhungsbeiträge jeweils bezahlt und bezahle sie auch aktuell noch. Der geltend gemachte Auskunftsanspruch diene „allein der Bezifferung des Leistungsanspruchs“. Die Nachträge, aus denen sich die genaue Höhe sowie der Zeitpunkt der einzelnen Erhöhungen ergäben, lägen ihr, der Klägerin, nicht mehr vollständig vor; sie habe nur noch die Nachträge der Jahre 2008, 2009, 2018, 2019, 2020, 2021, 2022 und 2023. Vorliegend würden nur die seit 1. Januar 2020 bezahlten Beträge zurückgefordert. Zur Höhe des Streitwerts, den die Klägerin auf 16.000,00 € beziffert hat, hat sie vorgetragen, sie gehe von einem Wert des Feststellungsantrags zu 2) in Höhe von 8.000,00 EUR (Feststellung unwirksamer Beitragserhöhungen für zukünftige Zahlungen) sowie von einem Wert des Leistungsantrags zu 3) in Höhe von 8.000,00 € aus. Hinsichtlich der mit dem Klageantrag zu 2) verfolgten negativen Feststellung, dass die Beitragserhöhungen unrechtmäßig erfolgt seien, sei der Streitwert gemäß § 9 ZPO und § 48 Abs. 1 GKG mit dem dreieinhalbfachen Jahresbetrag des streitigen Unterschiedsbetrags zu bemessen, da es sich um eine Klage auf Erhöhung oder Herabsetzung wiederkehrender Leistungen handle (vgl. BGH, Beschluss vom 16.02.2012 – V ZB 271/11; BeckOK ZPO/Wendtland, 31. Ed. 1.12.2018, ZPO § 9 Rn. 9, 10). Für die Berechnung des Streitwerts sei eine der realistischen Erwartung entsprechende Höhe des Rückzahlungsanspruchs im Zeitpunkt der Antragstellung (§ 40 GKG, § 4 Abs. 1 Halbsatz 1) nach § 3 Halbsatz 1 ZPO zu schätzen (vgl. Musielak/Voit/Heinrich, 18. Aufl. 2021, ZPO § 3 Rn. 34). Sie gehe bei dem Leistungsantrag (Klageantrag zu 3]) von einer Anspruchshöhe in Höhe von 8.000,00 € aus. Diese Schätzung werde auf den Mittelwert der Rückzahlungsansprüche gestützt, welche in Parallelverfahren gegen die Beklagte und deren Mitbewerber und Mitbewerberinnen präzise berechnet worden seien. Ihre Rechtsschutzversicherung habe eine eigene Schätzung vorgenommen und halte diesen Streitwert für adäquat.
4
Mit Beschluss vom 15. Mai 2023 hat das Landgericht den Streitwert vorläufig auf 4.500,00 € festgesetzt. Da die Klagepartei nicht konkret vortrage, welche Prämienanpassungen möglicherweise vorgelegen haben und welche Rückforderungsansprüche im konkreten Fall daraus zu erwarten sein könnten, sei der Streitwert auf 4.500,00 € festzusetzen (OLG Dresden, Beschluss vom 9. August 2022 – 6 U 799/22 –, Rn. 33, juris [EUR 5.000,00]; OLG Nürnberg Endurteil v. 14.3.2022 – 8 U 2907/21, BeckRS 2022, 7415 Rn. 39 [EUR 4.000,00]; OLG Köln, Urteil vom 13. Mai 2022 – I-20 U 198/21 –, Rn. 94 [EUR 4.000,00]; LG Leipzig, 13. Januar 2022, 3 O 1432/21 [EUR 5.000,00]). An den Streitwertvorschlag der Klagepartei sei das Gericht, da dieser ohne konkrete Anhaltspunkte erfolge, nicht gebunden.
5
Die Klägerin hat mit Schriftsatz vom 22. Mai 2023 entgegnet, sie gehe weiterhin davon aus, dass der Streitwert bei insgesamt 16.000,00 € liege, und lediglich hilfsweise, für den Fall, dass das Gericht an seiner Auffassung festhalte, beantragt, den Rechtsstreit an das Amtsgericht München zu verweisen.
6
Die Beklagte, der die Klage, der Beschluss vom 15. Mai 2023 und der klägerische Schriftsatz vom 22. Mai 2023 am 18. Juni 2023 mit Gelegenheit zur Stellungnahme zum hilfsweise gestellten Verweisungsantrag der Klägerin zugestellt worden sind, hat mit Schriftsatz vom 17. August 2023 Klageabweisung beantragt, ohne sich zur sachlichen Zuständigkeit zu äußern.
7
Mit an die Parteien hinausgegebenem Beschluss vom 18. August 2023 hat sich das Landgericht für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht München verwiesen. Die Entscheidung beruhe auf § 281 Abs. 1 ZPO. Auf Antrag der Klägerin habe sich das angegangene Gericht für unzuständig zu erklären und den Rechtsstreit an das sachlich zuständige Gericht zu verweisen.
8
Das Amtsgericht München hat sich mit an die Parteien hinausgegebenem Beschluss vom 19. September 2023 für sachlich unzuständig erklärt und mit Beschluss vom 27. September 2023 das Verfahren dem Bayerischen Obersten Landesgericht zur Zuständigkeitsbestimmung vorgelegt. Zur Begründung hat es im Beschluss vom 19. September 2023 insbesondere ausgeführt, der Verweisungsbeschluss des Landgerichts München I vom 18. August 2023 entfalte keine Bindungswirkung, weil ihm die rechtliche Grundlage fehle. Nach ganz herrschender Meinung seien bei der Stufenklage bei der Ermittlung des Zuständigkeitsstreitwerts die Vorbereitungs- und Leistungsansprüche zu addieren. Neben dem Auskunftsanspruch (Antrag zu 1]) werde mit dem Klageantrag zu 2) die Feststellung der Unwirksamkeit der Erhöhungen sowie ferner der Verpflichtung, für die Zukunft lediglich den um sämtliche Erhöhungen der letzten rund 15 Jahre reduzierten Beitrag zu zahlen, und mit den Klageantrag zu 3) die Rückzahlung während der letzten 15 Jahre überzahlter Beiträge verlangt. Dazu verhalte sich der Verweisungsbeschluss nicht. Es werde lediglich angeführt, dass die Klagepartei nicht konkret vorgetragen habe, welche Prämienanpassungen möglicherweise vorgelegen haben könnten und welche Rückforderungsansprüche im konkreten Fall zu erwarten sein könnten. Auf welcher Grundlage das Gericht seine Schätzung vorgenommen habe, bleibe nach dieser Begründung völlig offen. Es werde lediglich auf Entscheidungen anderer Gerichte verwiesen, ohne deren Vergleichbarkeit mit dem streitgegenständlichen Fall im Einzelnen darzulegen. Die Klagepartei habe die realistische Erwartung eines Rückzahlungsanspruchs in Höhe von 8.000,00 € geäußert. Das Landgericht habe diese Erwartung ohne weitere Begründung oder eigene Schätzung als offensichtlich übertrieben und damit unbeachtlich eingestuft. Zu berücksichtigen sei, dass der Kläger sämtliche Erhöhungen über insgesamt rund 15 Jahre angreife. Setze man für den Auskunftsanspruch 1/10 des angegebenen Leistungsinteresses von 8.000,00 € an, ergebe sich ein Streitwert für den Auskunftsantrag von 800,00 €. Streitwerterhöhend sei zudem der Klageantrag zu 2) zu berücksichtigen. Der Zuständigkeitsstreitwert betrage somit deutlich mehr als 5.000,00 €.
9
Im Bestimmungsverfahren wiederholt die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen zum Streitwert. Eine konkrete Einschätzung sei anhand der auf den Kontoauszügen ersichtlichen Zahlungen nicht möglich.
10
Die Beklagte hat keine Stellungnahme abgegeben.
II.
11
Auf die zulässige Vorlage ist die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts München I auszusprechen.
12
1. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor.
13
a) Die mit der Sache befassten Gerichte haben sich im Sinne dieser Vorschrift „rechtskräftig“ für unzuständig erklärt, das Landgericht München I durch den nach Rechtshängigkeit der Streitsache ergangenen Verweisungsbeschluss vom 18. August 2023, das Amtsgericht München durch die zuständigkeitsverneinende Entscheidung vom 19. September 2023. Beide Beschlüsse sind den Parteien bekanntgegeben worden. Die in dieser Weise jeweils ausdrücklich ausgesprochene verbindliche Leugnung der eigenen sachlichen Zuständigkeit erfüllt mithin alle Anforderungen, die an das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu stellen sind. Dem steht nicht entgegen, dass das Amtsgericht den Parteien vor seiner Entscheidung kein rechtliches Gehör gewährt hat, denn es hat ihnen seine Entscheidung zumindest nachträglich bekannt gemacht (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12 m. w. N.; BayObLG, Beschluss vom 12. September 2022, 101 AR 82/22, NJW-RR 2022, 1605 Rn. 20; Schultzky in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 36 Rn. 35).
14
b) Auch der negative Kompetenzkonflikt zwischen Amtsgericht und Landgericht über die sachliche Zuständigkeit als Eingangsinstanz ist im Verfahren nach oder analog § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu entscheiden (vgl. BayObLG, Beschluss vom 10. Juli 2023, 101 AR 148/23 e, juris Rn. 14 m. w. N.; Toussaint in BeckOK ZPO, 51. Ed. 1. Dezember 2023, § 36 Rn. 38.1).
15
c) Zuständig für die Bestimmungsentscheidung ist gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO das Bayerische Oberste Landesgericht, weil das im Instanzenzug nächsthöhere gemeinschaftliche Gericht über dem Amtsgericht München und dem Landgericht München I in der hier vorliegenden bürgerlichen Rechtsstreitigkeit der Bundesgerichtshof ist (vgl. BayObLG, a. a. O. Rn. 15; Toussaint in BeckOK, ZPO, § 36 Rn. 45.2).
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2. Sachlich zuständig ist das Landgericht München I; dessen Verweisungsbeschluss vom 18. August 2023 entfaltet keine Bindungswirkung.
17
a) Im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist der Kompetenzstreit in der Weise zu entscheiden, dass das für den Rechtsstreit tatsächlich zuständige Gericht bestimmt wird; eine Auswahlmöglichkeit oder ein Ermessen bestehen nicht (BGH, Beschluss vom 14. Februar 1995, X ARZ 35/95, juris Rn. 3; BayObLG, Beschluss vom 15. September 2020, 101 AR 101/20, juris Rn. 21 m. w. N.).
18
b) Der Verweisungsbeschluss des Landgerichts München I vom 18. August 2023 entfaltet keine Bindungswirkung.
19
aa) Zwar hat der Gesetzgeber in § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO die grundsätzliche Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen und deren Bindungswirkung angeordnet. Auch ein sachlich zu Unrecht oder verfahrensfehlerhaft ergangener Verweisungsbeschluss entzieht sich danach grundsätzlich der Nachprüfung. Dies ist im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Im Fall eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist (st. Rspr., vgl. z. B. BayObLG, Beschluss vom 31. August 2023, 102 AR 167/23, juris Rn. 19). Die Bindungswirkung entfällt allerdings dann, wenn der Verweisungsbeschluss schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss (BayObLG, Beschluss vom 31. August 2023, 102 AR 167/23, juris Rn. 20 m. w. N.). Ein Verweisungsbeschluss kann u. a. als willkürlich anzusehen sein, wenn weder aus seiner Begründung noch sonst aus dem Akteninhalt nachvollziehbar ist, auf welcher Grundlage die Verweisung erfolgt ist. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt allerdings nicht schlechthin, wenn der Beschluss nicht mit einer Begründung versehen ist. Maßgeblich ist, ob sich aus dem Vortrag der Parteien oder dem sonstigen Akteninhalt hinreichende Anhaltspunkte für die Gründe, auf denen die Entscheidung beruht, ergeben. Gleichfalls als objektiv willkürlich ist es anzusehen, wenn der Verweisungsbeschluss auf einer evident einseitigen oder sonst offensichtlich falschen Erfassung des Sachverhalts (BayObLG, Beschluss vom 20. Juli 2023, 101 AR 150/23 e, juris Rn. 17) oder auf einer evident falschen Erfassung des Zuständigkeitsstreitwerts beruht (BayObLG, Beschl. V. 20. April 2023, 101 AR 15/23, juris Rn. 23 m. w. N.).
20
bb) Der Verweisungsbeschluss des Landgerichts ist in diesem Sinn willkürlich.
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(1) Im vorliegenden Fall richtet sich die sachliche Zuständigkeit nach dem Wert des Streitgegenstands (§ 23 Nr. 1, § 71 Abs. 1 GVG). Dieser wird vom Gericht nach § 3 Halbsatz 1 ZPO nach freiem Ermessen festgesetzt.
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(2) Das Landgericht hat den Verweisungsbeschluss lediglich formelhaft begründet. Im vorläufigen Streitwertbeschluss vom 15. Mai 2023 hat es unter bloßer Nennung dreier obergerichtlicher und einer landgerichtlichen Entscheidung die Auffassung vertreten, mangels konkreten Vortrags der Klägerin, welche Prämienanpassungen möglicherweise vorgelegen haben könnten und welche Rückforderungsansprüche im konkreten Fall daraus zu erwarten sein könnten, sei der Streitwert auf 4.500,00 € festzusetzen.
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(3) Dass das Landgericht möglicherweise den Auskunftsanspruch nicht bewertet hat, wäre zwar nicht unvertretbar. Ob für den Zuständigkeitsstreitwert einer Stufenklage Vorbereitungs- (Auskunfts-) und nachfolgende Ansprüche zu addieren sind, wird in der Rechtsprechung und Literatur nicht einheitlich beurteilt (so bereits BayObLG, Beschluss vom 15. Dezember 2022, 102 AR 84/22, juris Rn. 39). Jedenfalls entspricht es einer verbreiteten, wenn auch nicht unbestrittenen, Auffassung, dass für den Zuständigkeitsstreitwert einer Stufenklage eine Addition der Werte der verschiedenen Stufen regelmäßig nicht stattfindet (so auch und zu den unterschiedlichen Auffassungen z. B. KG, Beschluss vom 25. April 2019, 2 AR 12/19, juris Rn. 9; vgl. auch Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl. 2023, § 5 Rn. 9; Wöstmann in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 5 Rn. 21; Bendtsen in Saenger, ZPO, 10. Aufl. 2023, § 5 Rn. 3; a. A. z. B. OLG Hamm, Beschluss vom 6. September 2016, I-32 SA 49/16, juris Rn. 21; OLG Brandenburg, Beschluss vom 15. November 2001, 1 AR 44/01, MDR 2002, 536 [537]; Herget in Zöller, ZPO, 35. Aufl. 2024, § 3 Rn. 16.160; Dörndorfer in Binz/Dörndorfer/Zimmermann, GKG, FamGKG, JVEG, 5. Aufl. 2021, GKG § 44 Rn. 1) und es im Rahmen der Zuständigkeit auf den höchsten Wert ankommt, also in der Regel auf den Wert des Hauptanspruchs (Heinrich in Musielak/Voit, ZPO, § 5 Rn. 9; Wöstmann in Münchener Kommentar zur ZPO, § 5 Rn. 21; Bendtsen in Saenger, ZPO, § 5 Rn. 3; vgl. auch § 44 GKG, der von Vertretern dieser Auffassung gelegentlich herangezogen wird).
24
(4) Willkürlich ist aber die Annahme, dass der Streitwert insgesamt lediglich 4.500,00 € betrage, da das Landgericht seine der Streitwertbemessung zugrunde liegende Bewertung nicht offengelegt hat. Der Verweisungsbeschluss entbehrt damit jeglicher sachlicher Grundlage.
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Das angerufene Gericht hat die Frage seiner Zuständigkeit stets von Amts wegen zu prüfen und dabei den vorgetragenen Sachverhalt unter allen in Frage kommenden Gesichtspunkten zu würdigen sowie gegebenenfalls nicht vorgetragene, für die Zuständigkeit relevante Umstände aufzuklären (vgl. BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 12; BayObLG, Beschluss vom 20. April 2023, 101 AR 15/23, juris Rn. 27). Erst wenn sich danach seine Unzuständigkeit ergibt, kann es den Rechtsstreit gemäß § 281 Abs. 1 ZPO an das für die Streitsache zuständige Gericht verweisen. Denn Sinn und Zweck einer Verweisung ist es, den Rechtsstreit dem zuständigen und gesetzlichen Richter zuzuführen. Erfolgt die Verweisung ohne eine solche Prüfung, so entbehrt die Entscheidung jeder gesetzlichen Grundlage und muss deshalb als willkürlich betrachtet werden. Zwar begründet allein das Unterlassen der gebotenen weiteren Aufklärung nicht den Vorwurf der Willkür. Sie kann aber zu bejahen sein, wenn zusätzliche, schwerwiegende Umstände hinzutreten (vgl. BayObLG, a. a. O.).
26
Dies ist hier der Fall. Das Landgericht, das die Klägerin nicht aufgefordert hatte, ihre Schätzung z. B. durch Angabe der ihr unstreitig vorliegenden Nachträge der Jahre 2008, 2009, 2018, 2019, 2020, 2021, 2022 und 2023 zu präzisieren, begründet nicht, auf welcher Grundlage es im Wege einer Schätzung einen Streitwert von insgesamt 4.500,00 € ermittelt hat. Allein der Umstand, dass nach Auffassung des Landgerichts konkreter Vortrag der Klagepartei fehlt, kann nicht dazu führen, dass das verweisende Gericht den Streitwert auf 4.500,00 € festsetzt, ohne auch nur ansatzweise erkennbar darzulegen, aufgrund welcher Anhaltspunkte es die Bewertung vorgenommen hat. Ein derartiger Verweisungsbeschluss ist schlechterdings nicht nachvollziehbar und entbehrt jeder gesetzlichen Grundlage.
27
Die im vorläufigen Streitwertbeschluss des Landgerichts nur durch einen Klammerzusatz zum Streitwert angeführten Entscheidungen können eine eigenständige Begründung nicht ersetzen. Das Landgericht legt in keiner Weise dar, dass und inwieweit die angeführten Entscheidungen mit dem vorliegenden Verfahren vergleichbare Konstellationen betreffen. Das ergibt sich auch nicht von selbst. Überwiegend betreffen die Wertfestsetzungen in den Entscheidungen nicht den Zuständigkeitsstreitwert erster Instanz, sondern den Gegenstandswert für das Berufungsverfahren. Diese Werte können für sich genommen schon deshalb nicht unbesehen als Vergleichswerte dienen, weil sich der Zuständigkeitsstreitwert erster Instanz und der Gegenstandswert für das Berufungsverfahren maßgeblich unterscheiden können (vgl. z. B. BGH, Beschluss vom 26. November 2020, V ZR 87/20, juris Rn. 9, der insbesondere darauf hinweist, dass bei einer Stufenklage, bei der in erster Instanz nur der Auskunftsanspruch abgelehnt wird, die Beschwer nur mit einem Bruchteil des Hauptantrages festzusetzen sei). Das vom Landgericht zitierte Oberlandesgericht Dresden (Beschluss vom 9. August 2022, 6 U 799/22, juris Rn. 33) hat den Gegenstandswert für das Berufungsverfahren „entsprechend den Ausführungen aus dem Hinweisbeschluss des Senats festgesetzt. Angesichts des völlig unbestimmten Auskunftsbegehrens hielt der Senat den Auffangstreitwert von 5.000,00 € für sachgerecht und angemessen. Angesichts des weitergehenden Streitgegenstandes in erster Instanz hatte es bei der erstinstanzlichen Streitwertfestsetzung zu verbleiben.“ Hieraus ist weder ersichtlich, ob dem Berufungsgericht für seine Festsetzung der Beschwer überhaupt – und gegebenenfalls welche – Anhaltspunkte (wie etwa die aktuelle Prämie und die Laufzeit des Vertrags) für eine zumindest grobe Schätzung vorlagen, noch wie das Gericht erster Instanz den (vom Berufungsgericht gebilligten) Zuständigkeitsstreitwert vorgenommen hatte (immerhin handelte es sich um eine Ausgangsentscheidung des Landgerichts, was auf einen Zuständigkeitsstreitwert von mehr als 5.000,00 € hindeuten kann). Das vom Landgericht angeführte Oberlandesgericht Nürnberg (Urt. v. 14. März 2022, 8 U 2907/21, juris Rn. 56) hat für den „Streitwert für das Berufungsverfahren […] den Wert des auf Auskunft gerichteten Klageantrags mangels anderer Anhaltspunkte auf 4.000 € geschätzt (§ 3 ZPO)“. Auch hier lässt sich der Entscheidung nicht entnehmen, ob und gegebenenfalls welche Anhaltspunkte dem Gericht für eine Schätzung vorlagen. Im Übrigen hat das Gericht den Streitwert für das Berufungsverfahren insgesamt auf 5.392,84 € festgesetzt. Das vom Landgericht zitierte Oberlandesgericht Köln (Urt. v. 13. Mai 2022, I-20 U 198/21, juris Rn. 9) hat den „Streitwert für das Berufungsverfahren: bis 4.000,00 EUR“ festgesetzt, ohne dies in irgendeiner Weise näher zu begründen. Die vom Landgericht München I zitierte Entscheidung des Landgerichts Leipzig vom 13. Januar 2022 (Az. 3 O 1432/21) ist, soweit ersichtlich, nicht veröffentlicht. Das im Verfahren nachfolgende Oberlandesgericht Dresden hat in einem Hinweisbeschluss (vom 18. Juli 2022, 4 U 337/22, juris Rn. 2) allerdings darauf hingewiesen, dass es „an die Wertfestsetzung des Landgerichts, das ausgehend von § 52 Abs. 2 GKG analog einen Regelstreitwert von 5.000,- EUR für den Auskunftsantrag angenommen hat“, nicht gebunden sei. Das deutet darauf hin, dass das Landgericht Leipzig allein den Auskunftsantrag mit 5.000,00 € bewertet hat, sagt aber nichts über dessen Bewertung etwaiger Leistungsanträge aus.
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Letztlich können die angeführten Entscheidungen ohne weitere Erörterungen durch das Landgericht München I eine eigenständige Begründung nicht ersetzen und den Vorwurf der objektiven Willkür nicht beseitigen.
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c) Bei Einreichung der Klage lag der Zuständigkeitsstreitwert über 5.000,00 €, sodass das Landgericht sachlich zuständig ist.
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Aus der von der Beklagten mit der Klageerwiderung vorgelegten Anlage B 1 ergibt sich, dass die Klägerin seit 1. Januar 2023 für die private Krankenversicherung (ohne Pflegeversicherung) monatlich 359,96 € zu zahlen hat.
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Gemäß einer Studie des Wissenschaftlichen Instituts der Privaten Krankenversicherung (WIP), die auch das Oberlandesgericht München für entsprechende Schätzungen herangezogen hat (OLG München, Beschluss vom 1. März 2023, 38 U 7394/22 e, juris Rn. 13 f.; Beschluss vom 28. Februar 2023, 38 U 5632/22, juris Rn. 14), ergibt sich für den Zeitraum von 2014 bis 2024 für die private Krankenversicherung eine durchschnittliche jährliche Steigerung der Prämien- bzw. Beitragsbelastung von 3,2% (vgl. dazu https://www.wip-pkv.de/fileadmin/DATEN/Dokumente/WIP-Kurzanalysen/WIP-Kurzanalyse-2023-Beitragseinnahmen-GKV_PKV_2023_2024.pdf, S. 3). Rechnet man im Rahmen einer Schätzung auf dieser Grundlage (jährliche Steigerung von 3,2%) vom 1. Januar 2023 mit einem Beitrag von 359,96 € für einen Zeitraum von zehn Jahren zurück, ergibt sich ein Beitrag am 1. Januar 2013 von geschätzt 262,69 €. Gerechnet auf zehn Jahre (1. Januar 2013 bis 31. Dezember 2022) ergibt sich ohne Beitragssteigerung ein zu zahlender Gesamtbetrag von 31.522,80 € (12*10*262,69 €) und mit den jährlichen Steigerungen um 3,2% ein Betrag von insgesamt 36.472,68 € (jeweils zwölf Monatsbeiträge von 262,69 € [2013], 271,10 € [2014], 279,78 € [2015], 288,73 € [2016], 297,97 € [2017], 307,50 € [2018], 317,34 € [2019], 327,50 € [2020], 337,98 € [2021], 348,80 € [2022]). Der Unterschiedsbetrag beläuft sich auf 4.949,88 €. Legt man eine jährliche Steigerung von 2,8% zugrunde, wie das Oberlandesgericht München (Beschluss vom 1. März 2023, 38 U 7394/22 e, juris; Beschluss vom 28. Februar 2023, 38 U 5632/22, juris), ergibt sich ein Ausgangsbeitrag von 273,16 € für den 1. Januar 2013 und ein Unterschiedsbetrag auf zehn Jahre von 4.449,96 € (32.779,20 € ohne Beitragserhöhung und 37.229,16 € mit jährlichen Beitragserhöhungen; 273,16 € [2013], 280,81 € [2014], 288,67 € [2015], 296,72 € [2016], 305,03 € [2017], 313,57 € [2018], 322,35 € [2019], 331,34 € [2020], 340,62 € [2021], 350,16 € [2022]).
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Allein die Überzahlungen für zehn Jahre vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Dezember 2022 haben auf Grundlage dieser Schätzung einen Wert von annähernd 5.000,00 €, streitgegenständlich sind vorliegend aber Überzahlungen für einen Zeitraum von insgesamt ca. 15 Jahren. Der Streitwert für die begehrte Feststellung der Nichtleistungspflicht und der Streitwert für die Rückzahlungsansprüche sind zu addieren, soweit sich die Klageanträge nicht auf denselben Zeitraum beziehen (vgl. BGH, Urt. v. 10. März 2021, IV ZR 353/19, juris Rn. 37). Ein Feststellungsabschlag ist bei einer negativen Feststellungsklage nicht vorzunehmen (BGH, Urt. v. 15. März 2023, IV ZR 322/20, juris Rn. 36; OLG Dresden, Urt. v. 26. Oktober 2023, 4 U 1070/23, juris Rn. 28). Im Hinblick auf die mit dem Klageantrag zu 2) darüber hinaus begehrte Feststellung, die Prämienzahlung sei in Zukunft zu reduzieren, ist der Streitwert für die behaupteten Überzahlungen zudem um einen in analoger Anwendung des § 9 ZPO (vgl. BGH, Urt. v. 10. März 2021, Az.: IV ZR 353/19, juris Rn. 37) zu bestimmenden weiteren Einzelstreitwert zu erhöhen. Dabei ist ein Zeitraum von 3,5 Jahren ab Anhängigkeit des Feststellungsantrags im Mai 2023 zugrunde zu legen, soweit Überzahlungen ab diesem Zeitpunkt nicht bereits beim Zahlungsantrag zu berücksichtigen sind.
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Insgesamt ergibt sich ein Streitwert, der 5.000,00 € deutlich übersteigt.