Titel:
Asyl: Erfolglose Klage gegen einen Drittstaatenbescheid mit Abschiebungsandrohung nach Bulgarien
Normenketten:
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 lit. a
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsätze:
1. Asylanträge von Ausländern, die arbeitsfähig und nicht vulnerabel sind und denen die Republik Bulgarien bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat, dürfen nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Einer Unzulässigkeitsentscheidung steht Art. 4 GRCh nicht entgegen. Auch wenn diesen Personenkreis unmittelbar nach Rückkehr schwierige Lebensbedingungen erwarten, geht damit keine mit Art. 4 GRCh unvereinbare Situation extremer materieller Not einher. Für anerkannt Schutzberechtigte ist es unter Zuhilfenahme von vorhandenen Unterbringungs- und Unterstützungsangeboten grundsätzlich möglich, ihre elementarsten Bedürfnisse zu erfüllen. (Rn. 30)
2. Eine Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist bereits zu bejahen, wenn dem Ausländer ein solcher Schutz in der Vergangenheit gewährt wurde. Auf den Fortbestand des Schutzstatus kommt es daher nicht an. (Rn. 15)
Schlagworte:
Asylrecht, Sekundärmigration (Bulgarien), anerkannt Schutzberechtigte, Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh (verneint), Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 28.07.2022 – RO 11 K 22.30772
Fundstelle:
BeckRS 2024, 7481
Tenor
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 28. Juli 2022 – RO 11 K 22.30772 – wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) seinen Asylantrag als unzulässig abgelehnt und ihm die Abschiebung in die Republik Bulgarien (im Folgenden: Bulgarien) angedroht hat.
2
Der Kläger ist ausweislich seiner vorgelegten Ausweisdokumente syrischer Staatsangehöriger. Er hat sein Heimatland im April 2021 verlassen. Vor seiner Einreise in die Bundesrepublik im Dezember 2021 hielt er sich für einige Monate Bulgarien auf. Ausweislich einer Mitteilung der bulgarischen Behörden vom 18. Februar 2022 hat der Kläger dort am 19. November 2021 subsidiären Schutz zuerkannt bekommen. In der Bundesrepublik stellte er am 2. Februar 2022 einen förmlichen Asylantrag.
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Im Rahmen der Anhörung durch das Bundesamt trug er im Wesentlichen vor, dass er Bulgarien insbesondere deshalb verlassen habe, weil er dort als Ausländer keine Arbeit gefunden habe, teilweise von Behörden körperlich misshandelt und sehr schlecht untergebracht worden sei. Auch ärztliche Behandlung sei ihm verwehrt worden. Er habe ohnehin von Anfang an nach Deutschland gewollt, da sein Bruder dort lebe.
4
Mit Bescheid vom 6. Mai 2022 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2) und drohte die Abschiebung nach Bulgarien an (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung wurde ausgesetzt (Nr. 5). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da dem Kläger in Bulgarien internationaler Schutz gewährt worden sei; einer Unzulässigkeitsentscheidung stehe auch Art. 4 GRCh nicht entgegen.
5
Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 28. Juli 2022 ab. Der Bescheid des Bundesamts könne auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt werden, weil der Kläger in Bulgarien internationalen Schutz erhalten habe und ihn dort keine Lebensumstände erwarten würden, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh gleichkämen.
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Zur Begründung seiner vom Senat zugelassenen Berufung macht der Kläger mit Schriftsatz vom 25. November 2022 geltend, dass er bei einer Rückkehr nach Bulgarien der Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt sei.
8
unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg den Bescheid vom 6. Mai 2022 aufzuheben, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG hinsichtlich Bulgariens festzustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und auf die Behördenakten sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat entscheidet über die Berufung mit Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die zulässige Berufung ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 6. Mai 2022 ist in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes – AsylG – i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54), für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats rechtmäßig. Der Asylantrag des Klägers ist zu Recht als unzulässig abgelehnt worden (I.). Auch Abschiebungsverbote hinsichtlich Bulgariens bestehen nicht (II.). Die Abschiebungsandrohung und das verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot begegnen ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken (III.).
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I. Die Beklagte hat den Asylantrag in Nummer 1 des Bescheids zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt. Die Norm nutzt die durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl Nr. L 180 S. 60 – Verfahrensrichtlinie) eingeräumte und abschließend ausgestaltete Möglichkeit, einen Asylantrag – anstelle einer Sachentscheidung – als unzulässig zu betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2020 – C-564/18 – juris Rn. 29 ff.). Die Voraussetzungen der Norm liegen vor.
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1. Bulgarien ist Mitgliedstaat der Europäischen Union. Es hat – das ist unbestritten -dem Kläger ausweislich der Mitteilung vom 18. Februar 2022 am 10. November 2021 subsidiären Schutz gewährt. Auf den Fortbestand dieses gewährten Schutzstatus kommt es nicht an. Hierfür spricht bereits die grammatische Form des Wortlauts in § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG („wenn ein anderer Mitgliedstaat … Schutz … gewährt hat“). Wäre es dem Gesetzgeber auf den Fortbestand des Schutzstatus angekommen, hätten sowohl andere Formulierungen („wenn der durch einen anderen Mitgliedstaat gewährte Schutz fortbesteht“) oder zumindest eine andere Zeitform des jetzigen Wortlauts („wenn ein anderer Mitgliedstaat … Schutz … gewährt“) näher gelegen. Auch nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift kommt es allein auf eine Schutzgewährung in der Vergangenheit und nicht auf deren Fortbestand an. § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dient wie seine unionsrechtliche Rechtsgrundlage in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie dazu, Sekundärmigration zu verhindern (EG 13 Verfahrensrichtlinie) und Verwaltungsressourcen (vgl. EG 43 Verfahrensrichtlinie) zu schonen. Es soll stets nur ein Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein und nicht mehrfache Asylanträge geprüft werden müssen (EG 36 Verfahrensrichtlinie; vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2024 – 24 B 23.30482 – juris Rn. 23). Es kann daher nicht in das Belieben des Asylbewerbers gestellt werden, den gewährten Schutz durch eigenes Handeln oder Unterlassen zum Erlöschen zu bringen oder Widerrufsgründe zu schaffen, um anschließend ein weiteres Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat zu erhalten (vgl. BayVGH, B.v. 20.4.2023 – 24 ZB 23.30078 – juris Rn. 16 f. m.w.N.). Es wäre auch ersichtlich nicht mit dem Zweck des europäischen Asyl- und Migrationsrechts vereinbar, könnten Betroffene dann, wenn ein schutzgewährender Mitgliedstaat auf nach seiner Ansicht eingetretene Verbesserungen der Situation im Herkunftsstaat durch eine unionsrechtlich vorgesehene Beendigung des Schutzstatus reagiert (vgl. Art. 44 Verfahrensrichtlinie und Art. 14, 19 Anerkennungsrichtlinie; s.a. Art. 11, 16 Anerkennungsrichtlinie), durch Weiterwanderung in einen anderen Mitgliedstaat eine erneute Prüfung der Umstände im Heimatland erreichen. Es obliegt dem Betroffenen, gegen eine Schutzbeendigung mit den zur Verfügung stehenden Rechtsmitteln vor den Gerichten des schutzgewährenden Mitgliedstaats vorzugehen, nicht aber dem Bundesamt oder den deutschen Verwaltungsgerichten, Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen anderer Mitgliedstaaten auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2023 – 24 ZB 23.30260 – juris Rn. 21 ff.; vgl. EuGH, U.v. 30.11.2023 – C-228/21 – juris Rn. 142). Das gilt auch für den Fall, dass der Betroffene der Ansicht ist, die im schutzgewährenden Mitgliedstaat bestehenden Regelungen zur Beendigung des Schutzstatus oder deren Handhabung im Verwaltungsverfahren stünden mit Unionsrecht nicht in Einklang. In all diesen Fällen wäre eine Überprüfung der Rechtslage in einem Mitgliedstaat durch einen anderen Mitgliedstaat mit dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nicht vereinbar. Seine Durchbrechung ist auch nicht deshalb veranlasst, weil etwa die Beurteilung der Zustände im Heimatstaat durch einen anderen Mitgliedstaat von der in Deutschland verbreiteten Bewertung abweicht, oder weil die etwaige Unvereinbarkeit von nationalen Vorschriften anderer Mitgliedstaaten zu einer Beendigung eines Schutzstatus führt. Darauf lässt sich die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nach Art. 4 GRCh regelmäßig nicht stützen.
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2. Die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung verstößt auch nicht gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.d.F. d. Bek. vom 12. Dezember 2007 (ABl Nr. C 303 S. 1 – EU-Grundrechtecharta – GRCh).
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Von der Befugnis nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie darf das Bundesamt keinen Gebrauch machen, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Bulgarien dort in einer Weise behandelt werden würde, die mit seinen Grundrechten nach der EU-Grundrechtecharta unvereinbar ist (a). Der deshalb vorzunehmenden Gefahrenprognose ist grundsätzlich die Annahme zugrunde zu legen, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht beachten; daher kann nur bei bestimmten Funktionsstörungen, deren Vorliegen grundsätzlich der Betroffene ausreichend substantiiert vortragen muss, ausnahmsweise eine solche Gefahr prognostiziert werden (b). Entscheidend für die Prognose ist insbesondere die zu erwartende Rückkehrsituation in wirtschaftlicher oder karitativer (c). Im vorliegenden Fall droht dem Kläger unter Zugrundelegung der verfügbaren Erkenntnismittel bei Rückkehr nach Bulgarien keine Gefahr einer grundrechtswidrigen Behandlung (d).
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a) Beim Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung müssen die Mitgliedstaaten die EU-Grundrechtecharta beachten (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh i.V.m Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie). Deshalb ist es ihnen untersagt, einen Antrag auf internationalen Schutz gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten hat, als unzulässig abzulehnen, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass er bei seiner Rückkehr dort in einer Weise behandelt werden würde, die mit seinen Grundrechten nach der EU-Grundrechtecharta unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 30 f.; EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 und C-541/17 – juris Rn. 35; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 86/101). In einem solchen Fall ist deshalb bereits die Unzulässigkeitsentscheidung (und nicht erst die Abschiebungsandrohung) rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 17).
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Von praktischer Relevanz ist insoweit Art. 4 GRCh. Die Norm verbietet ausnahmslos jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Deshalb darf ein Drittstaatsangehöriger weder zum Zeitpunkt seiner Überstellung im Dublin-Verfahren noch während seines Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss der ernsthaften Gefahr ausgesetzt sein, eine solche Behandlung zu erfahren (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 87). Diese Gefahr kann vorliegen, wenn die Lebensverhältnisse, die Rückkehrer als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten würden, entsprechend schlecht sind (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 17). Inhaltlich entspricht Art. 4 GRCh ausweislich der Charta-Erläuterungen dem Recht, das durch Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten i.d.F. d. Bek. v. 22. Oktober 2010 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK, BGBl II S. 1198) garantiert ist (vgl. Charta-Erläuterungen, ABl 2007 Nr. C 303 S. 18; s. a. Art. 52 Abs. 3 GRCh).
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b) aa) Die Anforderungen an eine entsprechende Gefahrenprognose sind streng, sie kommt nur ausnahmsweise in Betracht. Denn im Kontext des Unionsrechts im Allgemeinen sowie des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und Art. 33 Abs. 2 Verfahrensrichtlinie im Besonderen besteht der fundamentale Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens. Dieser verlangt von jedem Mitgliedstaat, vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Als Regelfall ist deshalb zu vermuten, dass die Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die bereits durch einen Mitgliedstaat internationalen Schutz erhalten haben, in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (vgl. EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 28 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 82; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 85).
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bb) Außergewöhnliche Umstände im vorstehenden Sinne können allerdings vorliegen, wenn in einem Mitgliedstaat namentlich bei der praktischen Umsetzung des Migrationsrechts größere Funktionsstörungen auftreten. In diesem Fall kann die Vermutung der Beachtung des Unionsrechts widerlegt sein. Die ernsthafte Gefahr einer grundrechtswidrigen, insbesondere mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Behandlung eines Drittstaatsangehörigen im Mitgliedstaat der anderweitigen Schutzgewährung setzt wegen der genannten Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes allerdings voraus, dass eine solche Funktionsstörung – erstens – systemischer oder allgemeiner Art ist oder aber bestimmte Personengruppen betrifft, sie – zweitens – eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht und – drittens – anzunehmen ist, dass zudem die Gefahr für den Drittstaatsangehörige, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden, beachtlich wahrscheinlich ist (vgl. zum Ganzen EuGH, U.v. 22.2.2022 – C-483/20 – juris Rn. 31 m.w.N.).
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cc) Die Feststellung größerer Funktionsstörungen setzt die Prüfung der rechtlichen und tatsächlichen Umstände in dem schutzgewährenden Mitgliedstaat durch Auswertung bereits vorhandener oder gegebenenfalls gesondert zu beschaffender Erkenntnismittel voraus. Eine Funktionsstörung darf nur auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben angenommen werden (vgl. EuGH, U.v. 30.11.2023 – C-228/21 u.a. – juris Rn. 136; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rn. 90). Damit wird sichergestellt, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten nicht „vorschnell“ den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens durchbrechen und hierdurch die Effektivität des Unionsmigrationsrechts gefährden (vgl. auch BVerwG, B.v. 13.11.2023 – 1 B 31.23 – juris Rn. 14 f.).
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Da allerdings bereits das Prüfen der Zustände in einem anderen Mitgliedstaat selbst – unabhängig von seinem Ergebnis – das grundsätzlich bestehende gegenseitige Vertrauen in Frage stellt (vgl. EuGH, Gutachten vom 18.12.2014 – C-2/13 – juris Rn. 192), wird die gerichtliche Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO hinsichtlich der Zustände in anderen Mitgliedstaaten (Fall der Sekundärmigration) nicht unter den gleichen (niedrigen) Voraussetzungen ausgelöst wie bei einem klägerischen Vortrag hinsichtlich der Zustände im Herkunftsstaat (Fall des nationalen Asylverfahrens). Die vom Gerichtshof der Europäischen Union bei der Beschreibung der gerichtlichen Anforderungen an eine Durchbrechung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens verwendete, auf den jeweiligen Kläger bezogene Formulierung „Vorlage von Angaben“ (vgl. EuGH, U.v. 30.11.2023 – C-228/21 u.a. – juris Rn. 136; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – Rn. 90) bedeutet daher mehr als nur eine Behauptung. Es genügt auch nicht, wenn sich aus dem klägerischen Vortrag nur eine entfernt liegende Möglichkeit einer entsprechenden Gefahrenprognose für den Fall der Rückkehr ergibt. Dieser Maßstab ist nur sachgerecht für die Kontrolle behördlicher Entscheidungen im nationalen Asylverfahren (vgl. BVerwG, U.v. 20.3.1990 – 9 C 91.89 – juris Rn. 12 f.; BVerwG, U.v. 23.11.1982 – 9 C 74.81 – juris Rn. 9; s.a. Bühs, ZAR 2018, 424 ff. m.w.N.), nicht aber im Rahmen vom Entscheidungen anlässlich von anderweitig gewährtem Schutz durch einen Mitgliedstaat. Denn gegenüber dem Herkunftsstaat besteht der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gerade nicht.
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Erforderlich ist daher – drängen sich dem Gericht Funktionsstörungen nicht aus anderen Gründen auf –, dass der jeweilige Kläger zu den Zuständen im schutzgewährenden Mitgliedstaat substantiiert vorträgt. Vorgelegte Angaben dürfen sich nicht auf die Darlegung einzelner Widrigkeiten beschränken, sondern müssen zumindest auch tatsächliche Auswirkungen beschreiben, deren Eintritt die strengen Merkmale einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erfüllen könnten. Der klägerische Vortrag muss ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe enthalten, um eine Prüfung und gegebenenfalls weitere Aufklärung auszulösen.
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Die erforderliche Konkretheit geschilderter Umstände und deren „Wirkungsrichtung“ ähnelt insoweit den Anforderungen, die anlässlich eines Europäischen Haftbefehls an den Vortrag des Betroffenen zur Begründung eines Vollstreckungshindernisses gestellt werden. Hier bedarf es für eine Prüfung „ernsthafter und durch Tatsachen bestätigter Gründe“ (vgl. EuGH, U.v. 9.11.2023 – C-819/21 – juris Rn. 30; ähnlich EGMR, U. v. 9.7.2019 – 8351/17 (Romeo Castano/Belgien) – NJOZ 2021, 696/701 = Rn. 92: „ernsthafte Gründe“ für die Annahme einer solchen Gefahr; vgl. allgemein zu den Mitwirkungsobliegenheiten des Betroffenen im Rahmen der Prüfung von Verstößen gegen Art. 3 EMRK Esser in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage 2024, Art. 3 EMRK Rn. 147 ff. m.w.N.). Die Geltung und Auswirkung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens auf die Materien des Raums der Politikbereiche Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen einerseits und Asyl andererseits (vgl. Titel V des AEUV) sind insoweit vergleichbar; nicht ohne Grund nimmt der Gerichtshof der Europäischen Union im Zusammenhang mit dem Migrationsrecht ausdrücklich auf Entscheidungen zum Europäischen Haftbefehl Bezug (vgl. den Verweis auf EuGH, U.v. 5.4.2016 – C-404/15 u.a. – Rn. 89 in EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 90; zu – hier nicht relevanten – Unterschieden siehe auch L. von Danwitz, EuR 2020, 61/84 f.).
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dd) Hat das Gericht Schwachstellen festgestellt, so erreichen diese die notwendige besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit (mit der Folge, der Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entgegenzustehen) insbesondere erst dann, wenn im betroffenen Mitgliedstaat die Behörden gegenüber Rückkehrern derart gleichgültig sind, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 f m.w.N.; s.a. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18).
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Hingegen wird wegen dieses strengen Maßstabs die erforderliche Erheblichkeitsschwelle grundsätzlich nicht schon erreicht, wenn eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation zu erwarten ist; anders ist dies nur, wenn diese Situation zugleich mit extremer materieller Not verbunden ist, so dass sich der Betroffene in einer schwerwiegenden Lage befindet, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 93; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Auch reicht der Umstand, dass die betreffende Person in dem Mitgliedstaat keine existenzsichernden Leistungen erhält, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, regelmäßig nicht für das Erreichen der Erheblichkeitsschwelle (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 13; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 19).
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ee) Obwohl die im Raum stehenden Rechtsgüter der Drittstaatsangehörigen – Art. 4 GRCH ist eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 87) – hochrangig sind, ist eine Unzulässigkeitsentscheidung nur ausgeschlossen, wenn die Wahrscheinlichkeit für eine grundrechtswidrige Behandlung als Folge der festgestellten Schwachstellen beachtlich hoch ist (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Denn wegen des Vertrauensgrundsatzes darf die Gefahr nicht schon dann bejaht werden, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob die Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse sichergestellt sein wird; vielmehr muss mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein, dass die Befriedigung dieser Bedürfnisse nicht gelingt (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Bei vulnerablen Personen kann eine solche Erwartung allerdings leichter zu bejahen sein als bei gesunden und arbeitsfähigen erwachsenen Personen (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 13; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 19).
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c) Für die Prognose, ob ein Rückkehrer unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, ist entscheidend, welche Rückkehrsituation den jeweiligen Kläger in wirtschaftlicher oder karitativer Hinsicht erwartet (vgl. zur Prognose in personeller Hinsicht BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – juris Rn. 27 ff.). Insoweit wird die Rückkehrsituation zum einen durch die örtlich vorherrschenden Möglichkeiten geprägt, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern. Hierbei sind alle realistischen Formen der Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Denn einem Drittstaatsangehörigen ist es im Regelfall zumutbar, auch wenig attraktive oder der Vorbildung nicht entsprechende Arbeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen oder die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs während der Touristensaison, ausgeübt werden können (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 29). Zum anderen kommt für die prognostische Bestimmung der zu erwartenden Rückkehrsituation staatlichen Unterstützungsleistungen oder geeigneten – alleinigen oder ergänzenden – Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen und Organisationen Relevanz zu (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 22 ff.). Deshalb kann etwa der Umstand, dass dem Drittstaatsangehörigen bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 14; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 20).
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d) Hieran gemessen ist auf Basis der verfügbaren und aktuellen Erkenntnismittel nicht davon auszugehen, dass der Kläger, der alleinstehend, gesund und arbeitsfähig ist und dem Bulgarien internationalen Schutz gewährt hat, bei seiner Rückkehr nach Bulgarien unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, obwohl Rückkehrer durchaus mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Es bestehen im Allgemeinen ausreichende Möglichkeiten, nicht vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig zu sein, oder aber jedenfalls unter Inanspruchnahme von bestehenden Unterstützungsangeboten sich zu ernähren, zu waschen und eine Unterkunft zu finden.
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aa) In wirtschaftlicher Hinsicht ist die Situation in Bulgarien zwar im Allgemeinen und damit auch für Rückkehrer schwierig. Es bestehen aber dennoch grundsätzlich ausreichende Möglichkeiten, Erwerbsgelegenheiten zu ergreifen und so zumindest einen Betrag zum eigenen Lebensunterhalt zu leisten.
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Anerkannt Schutzberechtigte haben zum Arbeitsmarkt in rechtlicher Hinsicht auf die gleiche Weise Zugang wie bulgarische Staatsbürger. Zwar haben viele der arbeitenden anerkannt Schutzberechtigten nur schlecht bezahlte und unqualifizierte Beschäftigung; sie können aber dennoch auf diese Weise einen Beitrag zu ihrem Lebensunterhalt erwirtschaften. Der Arbeitsmarkt ist auch aufnahmebreit und die Wirtschaft wächst. Für das Jahr 2024 wird derzeit von einem Wachstum von 3,0% ausgegangen (vgl. Wirtschaftskammer Österreich [WKO], Außenwirtschaft, Wirtschaftsbericht Bulgarien, S. 3 f.; https://www.wko.at/oe/aussenwirtschaft/bulgarien-wirtschaftsbericht.p df). Die Arbeitslosenquote betrug im Jahr 2022 4,3%, es besteht ein relevanter Fach- und Arbeitskräftemangel (vgl. WKO, a.a.O.). Im Jahr 2022 waren rund 150.000 Stellen unbesetzt. Den größten Bedarf an Arbeitskräften wiesen im Jahr 2022 der Sektor für persönlichen Dienstleistungen (Gastronomie, Pflegekräfte usw.), das Baugewerbe und die Logistikbranche auf (vgl. EURES, Labour market information: Bulgaria, https://eures.ec.europa.eu/living-and-working/labour-market-information/labour-market-informa tion-bulgaria_en; Stand: 8.5.2023).
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Zudem geben internationale Organisationen Hilfestellung und unterstützen bei der Integration in den Arbeitsmarkt. Besondere Bedeutung kommt insoweit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) Bulgarien, dem United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) Bulgarien, dem Bulgarischen Roten Kreuz und der Caritas Bulgarien zu (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 17.5.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 25). Gemeinsam mit der Staatlichen Arbeitsagentur und der Staatlichen Flüchtlingsagentur organisieren sie beispielsweise unter Federführung des UNHCR „Jobmessen“. Das Bulgarische Rote Kreuz betreibt ferner ein Informations- und Integrationszentrum in Sofia, das Sprachkurse – insbesondere auch für Schutzberechtigte – durchführt und neben allgemeiner Hilfestellung und Beratung auch Unterstützung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz leistet.
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bb) Soweit es nicht gelingt, auf dem Arbeitsmarkt selbst Fuß zu fassen, bieten zahlreiche nichtstaatliche Organisationen karitative Hilfe – auch über die unmittelbare Unterstützung bei der Integration in den Arbeitsmarkt hinaus – an, die verhindern, dass Rückkehrer trotz ihrer gegebenenfalls weitreichenden Abhängigkeit von Unterstützung in eine Situation extremer materieller Not geraten. So betreibt die Caritas Bulgarien in Sofia das sog. Refugee and Migrant Integration Center St. Anna, das – neben arbeits- und wohnungsbezogener Unterstützung – auch psychologische Hilfe, Bildungsservices, soziale Beratung und humanitäre Hilfe anbietet. Es hilft auch bei Meldeangelegenheiten, bei der Registrierung beim praktischen Arzt und bietet noch andere Integrationsmaßnahmen an. Das Bulgarische Rote Kreuz betreibt in Sofia ebenfalls ein Informations- und Integrationszentrum, das Sprachkurse durchführt, allgemeine Hilfestellung und Beratung zu den Rechten von Flüchtlingen in Bulgarien und zum Zugang zu medizinischer Versorgung leistet und überdies die Bildung von Kindern durch zusätzlichen Bulgarisch-Unterricht und Unterrichtsmaterialien fördert und Flüchtlingen mit besonderen Bedürfnissen (wie Behinderten, Alleinerziehenden, Erwachsenen und unbegleiteten Minderjährigen) hilft. Die Nichtregierungsorganisation Council of Refugees and Migrants listet auf ihrer Internetseite noch weitere Organisationen auf, die Schutzberechtigte unterstützen: u.a. das Centre for Social Rehabilitation and Integration of Refugees in Plovdiv, die UNHCR-Vertretung in Sofia, das Büro von IOM in Sofia, das Bulgarian Council on Refugees and Migrants in Sofia, die Sofioter Ombudsmann-Stelle, das Bulgarische Helsinki Komitee, die Foundation of Access to Rights, das Centre for Legal Aid-Voice in Bulgaria, das Council of Refugee Women in Bulgaria und die Stiftung Center Nadya für psychologische Beratung (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 17.5.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 25f. m.w.N.). Ferner gibt es in begrenztem Umfang Angebote von Partnerorganisationen des UNHCR und von anderen Nichtregierungsorganisationen wie auch Wohltätigkeitsvereinen vor Ort, um eine Versorgung mit Grundnahrungsmitteln und Kleidung sicherzustellen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Potsdam vom 11.3.2021, S. 7).
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Staatliche Unterstützungsleistungen aus den allgemeinen Sozialversicherungssystemen stehen den anerkannt Schutzberechtigten faktisch nur selten zur Verfügung, auch wenn sie rechtlich unter denselben Bedingungen wie bulgarische Staatsangehörige Anspruch auf Sozialleistungen haben (die Sozialhilfe beträgt ca. 38 EUR pro Monat, vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Hamburg vom 7.4.2021). Denn Anerkannte sehen sich häufig mit hohen Zugangshürden konfrontiert, die einer tatsächlichen Inanspruchnahme der Leistungen vielfach entgegenstehen. Ohne Beiziehung eines Dolmetschers oder ohne Inanspruchnahme anderer Vermittlerleistungen, deren Verfügbarkeit aber ihrerseits weder gesetzlich noch institutionell gewährleistet sind, scheitert die Inanspruchnahme häufig (vgl. AIDA, Country Report: Bulgaria, Stand: 2022, S. 112; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 29.9.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 24).
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cc) Hinsichtlich der für die Rückkehrprognose auch relevanten Frage nach der Verfügbarkeit ausreichender Unterkunftsmöglichkeiten rechtfertigt die Lage in Bulgarien nicht die Annahme einer ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. Rückkehrer haben trotz bestehender Schwierigkeiten ausreichende Möglichkeiten, eine Unterkunft zu finden.
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(1) Für eine Unterkunft sind Rückkehrer – vorbehaltlich anderweitiger Notunterkünfte (dazu unten Rn. 40) – vorrangig auf eine privatrechtliche Anmietung angewiesen. Denn ein Anspruch auf Unterbringung in einer Flüchtlingsunterkunft besteht nur für 14 Tage nach Erlass einer Anerkennungsentscheidung (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 29.9.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 21). Gleichwohl waren nach Berichten der Staatlichen Agentur für Flüchtlinge beim Ministerrat (State Agency for Refugees with the Council of Ministers – SAREF) Ende des Jahres 2022 sogar 298 anerkannt Schutzberechtigte in den Aufnahmezentren für Asylsuchende untergebracht (vgl. AIDA, Country Report: Bulgaria, Stand 2022, S. 111). Auch ein Anspruch auf eine Sozialwohnung besteht nicht, weder für Rückkehrer noch für bulgarische Staatsangehörige. Rückkehrer können sich allenfalls auf die – wenigen – Sozialwohnungen bewerben (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Potsdam vom 11.3.2021, S. 1). Bei kommunalen Wohnungen richten sich die Zugangsvoraussetzungen nach den jeweils örtlichen Vorschriften und variieren entsprechend. Sie sind aber für Rückkehrer in der Regel nicht zu erfüllen (vgl. im Einzelnen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 22.8.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 23). Die privatrechtliche Anmietung einer Unterkunft stößt zwar regelmäßig auf praktische Schwierigkeiten, rechtlich aber sind Rückkehrer an der Anmietung einer Wohnung nicht gehindert. Sie sind als anerkannte Flüchtlinge bulgarischen Staatsangehörigen im Wesentlichen gleichgestellt, als subsidiär Schutzberechtigte verfügen sie zumindest über die gleichen Rechte wie dauerhaft Aufenthaltsberechtigte (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 29.9.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 22).
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(2) Das Anmieten einer Unterkunft scheitert auch nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit an einem „Teufelskreislauf“, der daraus bestehen soll, dass für eine Anmietung der Besitz gültiger Identitätspapiere erforderlich ist, deren Ausstellung ihrerseits aber von einem Wohnsitz abhängt und deshalb nicht erfolgt (vgl. AIDA, Country Report: Bulgaria, Stand: 2022, S. 103). Der diesbezügliche Vortrag des Klägers, der sich im Wesentlichen auf einen Bericht der Asylinformationsdatenbank (AIDA) stützt, ist schon nicht ausreichend substantiiert. Der vorgelegte AIDA-Bericht und andere in Bezug genommene Quellen sind in ihrer Problembeschreibung vage. Der AIDA-Bericht spricht lediglich davon, dass die Schutzberechtigten in der Praxis auf diesbezügliche „Schwierigkeiten stoßen“ (AIDA, Country Report: Bulgaria, Stand: 2022, S. 103: „However, difficulties are encountered by beneficiaries in obtaining identity documents in practice…“). Abgesehen hiervon bestehen ferner keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der behauptete „Teufelskreislauf“ überhaupt in dem für die Annahme einer Funktionsstörung notwendigen Umfang in allgemeiner Hinsicht besteht und es lässt sich weder dem Vortrag noch den sonstigen verfügbaren Erkenntnismitteln anderweitig entnehmen, dass die vorgetragenen Schwierigkeiten mit Folgen verknüpft sind – etwa zu einem faktischen Ausschluss vom Rechtsverkehr führen –, die eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh begründen könnten. Eine solche Folge ist im Übrigen auch nicht plausibel. Denn zum einen ist es nicht ungewöhnlich, dass die melderechtliche Erfassung und die Ausstellung von Ausweisdokumenten einen Wohnsitz bzw. die Mitwirkung des Vermieters verlangt (vgl. für Deutschland etwa die Wohnungsgeberbescheinigung nach § 19 Bundesmeldegesetz). Zum anderen ergibt sich aus den Erkenntnismitteln nicht, dass Anerkannten bzw. Rückkehrern jede Form von Identitätsnachweis verwehrt wird. Dass ein solcher Zustand in Bulgarien vorherrscht ist im Übrigen auch deshalb schon fernliegend, weil sowohl der hiesige Kläger (vgl. pdf-Seite 37 f. der Behördenakte) als auch Klägerinnen und Kläger in anderen Verfahren, die beim Senat anhängig sind, vielfach über von Bulgarien ausgestellte Identitätspapiere und teilweise sogar Reisedokumente verfügen.
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Ungeachtet dessen sind jedenfalls etwaig bestehende Schwierigkeiten, wegen fehlender Wohnung keine amtlichen Identitätspapiere zu erhalten, nicht unüberwindbar. Es ist ausweislich der Erkenntnismittel möglich, dass Betroffene eine (Schein-)Meldeadresse erwerben. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) liegen die Preise bei EUR 350 bis 400 pro Person, wobei es auch Unterstützung gibt, diese Beträge aufzubringen (wiedergegeben bei Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 29.9.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 22). Einem solchen Erfordernis möglicherweise ausgesetzt zu sein, ist vor dem Hintergrund des strengen Maßstabs von Art. 4 GRCh zumutbar und stellt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar.
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(3) Aber auch wenn – gleich aus welchen Gründen – die Anmietung einer Unterkunft nicht gelingt, ist anerkannt Schutzberechtigten die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen – in einer den Anforderungen des Art. 4 GRCh genügender Weiser – sicher (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Potsdam vom 11.3.2021, pdf S. 1). Diese Unterstützung besteht zwar nicht landesweit, ist in der Praxis aber offenbar dennoch wirksam. Die Erkenntnismittel enthalten keine Hinweise auf eine größere Zahl von Obdachlosen unter den anerkannt Schutzberechtigten (in diesem Sinne auch OVG NW, B.v. 22.8.2023 – 11 A 3374/20 – juris Rn. 62 ff.; vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG Hamburg vom 7.4.2021; zur Lage zuvor: OVG RhPf, B.v. 17.3.2020 – 7 A 10903/18.OVG – juris Rn. 72; SächsOVG, U.v. 15.6.2020 – 5 A 382/18 – juris Rn. 44). Anzunehmen, dass die Unterbringung mit Hilfe der Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen regelhaft gelingt, ist auch deshalb plausibel, weil bereits die Zahl an Schutzsuchenden gering ist, denn die Aufnahmezentren für Asylsuchende sind nur wenig ausgelastet und weisen einen hohen Leerstand auf. So waren Ende des Jahres 2022 sogar 298 anerkannt Schutzberechtigte in den Aufnahmezentren für Asylsuchende untergebracht (vgl. Rn. 37). Von den in den Aufnahmezentren in Sofia, Banya, Pastrogor und Harmanli zur Verfügung stehenden rund 5.160 Plätzen waren nach Angaben von AIDA, Country Report: Bulgaria, Stand 2022, S. 75, Ende 2020 1.032, Ende 2021 2.447 und Ende 2022 nur 2.412 Plätze belegt. Selbst wenn von den vorhandenen Plätzen rund 1.200 ungeeignet sein sollten (vgl. AIDA, a.a.O., S. 75), waren in den letzten Jahren immer noch freie Plätze in stattlicher Zahl faktisch verfügbar und können auch weiterhin gegebenenfalls für Schutzsuchende verwendet werden.
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(4) Jenseits der konkreten Unterstützung durch Nichtregierungsorganisationen können anerkannt Schutzberechtigte schließlich auch noch in zwei verschiedenen Arten von Notunterkünften unterkommen und damit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung entgehen. Es gibt sog. Zentren für die vorübergehende Unterbringung und sog. Notunterkünfte für Obdachlose. Zentren für die vorübergehende Unterbringung bieten bis zu drei Monate in einem Kalenderjahr eine Unterkunft; es besteht die Möglichkeit einer Verlängerung um weitere drei Monate. Um einen Antrag zu stellen, muss man die örtliche Sozialhilfeeinrichtung am Meldeort aufsuchen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 22.8.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 25). Notunterkünfte für Obdachlose stehen zumindest im Winter jeweils für eine Nacht zur Verfügung. Die meisten Notunterkünfte verlangen Identitätspapiere, Ausnahmen sind allerdings möglich (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 17.5.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 24). Ferner bieten in Ausnahmefällen die Caritas Sofia und das Bulgarische Rote Kreuz Notunterkünfte für bis zu zwei Wochen für von Obdachlosigkeit bedrohte vulnerable Personen an (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 22.8.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Bulgarien, S. 25). Die Unterbringung in einem staatlichen Obdachlosenheim, das allerdings nicht nur Flüchtlingen, sondern allen Bedürftigen offensteht, ist schließlich ebenfalls möglich, wenngleich sie nur wenig verfügbar sind und der Zugang mit hohen formalen Hürden verbunden ist (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Potsdam vom 11.3.2021, S. 2).
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dd) Die Gesamtsituation für Rückkehrer stellt sich insbesondere hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen als schwierig dar und geht mit großen Herausforderungen einher. Sie ist aber nicht mit Belastungen verbunden, die es rechtfertigen, anzunehmen, dass die Betroffenen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind. Soweit die eigenverantwortliche Teilhabe insbesondere am Arbeits- und Wohnungsmarkt nicht gelingt, bieten die vorhandenen und für die Betroffenen auch faktisch zugänglichen Hilfsangebote jedenfalls einen ausreichenden Rahmen, um Personen, die in Bulgarien internationalen Schutz gewährt bekommen haben, die Rückkehr zumuten zu können.
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II. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch hinsichtlich seiner Nummer 2 rechtmäßig. Nationale Abschiebungsverbote nach Maßgabe des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen nicht.
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1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dieses nationale Abschiebungsverbot erfasst Abschiebungsverbote, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen, soweit sie ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Mit Blick auf den Zweck der Konvention (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34.99 – juris Rn. 8) kommt als ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot meist nur die Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK in Betracht. Bei der Prüfung, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung als Folge schlechter Lebens- und Rückkehrbedingungen droht, kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die – bei der Prüfung der Unzulässigkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – allgemein festgestellten Aufnahmebedingungen im Lichte der jeweils individuellen Umstände und persönliche Besonderheiten des konkreten Klägers im Falle seiner Rückkehr auswirken werden (vgl. näher BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 46 ff. und BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 41 ff.).
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Vorliegend ist nicht davon auszugehen, dass dem Kläger die Gefahr droht, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. In seiner Person liegen keine Gründe vor, die zu einer von der allgemeinen Lage für nach Bulgarien zurückkehrende international Schutzberechtigte abweichenden Beurteilung führen und seiner Abschiebung dorthin entgegenstehen.
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2. Da der Kläger im Wesentlichen gesund ist (vgl. Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 25.1.2024, S. 2), kommt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG von vornherein nicht in Betracht.
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III. Auch die Nummern 3 und 4 des Bescheids sind rechtmäßig. Die Abschiebungsandrohung nach § 34 AsylG ist nicht zu beanstanden. Gegen die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 75 Nr. 12 AufenthG bestehen ebenfalls keine Bedenken.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Voraussetzungen nach § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor, auch weicht der Senat im Rahmen der Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Bulgarien nicht von der Beurteilung anderer Oberverwaltungsgerichte ab (vgl. § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG).