Titel:
Chancen-Aufenthaltsrecht und (kurzfristige) Unterbrechung des Aufenthaltsstatus
Normenkette:
AufenthG § 25b, § 104c Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Der Wortlaut "ununterbrochen geduldet" nach § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG ist eindeutig und schließt grundsätzlich jede Unterbrechung aus. Es ist fraglich, ob angesichts des eindeutigen Wortlauts, der keinerlei Abweichungsmöglichkeiten von diesem Tatbestandsmerkmal vorsieht, überhaupt eine Auslegungsmöglichkeit unter Zuhilfenahme der Gesetzesbegründung besteht (vgl. VGH München BeckRS 2024, 7477). (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Ausnahme von der Beurteilung als ununterbrochen soll nach der Gesetzesbegründung lediglich hinsichtlich des Aufenthalts im Bundesgebiet ohne Verlegung des Lebensmittelpunkts bestehen. Ersichtlich sollen damit nur kurzfristige, lose Aufenthalte außerhalb des Bundesgebietes etwa zu Besuchszwecken ausgenommen werden. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die Rechtsprechung des BVerwG zu § 25b AufenthG (BVerwG BeckRS 2019, 37863), wonach Duldungslücken von wenigen Tagen schon wegen ihres Bagatellcharakters als unschädlich zu bewerten sind, kann nicht auf § 104c AufenthG übertragen werden. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Chancen-Aufenthaltsrecht, (kurzfristige) Unterbrechung des Aufenthaltsstatus, ununterbrochener Aufenthalt, Besuchszwecke, ununterbrochen geduldet, Duldungslücken, keine Verlegung des Lebensmittelpunkts
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 26.05.2023 – RN 9 K 23.818
Fundstelle:
BeckRS 2024, 7477
Tenor
I. Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Antragsverfahren wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen.
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Die von der Klägerin aufgeworfene Frage,
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„ob Unterbrechungen des Aufenthalts im Bundesgebiet von bis zu drei Monaten bei reinen Inlandssachverhalten, welche keine Verlegung des Lebensmittelpunkts beinhalten stets zu einer beachtlichen Unterbrechung führen und eine Anrechenbarkeit der Voraufenthaltszeiten im Rahmen der Tatbestandsvoraussetzungen des 104c AufenthG ausschließen, sofern der Ausländer nicht untergetaucht ist, sondern lediglich für weniger als drei Monate Duldungsgründe entfallen sind“,
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ist nicht klärungsbedürftig. Denn klärungsbedürftig sind nur Fragen, die nicht ohne weiteres aus dem Gesetz zu lösen sind (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 38). Die hier gestellte Frage lässt sich aber anhand des Wortlauts von § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG sowie einer ergänzenden Heranziehung der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 20/3717, S. 44) eindeutig verneinen.
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Tatbestandliche Voraussetzung des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist u.a., dass sich der Ausländer „seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat“.
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Der Wortlaut „ununterbrochen geduldet“ ist eindeutig und schließt grundsätzlich jede Unterbrechung aus. Es ist fraglich, ob angesichts des eindeutigen Wortlauts, der keinerlei Abweichungsmöglichkeiten von diesem Tatbestandsmerkmal vorsieht, überhaupt eine Auslegungsmöglichkeit unter Zuhilfenahme der Gesetzesbegründung besteht (vgl. BayVGH, B.v. 23.1.2023 – 19 CE 22.2584 – Rn. 18, n.v.; verneinend: Dietz in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2024, § 104c AufenthG Rn. 16).
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Aber selbst wenn man nach der Gesetzesbegründung und damit in teleologischer Auslegung kurzfristige Unterbrechungen des Aufenthalts im Bundesgebiet von bis zu drei Monaten, die keine Verlegung des Lebensmittelpunkts beinhalten, als unschädlich erachten wollte, wäre die Frage der Klägerin zu verneinen. Ein „ununterbrochener Voraufenthalt“ im Sinne des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegt auch schon bei – wie hier – nur kurzfristig vollstreckbarer Ausreisepflicht nicht mehr vor. Zwar sollen nach dem gesetzgeberischen Willen „kurzfristige Unterbrechungen des Aufenthalts im Bundesgebiet von bis zu drei Monaten, die keine Verlegung des Lebensmittelpunkts beinhalten,“ als unschädlich behandelt werden (vgl. BT-Drs. 20/3717, S. 44 f.). Eine Ausnahme von der Beurteilung als ununterbrochen soll jedoch lediglich hinsichtlich des Aufenthalts im Bundesgebiet ohne Verlegung des Lebensmittelpunkts bestehen. Ersichtlich sollen damit nur kurzfristige, lose Aufenthalte außerhalb des Bundesgebietes etwa zu Besuchszwecken ausgenommen werden (vgl. hierzu auch: Anwendungshinweise des BMI vom 23.12.2022 <S.3> sowie das diese Anwendungshinweise berücksichtigende IMS vom 27.1.2023 <abrufbar unter https://www.stmi.bayern.de/assets/stmi/mui/integrationspolitik/ims_vollzug_chancen-aufenthaltsrecht.pdf; zuletzt besucht am 20.3.2024>).
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Anhaltspunkte dafür, dass dies nach dem Willen des Gesetzgebers auch für (bloß unerhebliche) Unterbrechungen des Aufenthaltsstatus unabhängig von einer tatsächlichen Aufenthaltsunterbrechung im Bundesgebiet gelten soll, ergeben sich nicht. Die Formulierung des Gesetzgebers als Ausgangspunkt für die teleologische Auslegung ist allein dahin zu verstehen, dass Unterbrechungen des rein physischen Aufenthalts im Bundesgebiet unschädlich sind. Der Gesetzgeber hat sich gerade nicht dazu geäußert, ob dies auch für Unterbrechungen gilt, die den physischen Inlandsaufenthalt unberührt lassen und nur die geforderte Grundlage des Aufenthalts (geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis) betreffen (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 50 zur ähnlich formulierten Gesetzesbegründung zu § 25b AufenthG <BT-Drs. 18/4097, S. 43>). Damit kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Bundesgesetzgeber auf eine durchgehende Statuskette verzichtet hat, wobei zu berücksichtigen ist, dass auch Zeiten, in denen lediglich ein materieller Duldungsanspruch, ein materieller Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder eine Verfahrensduldung bestand oder die Aufenthaltserlaubnis fiktiv fortgalt – wie hier nicht –, zu berücksichtigen sind (vgl. Kabis in Hofmann, Ausländerrecht, 3. Aufl. 2023, § 104c AufenthG Rn. 5). Dieses Verständnis wird auch von den Anwendungshinweisen des Bundesinnenministeriums des Innern und für Heimat zur Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts (dort S. 3) gestützt, in denen der Zusatz erfolgt, dass „Unterbrechungen des Aufenthalts aufgrund einer vorherigen Rückführung wie auch Zeiten des Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel oder Duldung […] hingegen nicht angerechnet“ werden.
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Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 25b AufenthG (BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34.18 – juris Rn. 49), wonach Duldungslücken von wenigen Tagen schon wegen ihres Bagatellcharakters als unschädlich zu bewerten sind, kann nicht auf § 104c AufenthG übertragen werden. Denn die Bestimmungen unterscheiden sich wesentlich. Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG ist, dass sich der Ausländer nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik integriert hat. Dies setzt regelmäßig voraus, dass bestimmte, in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG aufgezählte Integrationsindizien erfüllt sind. Aus dieser Formulierung („regelmäßig“) folgt, dass die aufgezählten Regeltatbestände, so auch die Voraufenthaltszeit, nicht zwingend sämtlich (vollständig) erfüllt sein müssen, damit eine nachhaltige Integration festgestellt werden kann. Eine vergleichbare Formulierung enthält § 104c AufenthG nicht, sodass Zeiträume ohne Duldung/materiellen Duldungsanspruch schädlich sind.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).