Titel:
Nachbarantrag gegen Baugenehmigung für Nutzungsänderung
Normenketten:
BayBO Art. 6, Art. 46 Abs. 5
VwVfG § 37
Leitsätze:
1. Der Inhalt einer Baugenehmigung bestimmt sich nach der Bezeichnung und den Regelungen im Baugenehmigungsbescheid, der konkretisiert wird durch die in Bezug genommenen Bauvorlagen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Verletzung von Nachbarrechten liegt vor, wenn die Unbestimmtheit einer Baugenehmigung ein nachbarrechtlich relevantes Merkmal betrifft. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarrechtsrelevante Unbestimmtheit einer Baugenehmigung, Nutzungsänderung von Zimmerausstellung und Stellplatz in Wohnraum, Abstandsflächenrechtliche Neubewertung, nachbarrechtsrelevante Unbestimmtheit einer Baugenehmigung, abstandsflächenrechtliche Neubewertung
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 06.11.2023 – M 1 SN 22.5553
Fundstelle:
BeckRS 2024, 7460
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 3.750 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Nutzungsänderung des Erdgeschosses eines unmittelbar an ihr Grundstück angrenzenden Gebäudes von Sammelgarage und Lager in eine Garage für drei Stellplätze, ein Schlafzimmer und ein Lager sowie im Obergeschoss von Zimmerausstellung in Wohnen. Sie ist Eigentümerin des nördlich angrenzenden Grundstücks.
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Das Verwaltungsgericht hat mit dem angegriffenen Beschluss die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin angeordnet. Nach summarischer Prüfung sei Art. 6 BayBO nicht gemäß Art. 46 Abs. 5 BayBO ausgeschlossen. Das Bestandsgebäude weise keine Nutzungseinheiten mit (genehmigten) Aufenthaltsräumen auf. Mit der 2. Tekturgenehmigung von 1971 seien im 1. Obergeschoss des Gebäudes neben einem Flur und zwei nicht näher bestimmten Zimmern auch zwei Bäder und drei Zimmer genehmigt worden, die als „Möbel-Ausstellungsräume“ bezeichnet worden seien. Da sich der genaue Nutzungszweck der Räume ohne weitere Beschreibung nicht feststellen ließe, bestünden erhebliche Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit der Baugenehmigung. Die pauschale Angabe der Räume als „Zimmer“ widerspreche § 8 Abs. 2 Nummer 1 BauVorlV. Die Bezeichnung „Möbel-Ausstellungsräume“ ließe verschiedene Interpretationen zu. Dies gehe hier zu Lasten der Beigeladenen. Auch im Erdgeschoss seien keine Aufenthaltsräume vorhanden. Die erstmalige Genehmigung von Aufenthaltsräumen löse eine abstandsflächenrechtliche Neubeurteilung aus. Die notwendigen Abstandsflächen würden nicht eingehalten.
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Mit ihrer hiergegen gerichteten Beschwerde begehrt die Beigeladene als Rechtsmittelführerin im Beschwerdeverfahren die Aufhebung des angegriffenen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht gehe zu Unrecht davon aus, dass das Vorhaben gegenüber dem Grundstück der Antragstellerin Abstandsflächen einzuhalten habe und Art. 46 Abs. 5 BayBO nicht zur Anwendung komme. Art. 46 Abs. 5 BayBO ziele auf die Schaffung von neuem Wohnraum. Bei den Räumen im 1. Obergeschoss handle es sich um Aufenthaltsräume. Insoweit könne bei den als „Zimmer“ bezeichneten Räumen nicht auf die BauVorlV abgestellt werden, die erst nach Erteilung der Baugenehmigung erlassen worden sei. Bei der Genehmigung von Zimmern und Bädern dürfte eine Alternativnutzung beabsichtigt worden sein, da für „Möbel-Ausstellungsräume“ keine Badezimmer benötigt würden. Eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots führe hier nicht zur Nichtigkeit der Genehmigung, der Verwaltungsakt sei bestandskräftig. Das Vorhaben löse daher keine abstandsrechtliche Neubeurteilung aus.
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Der Antragsgegner stellt keinen Antrag und sieht von einer Stellungnahme im Beschwerdeverfahren ab. Die Antragstellerin tritt der Beschwerde entgegen.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die von der Beigeladenen dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zu Recht angeordnet. Die Klage der Antragstellerin wird im Hauptsacheverfahren voraussichtlich Erfolg haben, sodass das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen vorrangig ist.
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Entgegen dem Beschwerdevorbringen ist die Anwendung des Art. 6 BayBO nicht gemäß Art. 46 Abs. 5 BayBO ausgeschlossen. Das Bestandsgebäude weist im 1. Obergeschoss mangels hinreichender Bestimmtheit der Baugenehmigung von 1971 keine (genehmigten) Aufenthaltsräume auf, die der abstandsflächenrechtlichen Privilegierung unterfallen könnten.
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Nach Art. 37 Abs. 1 BayVwVfG muss die im Bescheid getroffene Regelung für die Beteiligten – gegebenenfalls nach Auslegung – eindeutig zu erkennen und einer unterschiedlichen subjektiven Bewertung nicht zugänglich sein. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls. Nachbarn müssen zweifelsfrei feststellen können, ob und in welchem Umfang sie betroffen sind. Eine Verletzung von Nachbarrechten liegt vor, wenn die Unbestimmtheit der Baugenehmigung ein nachbarrechtlich relevantes Merkmal betrifft. Der Inhalt der (erlassenen) Baugenehmigung bestimmt sich nach der Bezeichnung und den Regelungen im Baugenehmigungsbescheid, der konkretisiert wird durch die in Bezug genommenen Bauvorlagen (vgl. BVerwG, B.v. 20.5.2014 – 4 B 21.14 – juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 26.4.2022 – 1 CS 22.551 – juris Rn. 6). Hierbei trägt in erster Linie der Bauherr im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht (Art. 26 Abs. 2 BayVwVfG) selbst die Verantwortung dafür, dass die eingereichten Bauvorlagen vollständig sind und eine Beurteilung der Genehmigungsfähigkeit des Bauvorhabens erlauben (Art. 64 Abs. 2 BayBO). Mängel, Unklarheiten und „Lücken“ der genehmigten Bauvorlagen gehen daher grundsätzlich zu Lasten des Bauantragstellers (vgl. BayVGH, B.v. 9.9.2010 – 9 ZB 09.1134 – juris Rn. 7).
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Diese Grundsätze hat das Verwaltungsgericht der angegriffenen Entscheidung zu Grunde gelegt und ist zutreffend zu der Einschätzung gekommen, dass die Baugenehmigung von 1971 unbestimmt ist, weil sich der Beschreibung der nach den unwidersprochenen Feststellungen des Verwaltungsgerichts im 1. Obergeschoss des Gebäudes im Jahr 1971 genehmigten Räumen, die als zwei nicht näher bestimmte Zimmer, zwei Bäder und drei weitere Zimmer, die als „Möbel-Ausstellungsräume“ bezeichnet werden, nicht eindeutig ablesen lässt, ob es sich um Aufenthaltsräume mit Kundenverkehr im Sinn des Art. 2 Abs. 5 BayBO handelt oder aber um Räume, die (nur) der Besichtigung oder Lagerung von Möbeln dienen. Unabhängig von den Anforderungen der Bauvorlagenverordnung sind verschiedene mögliche Nutzungen der Räume denkbar. Soweit die Beigeladene unter Hinweis auf die Definition in Wikipedia einwendet, dass es sich bei einem Zimmer regelmäßig um einen Raum handle, der Wohnzwecken diene, fehlt es mangels Vorliegens einer Bau- bzw. Betriebsbeschreibung, die zum Bestandteil der Genehmigung gemacht oder auf die Bezug genommen wurde, an einer nachvollziehbaren Zuordnung der Räume für das Vorhabengebäude. Die allgemeine Möglichkeit, dass Zimmer Aufenthaltsräume darstellen können, reicht nicht. Im Übrigen können die beiden nicht näher bezeichneten Zimmer nach dem genehmigten Plan auch als Bestandteil der Nutzungseinheit „Möbel-Ausstellungsräume“ gewertet werden, nachdem sonstige für eine wohntypische Nutzung in Frage kommenden Räume nicht erkennbar sind. Dass eine gemeinsame Nutzung der Räume denkbar ist, lässt auch das Beschwerdevorbringen erkennen, das auf eine mögliche Alternativnutzung der Räume verweist. Auch eine solche Nutzung hat jedoch keinen (eindeutigen) Eingang in die Baugenehmigung gefunden. Damit bleibt unklar, welche Funktion den Räumen im 1. Obergeschoss nach der Baugenehmigung von 1971 zugeordnet werden konnte. Die Unerweislichkeit von Tatsachen, aus denen ein Beteiligter ihm günstige Rechtsfolgen herleitet, geht grundsätzlich zu seinen Lasten (vgl. BVerwG, B.v. 17.7.2003 – 4 B 55.03 – BauR 2004, 657).
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Die Unbestimmtheit der Baugenehmigung hinsichtlich der Nutzungsart führt dazu, dass die Baugenehmigung nicht die ihr zugedachte Funktion der Klarstellung dessen, welche Art der baulichen Nutzungen geprüft und für rechtlich unbedenklich erklärt worden sind, erfüllen kann. Für den Nachbarn bleibt – etwa mit Blick auf die erforderlichen Abstandsflächen sowie das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme – unklar, welche Nutzungen gestattet sind und welche nicht (vgl. BVerwG, U.v. 22.1.2021 – 6 C 26.19 – BVerwGE 171, 156; B.v. 11.5.2000 – 11 B 26.00 – NVwZ 2000, 1039; BayVGH, B.v. 16.8.2019 – 1 ZB 17.2407 – juris Rn. 5). Dieser Fehler, der den Kerngegenstand des von der Baugenehmigung gestatteten Vorhaben selbst betrifft, ist schwerwiegend und auch offensichtlich. Die Unbestimmtheit der Art der genehmigten baulichen Nutzung führt regelmäßig zu ihrer Nichtigkeit gemäß Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG (vgl. BayVGH, U.v. 8.7.2022 – 15 B 22.772 – juris Rn 55; OVG NW, B.v. 27.7.1992 – 7 B 2686/92 – NVwZ-RR 1993, 234; Decker in Busse/Kraus, BayBO, Stand Oktober 2023, Art. 68 Rn. 253). Insoweit besteht auch kein Widerspruch zu der im Beschwerdevorbringen angeführten Entscheidung des Senats vom 18. März 2021 (1 CS 20.2788). Aufgrund der Vielzahl denkbarer Nutzungen lässt sich der Baugenehmigung auch nicht zumindest ein Mindestnutzungsinhalt in Bezug auf die „Möbel-Ausstellung“ entnehmen; die vorliegenden Pläne deuten vielmehr auf eine von Anfang an in den Blick genommene Wohnnutzung hin.
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In den Räumen des Erdgeschosses des Bestandsgebäudes waren nach dem Bescheid von 1971 eine Sammelgarage sowie ein Lager genehmigt. Die zutreffende Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass es sich dabei nicht um Aufenthaltsräume handelt, greift die Beschwerde nicht ansatzweise an.
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Im Hinblick auf die Baugenehmigung von 1971 ist daher nicht von genehmigten Aufenthaltsräumen auszugehen, die Art. 46 Abs. 5 BayBO unterfallen könnten.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).