Inhalt

VGH München, Beschluss v. 25.03.2024 – 4 ZB 23.30149
Titel:

Gruppenverfolgung von Jesiden im Irak (verneint)

Normenketten:
EMRK Art. 3
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4
AufenthG § 60 Abs. 5
Leitsätze:
1. Eine Gruppenverfolgung von irakischen Staatsangehörigen jesidischer Glaubenszugehörigkeit findet im Irak  durch den irakischen Staat, den sog. Islamischen Staat (IS) oder andere nichtstaatliche Akteure nicht statt. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Frage, inwieweit es alleinstehenden männlichen Rückkehrern jesidischen Glaubens möglich ist, im Irak ihr Existenzminimum zu sichern, und damit ein Abschiebungsverbot gem. Art. 3 EMRK in Frage kommt, ist keiner grundsätzlichen Klärung zugänglich. (Rn. 6 – 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylklage (Irak), Gruppenverfolgung von Jesiden (verneint), Einzelfallbeurteilung der voraussichtlichen Sicherung des Existenzminimums, Sicherung des Existenzminimums, Gruppenverfolgung von Kurden, alleinstehende männliche Rückkehrer jesidischen Glaubens, Islamischer Staat (IS)
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 27.12.2022 – AN 2 K 19.30266
Fundstelle:
BeckRS 2024, 7435

Tenor

I. Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1
1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg. Die Berufung ist nicht wegen der allein geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (vgl. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) zuzulassen.
2
Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung setzt voraus, dass eine konkrete, bisher höchstrichterlich oder obergerichtlich nicht beantwortete Rechts- oder Tatsachenfrage formuliert wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung (entscheidungserheblich) war, deren Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und der eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124a Rn. 72). Bei einer auf tatsächliche Verhältnisse gestützten Grundsatzrüge muss der Rechtsmittelführer Erkenntnisquellen zum Beleg dafür angeben, dass die Feststellungen, Erkenntnisse und Einschätzungen des Verwaltungsgerichts unzutreffend oder zumindest zweifelhaft sind (vgl. BayVGH, B.v. 21.9.2017 – 4 ZB 17.31091 – juris Rn. 8 f. m.w.N.).
3
a) Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich bedeutsam, „inwieweit Angehörige des jesidischen Glaubens aktuell von Verfolgung durch den IS und/oder von Gruppenverfolgung durch Muslime, Araber oder andere nichtstaatliche Akteure nach einer Rückkehr in den Irak bzw. in die Autonome Republik Kurdistan betroffen sind und damit der Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe gegeben ist.“
4
Das Verwaltungsgericht hat dazu im angefochtenen Urteil (UA S. 9 f.) ausgeführt, eine Gruppenverfolgung von Kurden oder aufgrund einer jesidischen Glaubenszugehörigkeit finde im Irak nach den Erkenntnisquellen durch den irakischen Staat, den sogenannten Islamischen Staat (IS) oder andere nichtstaatliche Akteure nicht statt. Der IS sei im Irak im Jahr 2017 in der Fläche besiegt worden. Zwar bleibe er als terroristische Organisation weiterhin eine Gefahr. Insbesondere sei er in der Lage, landesweit Anschläge zu verüben. Jedoch sei der IS nach der Auskunftslage in einer Weise zurückgedrängt worden, dass nicht von einer hinreichenden Verfolgungsdichte zur Annahme einer Gruppenverfolgung ausgegangen werden könne. Auch aktuelle Entwicklungen, wie etwa die Corona-Pandemie, hätten nach der Auskunftslage nicht zu einem derartigen Erstarken des IS geführt, dass dies anders zu beurteilen wäre. Im Übrigen lebten nach der Auskunftslage in Dohuk, nahe des jesidischen Heiligtums Lalesh, sehr viele Jesiden, von der Regierungspartei KDP protegiert, weitgehend ohne Unterdrückung und Verfolgung. Jedenfalls sei es dem Kläger als kurdischem Jesiden daher möglich und zumutbar, sich dort niederzulassen.
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Diese Bewertung zur Frage einer Gruppenverfolgung irakischer Staatsangehöriger jesidischen Glaubens entspricht der obergerichtlichen Rechtsprechung betreffend die Region Ninive, der Herkunftsregion des Klägers (vgl. BayVGH, B.v. 5.6.2023 – 5 ZB 22.31199 – juris 10; VGH BW, U.v. 12.7.2023 – A 10 S 400/23 – juris Rn. 28 ff.; OVG Saarl, B.v. 5.10.2022 – 2 A 252/21 – juris Rn. 10; NdsOVG, B.v. 11.3.2021 – 9 LB 129/19 – juris Rn. 41 ff.; OVG NW, U.v. 21.12.2022 – 9 A 1740/20.A – juris Rn. 30 ff.). Der Kläger setzt sich mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts nicht substantiiert auseinander. Er legt auch nicht konkret dar, aus welchen Erkenntnismitteln sich ergeben könnte, dass diese Bewertung unzutreffend sein könnte. Durch den allgemeinen Hinweis, der IS befinde sich im Wiederaufbau und ein dauerhafter Schutz der Jesiden sei nicht gewährleistet, zeigt der Kläger nicht auf, dass aktuell Jesiden von einer Gruppenverfolgung betroffen sein könnten. Der Umstand, dass es verwaltungsgerichtliche Entscheidungen geben mag, die von der zitierten obergerichtlichen Rechtsprechung abweichen, genügt dem Darlegungsgebot des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht. Die angesprochene historische Verfolgung der Jesiden im Irak ist für die Beurteilung der gegenwärtigen Verfolgungslage nicht relevant.
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b) Der Kläger hält weiterhin die Frage für grundsätzlich bedeutsam, „inwieweit es alleinstehenden männlichen Rückkehrern jesidischen Glaubens möglich ist, im Irak ihr Existenzminimum zu sichern, und damit ein Abschiebungsverbot gemäß Art. 3 EMRK in Frage kommt.“ Diese Frage ist keiner grundsätzlichen Klärung zugänglich.
7
Die Frage, ob in einem konkreten Einzelfall ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK im Hinblick auf die Sicherung des Existenzminimums vorliegt, hängt neben den konkreten Verhältnissen in der Herkunftsregion der betroffenen Person oder einer anderen Region, in der die Person Zuflucht finden kann, von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, der finanziellen Situation und den familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab (vgl. zum Erfordernis einer Einzelfallbeurteilung VGH BW, U.v. 7.12.2021 – A 10 S 2174/21 – juris Rn. 37; OVG NW, U.v. 10.5.2021 – 9 A 570/20.A – juris Rn. 411; NdsOVG, U,v. 24.9.2019 – 9 LB 136/19 – juris Rn. 156; OVG Saarl, B.v. 12.3.2020 – 2 A 160/19 – juris Rn. 12).
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Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner jüngeren Rechtsprechung zu Art. 4 GRCh, der mit Art. 3 EMRK identisch ist, darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befinde, die es ihr nicht erlaube, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtige oder sie in einen Zustand der Verelendung versetze, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C- 297/17 u.a. – juris; BayVGH, U.v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 21).
9
Hieran gemessen kann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der Sicherheits- und Versorgungslage und der Beschäftigungssituation im Irak nicht jedem Rückkehrer in den Irak oder in die Kurdische Autonomieregion – unabhängig von den oben genannten Kriterien des Einzelfalls – zuerkannt werden.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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3. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG), ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).