Titel:
Anforderungen an die Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG
Normenketten:
StGB § 20, § 21, § 56c Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6, § 64
BtMG § 35 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 2
EGGVG § 23
Leitsätze:
1. Eine Betäubungsmittelabhängigkeit gem. § 35 BtMG ist abzugrenzen von einem bloßen Betäubungsmittelmissbrauch sowie von einem Hang gem. § 64 StGB. Für einen Hang nach § 64 StGB genügt eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. (Rn. 21 – 28)
2. Aus einer Therapieweisung nach § 56c Abs. 2 Nr. 6 StGB können keine Rückschlüsse auf eine Betäubungsmittelabhängigkeit gezogen werden. Für eine solche Therapieweisung ist gerade nicht das Bestehen einer Betäubungsmittelabhängigkeit Voraussetzung; vielmehr kann bereits bei einem Betäubungsmittelmissbrauch, der den Grad der Abhängigkeit noch nicht erreicht, ein Präventionsbedürfnis bestehen. (Rn. 30)
Schlagworte:
Betäubungsmittelabhängigkeit, Betäubungsmittelmissbrauch, Hang, Therapieweisung, Vorschaltbeschwerde
Fundstelle:
BeckRS 2024, 7315
Tenor
1. Der Antrag des Verurteilten vom 12. Februar 2024 auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid des Generalstaatsanwalts in B. vom 11. Januar 2024 wird auf Kosten des Antragstellers als unbegründet zurückgewiesen.
2. Der Geschäftswert wird auf 5.000 € festgesetzt.
3. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen
Gründe
1
Der Antragsteller wurde mit Berufungsurteil des Landgerichts Coburg vom 27.04.2021, rechtskräftig seit 27.04.2021, unter anderem wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Geldstrafe aus einem Strafbefehl zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten und zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt, deren Vollstreckung jeweils zur Bewährung ausgesetzt wurde.
2
Als Bewährungsauflage wurde dem Antragsteller unter anderem die (näher konkretisierte) Weisung erteilt, sich zur Behandlung seines missbräuchlichen Konsums von Betäubungsmitteln mit seiner Einwilligung einer ambulanten Suchttherapie zu unterziehen, und – soweit der behandelnde Facharzt eine stationäre Behandlung empfiehlt – dieser Empfehlung Folge zu leisten.
3
Das Amtsgericht Lichtenfels hat mit Beschluss vom 06.12.2022 die Strafaussetzung wegen Weisungsverstößen widerrufen. Das hiergegen eingelegte Rechtsmittel blieb ohne Erfolg.
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Der Antragsteller befand sich in dieser Sache vom 29.05.2020 bis 14.07.2020 und vom 17.11.2020 bis 27.04.2021 in Untersuchungshaft (so dass 162 Tage und 47 Tage auf die Strafhaft anzurechnen sind, vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft C. vom 26.06.2023, VH 208). Seit 27.11.2023 befindet er sich in dieser Sache in Strafhaft. Der gemeinsame Zweidrittelzeitpunkt ist der 19.01.2025, Strafende der 01.12.2025.
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Mit Verfügung vom 06.12.2023 (VH 245) lehnte die Staatsanwaltschaft C. die mit Schreiben vom 29.11.2023 beantragte Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG ab, da die Taten nicht oder jedenfalls nicht überwiegend aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen worden seien. Sie wies hierbei auf die Feststellungen im Urteil des Landgerichts Coburg vom 27.04.2021 hin, wonach – u.a. – eine manifeste Abhängigkeit nicht sicher festgestellt werden konnte. Es bestünden daher große Zweifel, ob die Taten aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen worden seien oder nicht. Diese Zweifel gingen zu Lasten des Verurteilten. Die bloße Vermutung reiche nicht.
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Der hiergegen eingelegten Vorschaltbeschwerde vom 22.12.2023 (VH 254a), die sich im Wesentlichen darauf stützt, dass es das Landgericht Coburg für erforderlich gehalten habe, dass der Verurteilte als Bewährungsauflage eine stationäre Langzeittherapie antreten soll, was bei fehlender Behandlungs- und Therapiebedürftigkeit keine Rechtfertigung hätte, hat die Staatsanwaltschaft mit Verfügung vom 02.01.2024 (VH 255) mangels vorliegender neuer Erkenntnisse nicht abgeholfen.
7
Mit Bescheid vom 11.01.2024, dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers zugestellt am 15.01.2024, hat der Generalstaatsanwalt in B. dessen Beschwerde zurückgewiesen, wobei er den Ausführungen in der Verfügung vom 06.12.2023 beitrat und darauf hinwies, dass nach den Urteilsfeststellungen beim Angeklagten ein Hang im Sinne des § 64 StGB nicht zweifelsfrei festzustellen war, zwar ein Suchtproblem bestand, aber das Maß einer manifesten Abhängigkeit nicht erreicht wurde. Auch ansonsten könnten der Akte keine Hinweise zur Frage der Betäubungsmittelabhängigkeit entnommen werden, die diese Feststellungen in Frage stellten. Der Rückschluss von der Therapieweisung auf die Betäubungsmittelabhängigkeit verfange ebenfalls nicht.
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Hiergegen hat der Verurteilte mit Schreiben seines Verfahrensbevollmächtigten vom 12.02.2024, eingegangen am selben Tag, Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt.
9
Die Generalstaatsanwaltschaft M. hat mit Schreiben vom 13.03.2024 beantragt, diesen Antrag als unbegründet zu verwerfen. Der Antragsteller erhielt Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zwei Wochen. Eine solche ist nicht eingegangen.
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Der Senat nimmt auf die genannten Entscheidungen, Verfügungen und Schreiben vollumfänglich Bezug.
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Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen den Bescheid des Generalstaatsanwalts in B. vom 11.01.2024 ist nach § 23 EGGVG statthaft, wurde gemäß § 26 Abs. 1 EGGVG i.V.m. § 43 Abs. 2 StPO form- und fristgerecht eingelegt und ist auch nach § 24 Abs. 1 und 2 EGGVG zulässig, da das erforderliche Vorschaltverfahren (§ 21 StVollstrO) durchgeführt worden ist.
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In der Sache bleibt der Antrag jedoch ohne Erfolg, da die Vollstreckungsbehörde beurteilungsfehlerfrei angenommen hat, dass sich die Betäubungsmittelabhängigkeit sowie deren Kausalität für den überwiegenden Teil der abgeurteilten Taten als Voraussetzung der Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 2 BtMG nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen lasse, und der Antragsteller deshalb nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 28 Abs. 1 Satz 1 EGGVG).
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1. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass § 35 Abs. 6 Nr. 2 BtMG einer Zurückstellung derzeit nicht entgegenstünde. Der Antragsteller ist zwar durch Urteil des Amtsgerichts Gotha vom 21.11.2022 (94 Ds 821 Js 17802/22), rechtskräftig seit 21.11.2022, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt worden (VH 149). Da deren Vollstreckung aber zur Bewährung ausgesetzt worden ist, stünde eine vollstreckbare andere Freiheitsstrafe der Zurückstellung nicht entgegen (Weber, in Weber/Kornprobst/ Maier, 6. Aufl. 2021, BtMG § 35 Rn. 291). Ein weiteres Verfahren wegen des Vorwurfs des Fahrens ohne Fahrerlaubnis (vgl. Anklage der Staatsanwaltschaft Bayreuth vom 28.11.2022, VH 140) ist vom Amtsgericht Bayreuth mit Beschluss vom 16.03.2023 (Az. 7 Ds 130 Js 12090/22) gemäß § 154 StPO eingestellt worden (VH 182).
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2. Gemäß § 35 Abs. 1 BtMG kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszugs die Vollstreckung einer Strafe für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn sich aus den Urteilsgründen ergibt oder sonst feststeht, dass die Tat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde und der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Entsprechendes gilt, wenn – wie hier – auf zwei Gesamtfreiheitsstrafen von (insgesamt) mehr als zwei Jahren erkannt worden ist, ein zu vollstreckender Rest der Gesamtfreiheitsstrafen zwei Jahre nicht übersteigt und im übrigen die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 BtMG für den ihrer Bedeutung nach überwiegenden Teil der abgeurteilten Straftaten erfüllt sind (§ 35 Abs. 3 Nr. 1 BtMG), dieser also aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde.
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Der Vollstreckungsbehörde steht bei ihrer Entscheidung über die Zurückstellung der Strafvollstreckung gemäß § 35 BtMG zwar ein Ermessen zu. Voraussetzung einer solchen Ermessensentscheidung ist aber, dass die Tatbestandsvoraussetzungen – hier des § 35 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 2 BtMG – vorliegen, also fest steht, dass der Antragsteller betäubungsmittelabhängig war, diese Abhängigkeit kausal für die abgeurteilte Straftat bzw. für den ihrer Bedeutung nach überwiegenden Teil der abgeurteilten Straftaten war sowie eine Therapiebereitschaft und eine Behandlungsbedürftigkeit des Antragstellers bestehen. Für diese Prüfung, also die Subsumtion des festgestellten Sachverhalts unter § 35 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 3 Nr. 2 BtMG, steht der Vollstreckungsbehörde ein Beurteilungsspielraum zu, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist. Fehlt es an einer dieser Tatbestandsvoraussetzungen, so lehnt die Vollstreckungsbehörde die Zurückstellung ab; ein Ermessen besteht insoweit nicht (vgl. zum Ganzen Senat, Beschluss vom 28.01.2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 15 m.w.N.).
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Gegenstand der Überprüfung durch den Senat ist dabei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft (hier: Verfügung vom 06.12.2023) in der Gestalt, die sie im Vorschaltverfahren (§ 24 Abs. 2 EGGVG, § 21 StVollStrO) durch den Bescheid des Generalstaatsanwalts (hier: vom 11.01.2024) erhalten hat (OLG Nürnberg, Beschluss vom 30.11.2015 – 2 VAs 11/15 –, StV 2017, 307, juris Rn. 21; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 24 EGGVG Rn. 7).
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3. Unter Zugrundelegung dieses Prüfungsmaßstabs ist die Entscheidung der Vollstreckungsbehörde nicht zu beanstanden.
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a) Die Vollstreckungsbehörde hält sich innerhalb ihres Beurteilungsspielraums, wenn sie zum Ergebnis gelangt, dass eine Betäubungsmittelabhängigkeit im Tatzeitraum nicht zweifelsfrei festzustellen ist.
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aa) Eine Kausalität einer Betäubungsmittelabhängigkeit für die abgeurteilten Taten ergibt sich bereits nicht „aus den Urteilsgründen“ (§ 35 Abs. 1 BtMG). Damit hatte die Vollstreckungsbehörde selbst zu prüfen, ob die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Nr. 2 BtMG vorliegen, ob also feststeht, dass der ihrer Bedeutung nach überwiegende Teil der begangenen Straftaten auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen wurde. Dies hat sie im Rahmen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums beanstandungsfrei verneint.
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(1) Das Landgericht Coburg hat im Urteil vom 27.04.2021 gerade keine Betäubungsmittelabhängigkeit des Verurteilten im Tatzeitraum festgestellt, obwohl es sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt und die entsprechenden Beweise erhoben und gewürdigt hat. Es hat diesbezüglich das Vorleben des Angeklagten und seine Drogenkarriere dargelegt und sich auf ein psychiatrisches Sachverständigengutachten gestützt.
21
Unter Zugrundelegung des Ergebnisses der Beweisaufnahme konnte das Landgericht Coburg im Urteil lediglich feststellen, dass bei dem Angeklagten ein Missbrauch von Stimulantien (Methamphetamin) nach ICD-10:F15.1 vorliege. Eine manifeste Abhängigkeit könne (noch) nicht sicher festgestellt werden. Jedoch sei der Angeklagte hochgefährdet, abhängig zu werden.
22
Das Urteil enthält Feststellungen zur „Drogenkarriere“ des Verurteilten, der 2010 mit sporadischem Konsum von Cannabis am Wochenende begann, dann ab 2013/2014 Crystal, beschränkt auf eine gelegentliche Einnahme am Wochenende, konsumierte, von Mai/Juni 2014 bis Sommer 2017 wegen einer anstehenden MPU abstinent lebte, und danach wieder Crystal (0,2 g bis 0,5 g) sporadisch am Wochenende konsumierte, ohne dass allerdings seine Arbeits- oder Leistungsfähigkeit hierdurch beeinträchtigt worden wäre. Seit etwa Februar 2020 bis zu seiner Inhaftierung am 29.05.2020 habe sich sein Konsum von Crystal deutlich intensiviert (täglich zwischen 0,2 g und 1 g Crystal). Suchtdruck habe er nie verspürt. Cannabis und Ecstasy habe er sehr selten zu sich genommen. In der ersten Woche seiner Inhaftierung habe er verstärkt geschwitzt und Schlafstörungen gehabt, jedoch keinen Suchtdruck verspürt.
23
Zum Tatsachverhalt wird im Urteil zusammengefasst festgestellt, dass der Verurteilte von seinem in der gemeinsamen Wohnung mit der anderweitig Verfolgten K. im Februar / März 2020 vorhandenem, ihm zuzurechnenden 11,5 Gramm Crystal-Speed mindestens acht Gramm gewinnbringend weiterverkauft und den Rest selbst konsumiert habe. Ein weiteres Gramm Crystal-Speed, aus einem Geschäft im März 2020 sei zum Eigenkonsum bestimmt gewesen, von weiteren sechs Gramm sei die Hälfte zum Eigenkonsum und die andere Hälfte zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt gewesen. Aus weiteren Geschäften zwischen dem 02.04.2020 und dem 28.05.2020 seien achtmal ein Gramm zum Eigenverbrauch und fünf Gramm sowie 15 Gramm zum hälftigen Eigenkonsum und zum hälftigen gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt gewesen.
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Bei der rechtlichen Würdigung ging das Landgericht Coburg von der vollen Schuldfähigkeit des Verurteilten aus, da es wegen der nicht festzustellenden Abhängigkeit von Methamphetamin bereits am Eingangsmerkmal des § 20 StGB fehle. Auch eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit habe nicht vorgelegen, weil es an einem langjährigen Betäubungsmittelgenuss fehle, der zu schweren Persönlichkeitsänderungen geführt habe. Die Delikte seien weder in einem aktuellen Rauschzustand verübt worden noch habe der Verurteilte infolge der Angst vor Entzugserscheinungen gehandelt. Anhaltspunkte hierfür seien nicht festzustellen gewesen. Vielmehr habe der Verurteilte weder einen Rauschzustand angegeben noch von Entzugserscheinungen berichtet, die er bereits erlebt habe und die Motivation für die Taten gewesen seien. Er habe planvoll, gezielt und über einen längeren Zeitraum hinweg gehandelt.
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(2) Diesem Urteil liegt ein zur Anwendbarkeit der §§ 20, 21, 64 StGB erholtes Sachverständigengutachten zugrunde. Der Sachverständige ging davon aus, dass ein Hang des Verurteilten, Methamphetamin im Übermaß zu sich zu nehmen, nicht zweifelsfrei festzustellen sei. Es bestehe zwar ein Suchtproblem, der Zeitraum, in dem Rauschmittel im Übermaß konsumiert worden sei, habe sich aber auf wenige Monate vor der Inhaftierung beschränkt. Das Maß einer manifesten Abhängigkeit sei beim Verurteilten noch nicht erreicht worden. Zu dem erhöhten Rauschmittelkonsum seit Februar 2020 sei es nur deshalb gekommen, weil der Verurteilte pandemiebedingt keine Aufträge mehr erhalten hatte und strukturlos in den Tag hinein lebte und zudem engen Kontakt zu der anderweitig Verfolgten K. pflegte, die langjährig betäubungsmittelabhängig und die treibende Kraft für die Beschaffung und den Konsum der Betäubungsmittel gewesen sei.
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Soweit der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers die Heranziehung des Gutachtens für problematisch hält, da die Definition für die Betäubungsmittelabhängigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 BtMG eine andere sei als für den Hang nach § 64 StGB, trifft letzteres zwar zu. Denn für einen Hang genügt nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Umgekehrt trägt die Feststellung einer zu Beschaffungsdelikten führenden physischen oder jedenfalls psychischen Betäubungsmittelabhängigkeit regelmäßig die Annahme eines Hangs im Sinne des § 64 StGB, ohne dass es auf den Grad oder die Ausprägung der Abhängigkeit im Einzelnen ankommt (BGH, Urteil vom 16.08.2023 – 5 StR 194/23 –, juris Rn. 9 f.).
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Damit sind aber für die Annahme eines Hanges weniger strenge Anforderungen zu stellen als für die Annahme einer Betäubungsmittelabhängigkeit. Bei einer Feststellung im Urteil, dass die Taten aufgrund der Betäubungsmittelabhängigkeit des Angeklagten begangen wurden, läge es nahe, eine Unterbringung nach § 64 StGB in den Blick zu nehmen, zumal diese Vorrang gegenüber der vollstreckungsrechtlichen Sonderregelung des § 35 BtMG hat (vgl. BGH, Beschluss vom 05.04.2022 – 3 StR 75/22 –, juris Rn. 7).
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Unabhängig davon, dass vorliegend bereits ein Hang nicht festgestellt werden konnte, ergibt sich aus dem Gutachten erst Recht kein Nachweis für eine Betäubungsmittelabhängigkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 BtMG. Im Gegenteil sprechen gerade die Ausführungen zu fehlenden Entzugserscheinungen und die Einlassung des Verurteilten, nie einen Suchtdruck verspürt zu haben, gegen eine solche Abhängigkeit.
29
bb) Auch aus der vom Landgericht Coburg angeordneten Bewährungsauflage zum Antritt einer ambulanten bzw. unter Umständen auch einer stationären Suchttherapie lässt sich nicht ableiten, dass das Landgericht von einer Betäubungsmittelabhängigkeit ausgegangen ist.
30
Der Generalstaatsanwalt weist zutreffend darauf hin, dass aus einer solchen Bewährungsauflage keine Rückschlüsse auf die Betäubungsmittelabhängigkeit gezogen werden können, da für eine Therapieweisung nach § 56c Abs. 1 Nr. 6 StGB (anders als bei § 35 Abs. 1 BtMG) gerade nicht das Bestehen einer Betäubungsmittelabhängigkeit Voraussetzung sei, sondern bereits bei einem Betäubungsmittelmissbrauch, der den Grad der Abhängigkeit noch nicht erreiche, ein Präventionsbedürfnis bestehen könne, das wiederum eine entsprechende Weisung rechtfertigen kann.
31
Ergänzend ist insoweit auszuführen, dass Weisungen nach § 56c Abs. 1 Satz 1 StGB für die Dauer der Bewährungszeit zu erteilen sind, wenn der Verurteilte dieser Hilfe bedarf, um nicht wieder straffällig zu werden. Solche Weisungen dienen allein präventiven Zwecken (vgl. Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, StGB § 56c Rn. 3). Unabhängig von der rechtlichen Zulässigkeit einer solchen Weisung zur Durchführung einer Suchttherapie, die vorliegend nicht zu bewerten ist, ging das Landgericht Coburg offenbar davon aus, dass eine Therapieweisung erforderlich sei, um einer aus dem intensiven Drogenkonsum vor der Inhaftierung ableitbaren hohe Suchtgefahr und einem damit einhergehenden Abgleiten in eine erneute Straffälligkeit entgegenzuwirken.
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cc) Auch aus dem erstinstanzlichen Urteil des Amtsgerichts – Schöffengerichts – Kronach vom 20.01.2021 ergeben sich keine Nachweise für eine Betäubungsmittelabhängigkeit. Dieses ging ebenfalls davon aus, dass der Sachverständige dem Angeklagten einen missbräuchlichen Methamphetaminkonsum bescheinigt habe, die Grenze zur Abhängigkeit zwar noch nicht überschritten sei, jedoch der Angeklagte offensichtlich auch nicht ernstlich bemüht sei, diesen Missbrauch in den Griff zu bekommen, eine stationäre Therapie ablehne und meine, eine ambulante Therapie sei ausreichend. In der Justizvollzugsanstalt Kronach habe er allerdings lediglich ein Suchtberatungsgespräch wahrgenommen. Ein ernsthafter Wille zur Bekämpfung des Drogenproblems, insbesondere auch im Hinblick auf den erheblich gestiegenen Konsum vor der Inhaftierung sei beim Verurteilten nicht erkennbar; ebenso, dass er sich ernsthaft von Drogen und vom Drogenmilieu distanziere, weshalb eine günstige Prognose nicht gestellt werden könne. Die Voraussetzungen für eine Unterbringung nach § 64 StGB seien nicht gegeben, da der Sachverständige dem Verurteilten zwar einen Methamphetaminmissbrauch, allerdings noch keine Abhängigkeit bescheinigt habe und dieser eine stationäre Therapie kategorisch ablehne.
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dd) Diese Einschätzung stimmt überein mit den ersten Berichten der Bewährungshilfe. Daraus ergibt sich, dass sich der Verurteilte selbst als nicht suchtkrank ansehe, sondern seinen vergangenen Suchtmittelkonsum als „missbräuchlich“ bezeichne. Die Abstinenzkontrollen waren (zunächst) negativ (Bericht vom 08.12.2021). Dies bestätigte der Verurteilte selbst im Schreiben vom 02.01.2022 (VH Bl. 62). Der Verurteilte sei nicht therapiemotiviert, da dies mit seinem Ziel der MPU nicht vereinbar sei (Bericht vom 08.02.2022).
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ee) Auch der Verfahrensbevollmächtigte des Antragstellers hat noch im Schreiben vom 08.03.2022 (VH Bl. 85) darauf hingewiesen, dass die Selbsteinschätzung seines Mandanten sei, dass er keine Suchterkrankung habe, lediglich missbräuchlicher Konsument gewesen sei. Das Ausnüchtern in der Haft sei nach seiner Einschätzung ausreichend, um künftige Rückfälle zu vermeiden. Diese Sichtweise seines Mandanten werde bestätigt durch den Umstand, dass dieser seit der Haftentlassung am 27.04.2021 (also in einem Zeitraum von mittlerweile über zehn Monaten) nicht erneut rückfällig geworden sei. Bei unbehandelter Suchterkrankung wäre dies eher nicht möglich gewesen, so dass die Einschätzung seines Mandanten, er sei nicht suchtkrank, sondern habe einen missbräuchlichen Gebrauch erlebt, zutreffend zu sein scheint. Die nunmehrige zehnmonatige Abstinenz indiziere daher die Richtigkeit der Einschätzung seines Mandanten.
35
ff) Allerdings liegen Nachweise ab April 2022 für einen erneuten Drogenkonsum vor. Eine Urinkontrolle vom 08.04.2022 zeigte einen positiven Befund auf Cannabinoide (VH 106). Ein weiterer Befund vom 27.09.2022 war negativ (VH 117). Bei seiner Anhörung zur Frage des Bewährungswiderrufs am 05.10.2022 beim Amtsgericht Lichtenfels erklärte der Antragsteller, nach Einschätzung der Suchtberatung (bestätigt vom Bewährungshelfer) sei eine ambulante Therapie bei ihm nicht zielführend. Wenn überhaupt, müsse man über eine stationäre Therapie nachdenken (VH 118).
36
Laut Bericht der Bewährungshilfe vom 17.11.2022 sehe sich der Antragsteller nicht als suchtkrank an, aber als gefährdet (VH 126). Eine weitere (negative) Urinkontrolle vom 23.11.2022 wurde von der Bewährungshilfe als Manipulationsversuch eingeschätzt (Bericht vom 30.11.2022, VH 128). Laut Bericht der Bewährungshilfe vom 23.01.2023 (VH 153) wolle der Antragsteller aufgrund vorliegender ärztlicher Überweisung am 25.01.2023 eine Entgiftung beginnen. Diese brach er am 25.01.2023 wieder ab (Bericht vom 01.02.2023, VH 160).
37
Der Untersuchungsbefund vom 14.02.2023 (VH 168) war positiv auf Amphetamine, derjenige vom 26.04.2023 (VH 177) war positiv auf Amphetamine und Cannabinoide .
38
Hieraus können aber ebenfalls keine sicheren Erkenntnisse für eine Betäubungsmittelabhängigkeit hergeleitet werden, und schon gar nicht für eine solche im Tatzeitraum.
39
gg) Dies gilt in gleicher Weise für den Umstand, dass eine Therapie- und Kostenzusage erteilt worden ist. Denn es ist nicht ersichtlich, dass der Therapieeinrichtung bzw. dem Kostenträger bessere Erkenntnisquellen zur Beurteilung einer Betäubungsmittelabhängigkeit im Tatzeitraum zur Verfügung gestanden hätten.
40
hh) Auch die Vorstrafen erbringen keinen Beweis für eine Betäubungsmittelabhängigkeit. Lediglich eine Vorahndung ist einschlägig. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts Lichtenfels vom 01.08.2018 (Az. 4 Cs 108 Js 6430/18) wurde der Antragsteller wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln gemäß § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BtMG zu einer Geldstrafe verurteilt, wobei es sich um 3,24 Gramm Marihuana, also ein Betäubungsmittel in geringer Menge handelte, was Rückschlüsse auf eine Abhängigkeit nicht zulässt.
41
b) Ebenso wie die Voraussetzungen einer Betäubungsmittelabhängigkeit zweifelsfrei vorliegen müssen (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 30.11.2015 – 2 VAs 11/15 –, StV 2017, 307, juris Rn. 42), muss auch der für die Zurückstellung nach § 35 BtMG erforderliche Kausalzusammenhang nach dem eindeutigen Wortlaut des § 35 Abs. 1 Satz 1 BtMG feststehen (KG, Beschlüsse vom 22.03.2013 – 4 VAs 17/13 –, juris Rn. 7, und vom 31.08.2007 – 1 Zs 1552/06 – 1 VAs 44/07 –, juris Rn. 10) und bewiesen werden. Die Beweislast hierfür liegt beim Betroffenen. Der Zweifelssatz gilt hier nicht. Eine bloße, wenn auch mit gewichtigen Anhaltspunkten begründete Vermutung, dass die Tat ihre Ursache in der Sucht hatte, ist demgemäß nicht ausreichend (OLG Hamm, Beschlüsse vom 10.09.2019 – 1 VAs 75/19 –, StV 202, 405, juris Rn. 4, und vom 18.06.2014 – III-1 VAs 21/14 –, juris Rn. 20; zustimmend Senat, Beschluss vom 23.03.2023 – 204 VAs 564/22 –, nicht veröffentlicht; so auch BayObLG, Beschluss vom 25.02.2021 – 203 VAs 533/20 –, nicht veröffentlicht; s. auch Senat, Beschluss vom 28.01.2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 27; Fabricius, in: Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl. 2022, § 35 Rn. 96; BeckOK BtMG/Bohnen, 22. Ed. 15.03.2024, § 35 Rn. 118; Weber, in Weber/Kornprobst/Maier, a.a.O., § 35 Rn. 36, jeweils m.w.N.).
42
Es ist nicht zu beanstanden, dass sich die Vollstreckungsbehörde unter Beachtung dieser Vorgaben keine Überzeugung von der Betäubungsmittelabhängigkeit des Antragstellers und deren Kausalität für den ihrer Bedeutung nach überwiegenden Teil der abgeurteilten Straftaten hat bilden können. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Urteilsfeststellungen, dass dieser einen Teil der erworbenen Betäubungsmittel weiterverkauft hatte bzw. solches beabsichtigte, weil auch für die Bejahung der Kausalität der Beschaffungskriminalität eine Abhängigkeit erforderlich und ein bloßer missbräuchlicher Konsumwunsch nicht ausreichend ist.
43
Der Gesetzgeber wollte mit der Möglichkeit der Zurückstellung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe nach §§ 35 ff. BtMG diesen Vorzug nur solchen Verurteilten bieten, die Straftaten begangen haben, die in engem Zusammenhang mit ihrer Betäubungsmittelabhängigkeit bzw. mit der Betäubungsmittelbeschaffung standen, oder Straftaten, die unter Entzugserscheinungen oder unter der Angst vor Entzugserscheinungen begangen wurden. Die herrschende Meinung verlangt deshalb einen unmittelbaren Kausalzusammenhang zwischen der Abhängigkeit und der Tat im Sinne der Äquivalenz. Ein solcher liegt vor, wenn die Ursache – also die Betäubungsmittelabhängigkeit – nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Straftat als Folge entfiele. Die Drogensucht darf somit nicht nur Begleiterscheinung, sondern muss die Bedingung der Straftat gewesen sein. Der erforderliche Kausalzusammenhang liegt nicht bereits darin, dass zur Tatzeit eine Rauschmittelabhängigkeit bestanden hat, in der – unabhängig vom konkreten Einzelfall – allgemein eine Erklärung für das begangene Delikt gefunden werden kann (BayObLG, Beschluss vom 21.09.2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 49). Eine erhebliche Mitursächlichkeit reicht jedoch aus. Es ist somit nicht geboten, dass die Straftat allein zu dem Zweck begangen wurde, um die Drogen zur Suchtbefriedigung zu beschaffen. Vielmehr reicht es aus, dass die Betäubungsmittelabhängigkeit der „Motor“ für die Straftat war, dass die Straftat ohne die Betäubungsmittelabhängigkeit nicht oder in ganz anderer Weise ausgeführt worden wäre (BayObLG, Beschluss vom 21.09.2020 – 203 VAs 215/20 –, juris Rn. 50; vgl. zum Ganzen Senat, Beschluss vom 28.01.2021 – 204 VAs 536/20 –, juris Rn. 20 m.w.N.).
44
Eine Betäubungsmittelabhängigkeit steht aber gerade aufgrund der nachweisbaren Umstände nicht fest. Ebenso könnte ein bloßer Missbrauch von Betäubungsmitteln durch den Antragsteller vorliegen, der in der Zeit des Zusammenseins mit der anderweitig Verfolgten K. intensiviert worden ist. Hieran ändern auch die Einwendungen des Antragstellers nichts, der letztlich nur Indizien aufzeigt, die für die Möglichkeit einer Kausalität sprechen, aber nicht geeignet sind, eine solche nachzuweisen. Rückwirkend lassen sich entsprechende sichere Feststellungen bezogen auf den Tatzeitraum nicht mehr treffen.
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Dass die Vollstreckungsbehörde nicht von einer Abhängigkeit und deren Kausalität für die abgeurteilten Straftaten im Sinne des § 35 BtMG überzeugt war, ist somit nicht zu beanstanden.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 30 Abs. 1 EGGVG, § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 19, § 22 Abs. 1 GNotKG.
47
Die Festsetzung des Geschäftswerts beruht auf § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 19, § 79 Abs. 1 Satz 1, § 36 Abs. 1 und 3 GNotKG.
48
Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen (§ 29 Abs. 2 EGGVG), da die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.