Titel:
Hinterbliebenengeld für Tod der 77 Jahre alten Mutter
Normenkette:
BGB § 254, § 844 Abs. 3
Leitsätze:
Hinterbliebenengeld von 12.000 € bei Tod der 77-jährigen Mutter bei enger Beziehung zu der in eigener Wohnung lebenden Tochter (Rn. 5 – 10)
2. Das hohe Alter eines unfallbedingt Verstorbenen stellt für sich genommen keinen Grund dar, das Hinterbliebenengeld zu reduzieren. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
3. Kein Mitverschulden bei dunkler Bekleidung eines Fußgängers in der Dämmerung, wenn gute Sichtbarkeit bestand. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Hinterbliebenengeld, Mutter, Fußgänger, Dunkle Kleidung
Vorinstanz:
LG Augsburg, Urteil vom 05.01.2024 – 112 O 495/22
Fundstellen:
ZfS 2024, 313
NJW-RR 2024, 768
DAR 2024, 452
FDStrVR 2024, 006647
BeckRS 2024, 6647
SVR 2024, 347
Tenor
Der Senat beabsichtigt, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 05.01.2024, Az. 112 O 495/22, gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.
Hierzu besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen nach Zustellung dieses Hinweises.
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien streiten um die Höhe des Hinterbliebenengelds, das der Klägerin aufgrund des Todes ihrer Mutter bei einem Verkehrsunfall zusteht.
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Das Landgericht Augsburg hat die Beklagte zu 2) (im Folgenden: die Beklagte) zur Zahlung von 16.364,41 € nebst Zinsen verurteilt. In diesem Betrag ist neben Beerdigungskosten in Höhe von 4.364,41 €, die in der Berufung nicht mehr streitig sind, ein Hinterbliebenengeld von 12.000,00 € enthalten, dessen Höhe die Beklagte mit der Berufung beanstandet. Sie ist der Ansicht, in Hinblick auf das Alter der Verstorbenen (77 Jahre) und verschiedene weitere Umstände sowie einem Mitverschulden der Verstorbenen sei ein Hinterbliebenengeld von maximal 5.000,00 € angemessen, und beantragt folglich eine Reduzierung des zuerkannten Betrages auf 9.364,41 €. Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.
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Der Senat ist einstimmig der Auffassung, dass die Berufung offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.
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Bei der Bemessung der Höhe der Hinterbliebenenentschädigung durch den nach § 287 ZPO besonders frei gestellten Tatrichter sind die konkrete seelische Beeinträchtigung des betroffenen Hinterbliebenen zu bewerten und hierbei die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls zu berücksichtigen. Maßgebend für die Höhe sind im Wesentlichen die Intensität und Dauer des erlittenen seelischen Leids und der Grad des Verschuldens des Schädigers. Dabei lassen sich aus der Art des Näheverhältnisses, der Bedeutung des Verstorbenen für den Anspruchsteller und der Qualität der tatsächlich gelebten Beziehung indizielle Rückschlüsse auf die Intensität des seelischen Leids ableiten. Der in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD genannte Betrag in Höhe von 10.000 EUR (BT-Drs. 18/11397, 11) bietet eine Orientierungshilfe für die Bemessung, von der im Einzelfall sowohl nach unten als auch nach oben abgewichen werden kann. Er stellt keine Obergrenze dar (BGH Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 73/21, BGHZ 235, 254 = NJW 2023, 1438).
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Nach dieser Maßgabe und nach Auffassung des Senats ist das vom Landgericht zuerkannte Hinterbliebenengeld angemessen.
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1. a) Das Landgericht hat aufgrund der Anhörung der Klägerin, deren Angaben es als glaubhaft bewertet hat, ein besonderes persönliches Näheverhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter festgestellt. Die Klägerin, die im Westen von A. nur wenige Kilometer von der Wohnung der Verstorbenen in N. entfernt lebt, hat bekundet, dass diese vor dem Unfall jeden Sonntag bei ihr zum Essen gewesen sei. Sie sei auch unter der Woche mit dem Rad vorbeigekommen. Sie habe sich in der damaligen Corona-Zeit – der Unfall ereignete sich am 01.12.2020 – jeden Montag freigenommen, um Zeit mit ihrer Mutter verbringen zu können. Das Näheverhältnis zeigt sich auch darin, dass die Verstorbene die inzwischen 23 und 17 Jahre alten Kinder der Klägerin betreut hatte, als diese noch im Kindergartenalter waren (Prot. vom 10.10.2022, S. 2 = Bl. 50 d. A.).
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Das Landgericht ist mit Recht davon ausgegangen, dass die Klägerin durch den Unfalltod der Mutter seelisches Leid erlitten hat. Sie hatte geplant, in Andenken an den 2016 verstorbenen Vater am 4. Dezember mit ihrer Mutter zusammen den Barbaratag zu feiern. Stattdessen wurde sie mit dem Unfall und mit dem Tod der Mutter am Morgen des 3. Dezember konfrontiert. Das Landgericht hat als glaubhaft bewertet, dass die Mutter der Klägerin sehr fehle; seither habe sie keine Nacht durchgeschlafen. Sie habe zwei Monate gebraucht, um nach dem Tod der Mutter deren Wohnung überhaupt betreten zu können, sowie sechs Monate, um diese zu räumen.
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b) Das mit 77 Jahren hohe Alter der Verstorbenen allein stellt keinen Grund zur Reduzierung des Hinterbliebenengelds dar. Nach den vom Landgericht als glaubhaft bewerteten Angaben der Klägerin war die Verstorbene „fit“, sie sei jeden Tag 10 km Fahrrad gefahren und bei Regenwetter die Strecke zur Wohnung der Klägerin (3 km) auch zu Fuß gelaufen. Sie habe geplant, nach dem Ende der Corona-Beschränkungen bei der Volkshochschule Fremdsprachen zu lernen. Damit gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass auch ohne den Unfall mit einem baldigen Ableben zu rechnen gewesen wäre.
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c) Dass kein gemeinsamer Wohnsitz zwischen der Klägerin und ihrer Mutter bestand, begründet ebenfalls keine niedrige Bemessung des Hinterbliebenengelds. Die Verstorbene wohnte noch selbständig in der Wohnung, in der sie zusammen mit ihrem 2016 verstorbenen Ehemann gelebt hatte. Angesichts der geringen Entfernung von ca. 3 km, die die Verstorbene bis zum Unfall mit dem Fahrrad oder zu Fuß zurückgelegt hat, bestand die Möglichkeit einer engen Mutter-Tochter-Beziehung ohne weiteres.
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d) Der kurze Zeitabstand vom Unfall am Abend des 01.12.2020 und dem Tod am Morgen des 03.12.2020 ist für die Höhe des Hinterbliebenengelds ohne Bedeutung. Die Klägerin macht keinen Schmerzensgeldanspruch aus ererbtem Recht ihrer Mutter geltend.
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e) Hätte die Klägerin den Unfall ihrer Mutter selbst miterlebt, wäre eine (weitere) Erhöhung des Hinterbliebenengelds – je nach den Umständen – in Betracht gekommen. Der vom Landgericht vorgenommenen Bemessung steht dies nicht entgegen.
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f) Das Landgericht hat auch keine Erhöhung wegen eines besonders hohen Verschuldens des – mittlerweile ebenfalls verstorbenen – Busfahrers der Beklagten vorgenommen. Im Gegenteil hat es die Haftung nur auf die Gefährdungshaftung nach § 7 Abs. 1, § 10 StVG gestützt. Hinzu kam eine geringe Fahrlässigkeit des Fahrers, der ausweislich des vom Landgericht eingeholten Gutachtens des Sachverständigen O. die Fußgängerin aus einer Entfernung vom 12 m hätte erkennen und daher bei der gefahrenen geringen Geschwindigkeit von 10 km/h hätte vermeiden können, stattdessen aber auf 16 km/h beschleunigte, bevor er die Fußgängerin tatsächlich wahrnahm und – zu spät – bremste (Gutachten vom 06.04.2023, S. 25/28).
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g) Da das Landgericht „nur“ Hinterbliebenengeld zugesprochen hat, bleibt ohne Bedeutung, dass das seelische Leid der Klägerin noch nicht von pathologischem Ausmaß war.
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h) Schließlich ist das vom Landgericht zuerkannte Hinterbliebenengeld von 12.000,00 € auch nicht deshalb zu hoch, weil in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD (BT-Drs. 18/11397, 11) ein Betrag in Höhe von 10.000 EUR genannt ist, der eine Orientierungshilfe für die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung bietet (vgl. BGH Urteil vom 06.12.2022 – VI ZR 73/21, BGHZ 235, 254 = NJW 2023, 1438). Der Gesetzentwurf stammt aus dem März 2017; allein die Preisentwicklung von 2017 bis 2023 führt zu einer Anpassung auf 12.000,00 € (vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2550/umfrage/entwicklung-des-verbraucherpreisindex/).
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2. Das Landgericht hatte das Hinterbliebenengeld nicht wegen eines Mitverschuldens der Mutter der Klägerin zu kürzen, weil es ein solches Mitverschulden nicht festgestellt hat.
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Die Berufung beanstandet diese Feststellung. Das Berufungsgericht ist jedoch an die Feststellung gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der getroffenen Feststellung bestehen, die eine erneute Feststellung gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Dies ist nicht der Fall.
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a) Das Landgericht konnte nicht feststellen, dass sie bei Rotlicht der Fußgängerampel über die Straße gegangen wäre. Die Zeugin K. hat zwar von einem Rotlichtverstoß gesprochen, aber eingeschränkt, dass es sein könne, „dass erst Grün gewesen und dann schnell Rot gewesen sei“ (Prot. vom 10.10.2022, S. 6 = Bl. 54 d. A.). Auch im weiteren Verlauf ihrer Aussage hat sich die Zeugin K. insoweit nicht festlegen können. Die Dame sei im Zeitpunkt des Zusammenstoßes mit dem Bus schon mehr als die Hälfte über der Straße gewesen. Da der Bus der Beklagten von der D.straße nach rechts in die H.straße abbog und die Verstorbene die H.straße in der entgegengesetzten Richtung überquerte, hatten beide Lichtzeichen eine gemeinsame Grünphase von 8 Sekunden sowie einen Vorlauf der Grünphase für die Fußgängerampel von 3 Sekunden (vgl. Gutachten S. 27). Damit ist möglich, dass die Verstorbene die Fußgängerfurt bei „grün“ betreten hat.
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b) Ein Mitverschulden kann auch nicht darauf gestützt werden, dass die Verstorbene eine dunkle Kleidung getragen hat. Zwar kommt ein solches Mitverschulden in Betracht, wenn ein Fußgänger bei Dunkelheit und nicht vorhandener Straßenbeleuchtung sowie durch unwetterartigen Starkregen zusätzlich erschwerten Sichtverhältnissen außerhalb geschlossener Ortschaften in dunkler Kleidung die Straße überquert (BeckOGK/Walter, 1.1.2022, StVG § 9 Rn. 45.1; OLG Jena, Urteil vom 01.12.2020 – 5 U 134/19; NJW-RR 2021, 607) oder bei Dunkelheit mit dunkler Kleidung, ohne auf Fahrzeuge zu achten, die Fahrbahn überquert (OLG Hamm, Urteil vom 31. 01. 1990 – 32 U 133/89, r + s 1991, 191; Hentschel/König/Dauer/König, 47. Aufl. 2023, StVO § 25 Rn. 53). Der Unfall ereignete sich zwar bei Dunkelheit, aber noch zu einer belebten Zeit (um 18.55 Uhr) annäherend im Stadtzentrum von N. Zudem war die Kleidung der Fußgängerin zwar dunkel, sie trug aber weiße Handschuhe und eine weiße Kopfbedeckung. Der Busfahrer hätte sie aus einer Entfernung von 12 m erkennen und abbremsen können (vgl. Gutachten S. 27/28).
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3. Im Ergebnis ist die Bemessung des Hinterbliebenengelds auf 12.000,00 € im vorliegenden Fall nicht zu beanstanden.
20
Da die Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat, legt das Gericht aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).