Titel:
Nutzungsuntersagung wegen Brandschutzmängeln
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
BayBO Art. 31 Abs. 1, Art. 54 Abs. 4
Leitsätze:
1. Eine erhebliche Gefahr iSd Art. 54 Abs. 4 BayBO kann darin begründet sein, dass diese erst nachträglich auftritt oder erst nachträglich erkannt bzw. ihre Schwere – etwa unter Berücksichtigung der fortschreitenden technischen Entwicklung oder neuer Erkenntnisse – anders beurteilt wird. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mängel innerhalb der Rettungswege indizieren eine erhebliche Gefahr iSv Art. 54 Abs. 4 BayBO. Von einer erheblichen Gefahr in Bezug auf den Brandschutz ist ua dann auszugehen, wenn die nach Art. 31 Abs. 1 BayBO für Nutzungseinheiten mit Aufenthaltsräumen regelmäßig geforderten zwei unabhängigen Rettungswege überhaupt nicht vorhanden sind oder wenn nur ein Rettungsweg vorhanden und mit Mängeln behaftet ist, die im Brandfall mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit zur vorzeitigen Unbenutzbarkeit führen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, Nutzungsuntersagung wegen Brandschutzmängeln (erster und zweiter Rettungsweg), bestandsgeschützte bauliche Anlage, erhebliche Gefahr, fortschreitende technische Entwicklung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 16.10.2023 – RN 6 S 23.1780
Fundstelle:
BeckRS 2024, 638
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 17.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
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1. Die Antragstellerin wendet sich gegen einen Bescheid des Antragsgegners vom 19. September 2023, mit dem die Unterbringung von Menschen in den Räumen des Obergeschosses und Dachgeschosses des westlichen Gebäudeteils der baulichen Anlage auf dem Grundstück der Antragstellerin untersagt wurde. Begründet wurde die Untersagung im Wesentlichen mit Brandschutzmängeln durch nicht ausreichend gesicherte erste und zweite Rettungswege.
2
Das Bayerische Verwaltungsgericht Regensburg hat mit Beschluss vom 16. Oktober 2023 den Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage abgelehnt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe des Beschlusses Bezug genommen.
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Mit der Beschwerde verfolgt die Antragstellerin unter Vorlage eines Brandschutznachweises vom 9. November 2023 und weiterer Unterlagen ihr Rechtsschutzziel weiter. Das Verwaltungsgericht habe verkannt, dass der Bescheid vom 19. September 2023 sich ausschließlich mit der hier nicht vorliegenden, angeblichen Nutzung des Gebäudes als Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge auseinandergesetzt habe. Er behandele nicht, auch nicht fakultativ, die angebliche Unzulässigkeit einer Wohnnutzung der genehmigten Wohnungen und spreche daher auch keine Nutzungsuntersagung für eine Wohnnutzung aus. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 76 Satz 2 BayBO lägen daher nicht vor. Der Bescheid sei wegen der Unterlassung der Anhörung vor Bescheidserlass formell rechtswidrig. Auch die Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 4 BayBO lägen nicht vor. Die beiden Wohnungen seien genehmigt worden. Die Brandschutzanforderungen seien bereits heute im Bestand gewährleistet. Dies bestätige der Brandschutznachweis. Die im Bescheid ausgesprochene Untersagung der Unterbringung von Menschen in den Räumen des Obergeschosses und Dachgeschosses im westlichen Gebäudeteil sei zu unbestimmt. Der Bescheid richte sich auch an den falschen Adressaten. Die Interessenabwägung müsse daher zugunsten der Antragstellerin ausfallen.
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Die Antragstellerin beantragt,
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unter Abänderung des angefochtenen Beschlusses vom 16. Oktober 2023 die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen die Nutzungsuntersagungsverfügung des Antragsgegners vom 19. September 2023 (Nr. 1 des Bescheids) wiederherzustellen sowie die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung (Nr. 3 des Bescheids) anzuordnen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Der Antragsgegner tritt den Aussagen des Brandschutznachweises der Antragstellerin, wonach die Brandschutzanforderungen erfüllt seien, durch die Vorlage eines Aktenvermerks des Kreisbaumeisters vom 14. Dezember 2023 entgegen. Demnach sei der erste bauliche Rettungsweg mit Mängeln behaftet, ein zweiter, mangelfreier baulicher Rettungsweg im Dachgeschoss überhaupt nicht vorhanden und der zweite Rettungsweg im Obergeschoss nur für zwei Räume über Rettungsgeräte der Feuerwehr sichergestellt.
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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben oder abzuändern wäre. Die vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen geht demnach zulasten der Antragstellerin aus.
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Anders als die Antragstellerin meint, ging das Verwaltungsgericht zu Recht davon aus, dass die Nutzungsuntersagung auf Art. 54 Absatz 4 BayBO gestützt werden kann.
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Die Bauaufsichtsbehörden können gemäß Art. 54 Abs. 4 BayBO auch bei bestandsgeschützten baulichen Anlagen Anforderungen stellen, wenn das zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leben und Gesundheit notwendig ist. Eine erhebliche Gefahr in diesem Sinne kann darin begründet sein, dass diese erst nachträglich auftritt oder erst nachträglich erkannt bzw. ihre Schwere nunmehr – etwa unter Berücksichtigung der fortschreitenden technischen Entwicklung oder neuer Erkenntnisse – anders beurteilt wird. (BayVGH, B.v. 18.9.2018 – 15 CS 18.1563 – juris Rn. 20). Bei Anwendung des Art. 54 Abs. 4 BayBO ist das Handlungsermessen regelmäßig auf null reduziert, d.h. dass die Behörde in der Regel tätig werden muss, soweit Anordnungen zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leben oder Gesundheit notwendig sind (vgl. BayVGH, B.v. 13.8.2020 – 15 CS 20.1746 – juris Rn. 8). Mängel innerhalb der Rettungswege indizieren eine erhebliche Gefahr i.S. von Art. 54 Abs. 4 BayBO. Von einer erheblichen Gefahr in Bezug auf den Brandschutz ist unter anderem dann auszugehen, wenn die nach Art. 31 Abs. 1 BayBO für Nutzungseinheiten mit Aufenthaltsräumen regelmäßig geforderten zwei unabhängigen Rettungswege überhaupt nicht vorhanden sind oder wenn nur ein Rettungsweg vorhanden und mit Mängeln behaftet ist, die im Brandfall mit hinreichend großer Wahrscheinlichkeit zur vorzeitigen Unbenutzbarkeit führen (BayVGH, B.v. 11.10.2017 – 15 CS 17.1055 – juris Rn. 23).
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Hier ist, wie auch das Verwaltungsgericht zu Recht ausgeführt hat, nach summarischer Prüfung zumindest offen, ob die Voraussetzungen des Art. 54 BayBO vorliegen. Unstreitig wurden Räume im Obergeschoss und Dachgeschoss zu Aufenthaltszwecken genutzt, weshalb nach Art. 31 Abs. 1 BayBO für die jeweilige Nutzungseinheit mit Aufenthaltsräumen zwei unabhängige Rettungswege erforderlich waren. Unabhängig davon, ob es sich lediglich um je eine Wohneinheit im Obergeschoss und Dachgeschoss oder um eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge handelt, muss für jede Nutzungseinheit, die nicht zu ebener Erde liegt, nach Art. 31 Absatz 2 Satz 1 BayBO der erste Rettungsweg über eine notwendige Treppe führen. Ob der erste Rettungsweg über die notwendige Treppe hier den Brandschutzanforderungen entspricht, ist zumindest offen: Zwar hat die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 25. November 2023 einen Brandschutznachweis eines Planungsbüros vom 9. November 2023 und weitere Unterlagen vorgelegt, der nach ihrer Auffassung bestätigt, dass die Brandschutzvorschriften eingehalten werden. Allerdings ergibt sich aus dem vom Antragsgegner mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2023 vorgelegten Aktenvermerk des Kreisbaumeisters vom gleichen Tag, dass der erste bauliche Rettungsweg mit Mängeln behaftet, ein zweiter, mangelfreier baulicher Rettungsweg im Dachgeschoss überhaupt nicht vorhanden und der zweite Rettungsweg im Obergeschoss nur für zwei Räume über Rettungsgeräte der Feuerwehr sichergestellt sei. Die Ausführungen des Kreisbaumeisters erscheinen nach den vorgelegten Unterlagen und Plänen auch nachvollziehbar und plausibel. Die Antragstellerin ist diesen auch nicht entgegengetreten. Es sind daher weiterhin erhebliche Gefahren für Leib und Leben im Sinne des Art. 54 Absatz 4 BayBO zu befürchten, weshalb bis zur endgültigen Klärung der Brandschutzsituation im Hauptsacheverfahren trotz der erheblichen wirtschaftlichen Folgen für die Antragstellerin die Interessenabwägung, wie das Verwaltungsgericht ebenfalls zu Recht annahm, (weiterhin) zu Gunsten des Antragsgegners ausfällt.
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Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Nutzungsuntersagung sei auch nicht zu unbestimmt, ist gleichfalls nicht zu beanstanden. Der streitgegenständliche Bescheid kann nur so verstanden werden, dass der Antragsgegner, der den Bescheid mit den Mängeln bei den Rettungswegen begründet hat, mit dem Begriff „Unterbringung“ von Menschen entsprechend Art. 31 Abs. 1 BayBO i.V.m. Art. 2 Abs. 5 BayBO den dauerhaften Aufenthalt von Menschen im Obergeschoss und Dachgeschoss des westlichen Gebäudeteils, unabhängig davon, ob sich dort Menschen in ihrer Wohnung oder in einer Gemeinschaftsunterkunft aufhalten, untersagt hat. Auf die Frage, ob es sich bei den Räumlichkeiten um eine Wohnung oder eine Gemeinschaftsunterkunft handelt, kommt es damit nicht an.
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Zutreffend hat das Verwaltungsgericht auch ausgeführt, dass sich der Bescheid an den richtigen Adressaten gewandt hat. Entscheidend war für den Antragsgegner, dass die Nutzungseinheiten im Obergeschoss und Dachgeschoss mangelhafte Rettungswege aufweisen, nicht, ob dort eine Wohnnutzung oder Gemeinschaftsunterkunft vorhanden war. Für die Herstellung baurechtmäßiger Zustände, wie Brandschutzmaßnahmen, ist in der Regel nur der Grundstückeigentümer verantwortlich, da der Mieter einer Wohnung oder der Nutzer einer Gemeinschaftsunterkunft, selbst wenn er dazu bereit wäre, die genutzten Räume baulich zu verändern, im Verhältnis zu seinem Vermieter dazu regelmäßig nicht berechtigt ist.
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Die Beschwerde bleibt auch mit dem Vortrag, der Bescheid sei wegen unterbliebener Anhörung formell rechtswidrig, erfolglos. Unterstellt, die Auffassung des Verwaltungsgerichts wäre zutreffend, dass zweifelhaft sei, ob in diesem Fall von einer Anhörung abgesehen werden konnte, ist diese jedenfalls im Laufe des Verfahrens – u.a. durch die ausführliche Auseinandersetzung des Kreisbaumeisters in seinem Aktenvermerk vom 14. Dezember 2023 mit den von der Antragstellerin mit Schriftsatz vom 15. November 2023 vorgelegten Unterlagen zum Brandschutznachweis – nachgeholt worden.
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Auf die weiteren Ausführungen der Antragstellerin, insbesondere ob die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 76 Satz 2 BayBO vorliegen, kommt es daher nicht weiter an.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 1.7.2 und 9.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).