Titel:
Zur zumutbaren Ersatzbeförderung bei Annullierung eines Fluges
Normenketten:
Fluggastrechte-VO Art. 5 Abs. 1 lit. c, Art. 7 Abs. 1 lit. c
BGB § 398
Leitsätze:
1. Grundsätzlich ist es nicht zu beanstanden, dass sich die Beklagte eines automatisierten Umbuchungssystems bedient, sofern dabei sämtliche möglichen anderweitigen direkten oder indirekten Beförderungsmöglichkeiten unter Einbeziehung aller am Markt operierenden Fluggesellschaften ggf. in Kombination mit anderen Verkehrsträgern wie dem Straßen- oder Schienenverkehr geprüft werden. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es erscheint daher denkbar, dem Luftfahrtunternehmen die Exkulpation dadurch zu ermöglichen, dass nachgewiesen wird, dass geeignete technische Mittel für die Suche nach der schnellstmöglichen Ersatzbeförderung im konkreten Fall zum Einsatz kamen und dabei keine schnellere Verbindung gefunden werden konnte. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
3. Dem Vortrag der Beklagten lässt sich nämlich entnehmen, dass im konkreten Fall gerade nicht sichergestellt war, dass es sich um die frühestmögliche Ersatzbeförderung handelt. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ersatzbeförderung, automatisiertes Umbuchungssystem, Annullierungsentscheidung, Fluggesellschaft, Beförderungsmöglichkeit, Substantiierungspflicht, Exkulpation, Interkontinentalflug, Fremdbuchung, Zedent, VO (EG) 261/2004
Vorinstanz:
AG Erding, Urteil vom 24.11.2021 – 117 C 3510/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6370
Tenor
(abgekürzt nach §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 ZPO)
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Erding vom 24.11.2021, Az. 117 C 3510/21, abgeändert und wie folgt neu gefasst:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.200,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 26.01.2018 zu zahlen.
2. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits, einschließlich der Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens, zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 1.200,00 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
1
Die zulässige Berufung ist begründet.
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Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung von Ausgleichsleistungen in Höhe von 1.200,00 € aus abgetretenem Recht gemäß Art. 5 Abs. 1 lit. c), 7 Abs. 1 lit. c) VO (EG) 261/2004, § 398 BGB.
3
Die Beklagtenpartei kann sich nicht gemäß Art. 5 Abs. 3 VO (EG) 261/2004 exkulpieren. Die Beklagte hat nicht dargetan, dass keine ihr zumutbare Möglichkeit einer früheren Ersatzbeförderung bestand.
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Die Beklagte hatte in der Berufungsinstanz Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag dazu, welche Möglichkeiten einer Ersatzbeförderung bestanden und welche Maßnahmen die Beklagte ergriffen hat. Auf das Urteil des Bundesgerichtshofs in dieser Sache vom 10.10.2023 Az.: X ZR 107/22 wird Bezug genommen.
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Die Beklagte hat daraufhin vorgetragen, die Annullierungsentscheidung sei am 06.01.2018 um 08:46 UTC getroffen worden. In diesem Zeitpunkt sei ein automatisierter Umbuchungsprozess gestartet. Für die Zedenten sei um 08:46 Uhr die Ersatzbeförderung mit Scaninavian Airlines SK 908 am 09.01.2018 über Oslo und weiter mit SK 4759 von Oslo nach München am 10.01.2018 gefunden und eingebucht worden. Im Rahmen des Abfrageprozesses seien alle freien Sitzplätze von Fluggesellschaften erfasst worden, die einen Zugriff auf ihre Flugdatenbanken erlauben und insbesondere Umbuchungen und Einbuchungen sowie Verrechnung der Ticketpreise genehmigen. Im vorliegenden Fall hätten sämtliche Fluggesellschaften zunächst eigene Passagiere auf eigene Flüge umgebucht und Einbuchungen von Fremdfluggesellschaften zunächst nicht zugelassen. Auch die Beklagte lasse Einbuchungen von Fremdfluggesellschaften zunächst nicht zu, sondern erst nachdem die eigenen Passagiere umgebucht worden seien.
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Dieser Vortrag zeigt nicht auf, dass die Beklagte alle ihr zumutbare Maßnahmen ergriffen hat, um eine frühestmögliche Ersatzbeförderung der Zedenten sicherzustellen und dass es tatsächlich keine schnellere Beförderungsmöglichkeit gab.
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Grundsätzlich ist es nicht zu beanstanden, dass sich die Beklagte eines automatisierten Umbuchungssystems bedient, sofern dabei sämtliche möglichen anderweitigen direkten oder indirekten Beförderungsmöglichkeiten unter Einbeziehung aller am Markt operierenden Fluggesellschaften ggf. in Kombination mit anderen Verkehrsträgern wie dem Straßen- oder Schienenverkehr geprüft werden. Anders wird eine Prüfung von Umbuchungen angesichts der Komplexität dieser Suche in der Regel nicht praktikabel sein. Es dürfte die Anforderungen an die Substantiierungspflicht überspannen, wenn man in jedem Fall verlangt, dass das Luftfahrtunternehmen dazu vorträgt, welche direkten und indirekten Verbindungen konkret mit Flugnummer, Luftfahrtunternehmen sowie Abflug- und Ankunftsort überprüft wurden. Gerade bei Interkontinentalflügen wie im vorliegenden Fall und der Berücksichtigung von indirekten Verbindungen ggf. mit mehreren Zwischenstopps und anderen Verkehrsmitteln wäre das eine unüberschaubare Vielzahl an Möglichkeiten. Es erscheint daher denkbar, dem Luftfahrtunternehmen die Exkulpation dadurch zu ermöglichen, dass nachgewiesen wird, dass geeignete technische Mittel für die Suche nach der schnellstmöglichen Ersatzbeförderung im konkreten Fall zum Einsatz kamen und dabei keine schnellere Verbindung gefunden werden konnte. Welche Anforderungen an den Vortrag im Einzelfall zu stellen sind und welche Mindestumstände für die richterliche Überzeugungsbildung im Rahmen des § 286 ZPO notwendig sind, muss hier jedoch nicht entschieden werden.
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Dem Vortrag der Beklagten lässt sich nämlich entnehmen, dass im konkreten Fall gerade nicht sichergestellt war, dass es sich um die frühestmögliche Ersatzbeförderung handelt. Das Wettereignis fand im Zeitraum 04.01.2018 – 07.01.2018 statt. Die Umbuchung der Zedenten auf die Flugverbindung für 09.01.2018/10.01.2018 erfolgte zu dem Zeitpunkt als auch die Annullierungsentscheidung getroffen wurde, nämlich am 06.01.2018 um 08:46 Uhr. Es drängt sich auf, dass diese Umbuchung der Zedenten zu einem Zeitpunkt erfolgte, als andere Fluggesellschaften keine Fremdbuchungen zuließen. Die Beklagte hat vorgetragen, dass sämtliche betroffene Fluggesellschaften „zunächst“ eigene Passagiere umgebucht und keine Fremdbuchungen zugelassen hätten. Welcher Zeitraum mit „zunächst“ gemeint ist, bleibt offen. Es bleibt damit auch offen, ob zwischen Umbuchung der Zedenten und Abflug der Zedenten frühere Ersatzbeförderungsmöglichkeiten auf anderen Airlines bestanden. Die Beklagte hätte deshalb zu einem späteren Zeitpunkt mindestens ein weiteres Mal – ggf. automatisiert – prüfen müssen, ob frühere Umbuchungsmöglichkeiten bestanden. Dies gilt vorliegend insbesondere vor dem Hintergrund, dass zwischen Umbuchung der Zedenten und Ersatzbeförderung ein Zeitraum von drei Tagen lag.
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Die Kostenentscheidung für dieses Verfahren beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.
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Das Urteil war nach § 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO für vorläufig vollstreckbar zu erklären.
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Der Streitwert wurde gemäß §§ 48 Abs. 1, 63 Abs. 2 GK i.V.m. §§ 3ff. ZPO festgesetzt.