Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 26.02.2024 – W 7 K 23.866
Titel:

Aufhebung eines asylrechtlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots einer minderjährigen Georgierin

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 1
AufenthG § 11 Abs. 4 S. 1, § 25a Abs. 1, § 71 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist ein Instrument der Gefahrenabwehr und ergeht entweder in Reaktion auf aufenthaltsrechtliche Verstöße oder auf Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im weiteren Sinne. ( (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine feste gesetzliche Altersgrenze für eine Entkoppelung des ausländerrechtlichen Schicksals des Kindes von seinen Eltern  existiert nicht, aber es ist davon auszugehen, dass spätestens ab einer Altersgrenze von 14 Jahren eine teilweise Entkoppelung eintritt. (Rn. 33 – 34) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, Zweckfortfall, Minderjährige, Georgische Staatsangehörige, Klageverfahren, Asylverfahren, Georgien, Einreise-und Aufenthaltsverbot, Kind, Altersgrenze, Entkoppelung, ausländerrechtl. Schicksal
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6336

Tenor

I.    Der Beklagte wird verpflichtet, das Einreise- und Aufenthaltsverbot aus Ziffer 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2016 (Az. 6402636-166) aufzuheben, soweit es die Klägerin betrifft.
II.    Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.    Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die nachträgliche Aufhebung bzw. Verkürzung des Verbots der Einreise in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und des Aufenthalts darin.
I.
2
Die Klägerin wurde am ... 2009 geboren und ist georgische Staatsangehörige. Gemeinsam mit ihren Eltern und dem am ... 2004 geborenen Bruder reiste sie am 24. November 2015 erstmals ins Bundesgebiet ein. Ihre Eltern gaben damals an, die ganze Familie habe die ukrainische Staatsangehörigkeit und sei auf der Flucht vor dem Krieg in der Ostukraine, wobei die Mutter der Klägerin georgischer Volkszugehörigkeit sei. Sie gaben außerdem einen falschen Familiennamen an. Der am 6. April 2016 gestellte Asylantrag wurde mit Bescheid vom 25. August 2016 (Az.: 6402636-166) als offensichtlich unbegründet abgelehnt und es wurde die Abschiebung in die Ukraine angedroht. Die offensichtliche Unbegründetheit wurde auf § 30 Abs. 1 AsylG gestützt. Zudem wurde angeordnet, dass das „gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot“ gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet wird (Ziffer 6). Eine dagegen erhobene Klage wurde mit Entscheidung vom 3. Februar 2017 abgewiesen (Az. W 7 K 16.31467). Ein Antrag auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 11. April 2017 wegen nicht fristgerechter Begründung abgelehnt (Az. 11 ZB 17.30365).
3
Im März 2020 übermittelte die Polizeiinspektion S. Ergebnisse eines erkennungsdienstlichen Personenfeststellungsverfahrens bzgl. der Eltern der Klägerin. Demnach sei die Familie nach den Erkenntnissen der georgischen Behörden eindeutig georgischer Staatszugehörigkeit. Es wurden Informationen über die Existenz entsprechender Reisepässe, inklusive des wahren Familiennamens, und über die Ausreise der Familie im Jahr 2015 auf dem Luftweg von Georgien nach Polen übermittelt.
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Am 9. September 2020 wurde der Regierung von Unterfranken – Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) der am 22. Juli 2015 ausgestellte und bis zum 22. Juli 2018 gültige georgische Reisepass der Klägerin übergeben, der ein Schengen-Visum für den Zeitraum der Einreise im Jahr 2015 enthält. Auch die Pässe der weiteren Familienangehörigen wurden vorgelegt.
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Am 8. September 2020 wurde von Amts wegen ein Wiederaufnahmeverfahren zur erneuten Prüfung von Abschiebungsverboten eingeleitet (Az. 8221097 – 430). Mit Bescheid vom 2. Oktober 2020, zugestellt am 8. Oktober 2020, wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 1). Zudem wurde in Ziffer 2 der Bescheid vom 25. August 2016 dahingehend geändert, dass die Abschiebung nach Georgien angedroht wurde.
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Am 9. Februar 2021 ließen die Eltern der Klägerin für sich und ihre Tochter eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG beantragen. Zur Begründung wurde angegeben, aufgrund der dem 16-jährigen Bruder der Klägerin zwischenzeitlich erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG sei die Ausreise der Familie wegen notwendiger Ausübung der Personensorge rechtlich unmöglich. In diesem Zusammenhang legte die Klägerin am 31. März 2022 einen bis zum 25. Februar 2025 gültigen georgischen Reisepass vor.
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Mit Schreiben vom 2. Mai 2022 teilte die ZAB mit, es sei beabsichtigt, den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für die gesamte Familie abzulehnen. Zur Begründung wurde ein Ausweisungsinteresse bzgl. der Eltern der Klägerin wegen strafrechtlicher Verurteilungen und wegen der jahrelangen Identitätstäuschung angeführt. Nachdem der Bruder der Klägerin in absehbarer Zeit volljährig werde, bestehe kein Ausreisehindernis für die restliche Familie mehr. Die Klägerin könne gemeinsam mit ihren sorgeberechtigten Eltern ausreisen. Es wurde die Rücknahme des Antrags angeregt, die nicht erfolgte.
8
Mit Schreiben vom 26. August 2022 ließ die Klägerin durch ihre Bevollmächtigte eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG beantragen.
9
Mit Bescheid vom 27. Oktober 2022 lehnte die ZAB die Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – auch für die Klägerin – ab. Bzgl. der Klägerin wurde ausgeführt, ihre Ausreise sei gemeinsam mit den Eltern rechtlich möglich, sodass ein Titel nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht in Betracht komme. § 25a AufenthG sei auf die Klägerin nicht anwendbar, weil sie noch nicht das vierzehnte Lebensjahr vollendet habe und somit das aufenthaltsrechtliche Schicksal ihrer Eltern teile. Selbiges gelte für § 25b AufenthG.
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Am 3. November 2022 wurde die Klägerin zusammen mit ihren Eltern und ihrem jüngeren, im Bundesgebiet geborenen Bruder nach Georgien abgeschoben.
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Aus einer Beurteilung der Realschule vom 8. November 2022 geht hervor, dass die Klägerin gut in die 7. Klasse integriert war und die Anforderungen für den Besuch der Realschule voll erfüllen konnte. Ein ähnliches Bild zeichnet die Stellungnahme zweier Lehrkräfte vom 18. November 2022.
12
Mit ärztlichem Attest aus Georgien vom 3. Februar 2023 wird der Klägerin ein „emotioneller Schock oder Stress, nicht näher bezeichnet“ nach ICD-10 R45.7 diagnostiziert. Aus dem Attest ergibt sich, dass die Klägerin emotional labil und in sich selbst eingeschlossen sei. Sie könne kaum schlafen und gehe nicht zur Schule, weil ihr die Kommunikation auf georgisch schwer falle. Sie könne auf georgisch nicht lesen und schreiben. Es sei eine psychologische Beratung erforderlich.
13
Am 21. Februar 2023 gab ein Bekannter der Familie gegenüber dem Landratsamt W. eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG für die Klägerin ab. Eine zusätzliche Verpflichtungserklärung einer weiteren Familie wurde am 18. September 2023 abgegeben.
II.
14
Mit Schriftsatz vom 26. Juni 2023, bei Gericht eingegangen am selben Tag, ließ die Klägerin Klage erheben und zuletzt beantragen,
der Beklagte wird verpflichtet, das Einreise- und Aufenthaltsverbot aus Ziffer 6 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2016 (Az. 6402636-166) aufzuheben,
hilfsweise wird der Beklagte verpflichtet, über den Antrag auf Verkürzung der Fristlänge dieses Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Zudem wurde ein Antrag auf Prozesskostenhilfe und Rechtsanwaltsbeiordnung gestellt.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei als Fünfjährige erstmals nach Deutschland eingereist und habe bis einschließlich August 2022 ausschließlich hier die Schule besucht. Sie sei in Deutschland sehr gut integriert gewesen. Für die Klägerin sei Deutschland ihre Heimat. An Georgien habe sie sich vor der Abschiebung nicht erinnern können. Die georgische Sprache spreche sie zwar, sie könne aber nicht auf Georgisch schreiben. Ihr sei es bislang auch nicht gelungen, sich in der georgischen Schule zu integrieren. Deswegen und wegen der Abschiebung leide sie an Depressionen. Aktuell besuche sie keine Schule. Ihr Bruder lebe weiterhin in W., außerdem habe eine Familie aus W.  gegenüber dem Landratsamt eine Verpflichtungserklärung abgegeben und sei bereit, die Klägerin in ihren Haushalt aufzunehmen. Dort wolle die Klägerin leben und ihre ursprüngliche Schule weiterbesuchen. Durch die Verpflichtungserklärung sei der Unterhalt gesichert. Die Verfehlungen ihrer Eltern seien der Klägerin nicht zurechenbar. Die Einreisesperre sei daher unangemessen lang und unverhältnismäßig.
17
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen angegeben, der Klägerin könne derzeit keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. Auch Voraussetzungen nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG seien nicht nachgewiesen. Insbesondere seien keine schutzwürdigen Belange im Bundesgebiet nachgewiesen. Die Klägerin sei nun in Georgien in ihre Familie eingebunden und könne dort die Schule besuchen. Auch in Georgien sei der Klägerin eine altersgerechte Lebensführung möglich. Es sei auch nicht ersichtlich, dass der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erforderlich sei. Insbesondere seien die Eltern sorgeberechtigt, nicht der Bruder im Bundesgebiet und auch nicht die Bekannten der Familie, die die Verpflichtungserklärungen abgegeben hätten. Die Eltern gingen ihren Pflichten auch nach. Es seien keine Nachweise beigebracht worden, die eine Verkürzung erforderlich machten. Im Rahmen der Ermessensentscheidung sei deshalb vom Überwiegen des öffentlichen Interesses am Einreiseverbot auszugehen. Die Klägerin verfüge im Bundesgebiet nicht über schützenswerte persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Bindungen. Ihr Bruder könne sie jederzeit besuchen, außerdem könne sie über moderne Kommunikationsmittel mit ihm Kontakt halten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 26. Februar 2024 verwiesen.

Entscheidungsgründe

20
Die Klage ist zulässig und begründet.
21
1. An der Zulässigkeit der am 26. Juni 2023 in Form der Versagungsgegenklage erhobenen Verpflichtungsklage auf Verkürzung bzw. Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots aus dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2016 (Az. 6402636-166) bestehen keine Zweifel.
22
2. Die Klage ist zudem im Hauptantrag auf Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots vollständig begründet, sodass es auf den zusätzlichen Hilfsantrag auf Verkürzung dieses Verbots nicht ankommt. Die bisherige Ablehnung des Erlasses eines Aufhebungsbescheids durch den Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Ferner ist die Sache spruchreif, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
23
Im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung am 26. Februar 2024 (BVerwG, U.v. 25.1.2018 – 1 C 7/17 – juris Rn. 11) hat die Klägerin einen entsprechenden Aufhebungsanspruch.
24
Nach § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann das Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers, oder soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben oder die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots verkürzt werden.
25
Nach § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist für die Verkürzungsentscheidung die Ausländerbehörde zuständig. Diese Zuständigkeit hat hier nach § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 7 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 5 ZustVAuslR die Zentrale Ausländerbehörde Unterfranken übernommen.
26
Mit § 11 Abs. 4 AufenthG hat der Gesetzgeber eine spezielle Rechtsgrundlage für die nachträgliche Verlängerung oder Verkürzung der Frist und auch für die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots geschaffen, die einen Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes ausschließt (NdsOVG, U.v. 18.2.2021 – 13 LB 269/19 – juris Rn. 37).
27
Der Verkürzungsantrag der Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 11 Abs. 4 Satz 1 Alt. 1 AufenthG. Das gegen sie verhängte Einreise- und Aufenthaltsverbot ist aufzuheben, weil sein Zweck den Fortbestand nicht mehr verlangt (a). Zudem hängt – anders als der Beklagte vorbringt – die Entscheidung über die Aufhebung bzw. Verkürzung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht davon ab, ob die Klägerin die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt (b).
28
a) Der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist spätestens mit dem 14. Geburtstag der Klägerin entfallen.
29
Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist ein Instrument der Gefahrenabwehr. Es ergeht entweder in Reaktion auf aufenthaltsrechtliche Verstöße oder auf Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im weiteren Sinne (Maor in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.10.2023, § 11 AufenthG Rn. 18).
30
Das streitgegenständliche Einreise- und Aufenthaltsverbot im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 25. August 2016 gehört zu ersterer Fallgruppe. Es erging gemeinsam mit der negativen Entscheidung des Bundesamts über den Asylantrag der Klägerin und ihrer Familie, weil diese die Voraussetzungen für den Aufenthalt im Bundesgebiet nicht erfüllten und sich somit nach Abschluss des Asylverfahrens ohne den erforderlichen Aufenthaltstitel dort aufhielten. In diesem Fällen setzt das Bundesamt – ohne dass das zu beanstanden wäre – aus Gründen der Gleichbehandlung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 30 Monaten fest, wenn keine Umstände ersichtlich sind, die den Fall als besonders kennzeichnen (std. Rspr., etwa BayVGH, B.v. 28.11.2016 – 11 ZB 16.30463 – juris Rn. 4). Weitere sicherheitsrechtliche Bedenken, die bzgl. der Klägerin aus Gründen der Gefahrenabwehr zu beachten wären, lagen und liegen nicht vor.
31
Demnach sprachen für die ursprüngliche Befristungsentscheidung sowohl spezialpräventive als auch generalpräventive Gründe. Zum einen sollten weitere Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht verhindert werden, zum anderen sollte die Entscheidung Abschreckungswirkung entfalten (vgl. NdsOVG, U.v. 18.2.2021 – 13 LB 269/19 – juris Rn. 41)
32
Zu beachten ist aber, dass die Klägerin entsprechende Verstöße nicht selbst begangen hat. Vielmehr kam sie im Alter von fünf Jahren gemeinsam mit ihren Eltern ins Bundesgebiet. Dass ihre Eltern auch für sie eine falsche Identität angaben, kann der Klägerin angesichts ihres damals sehr jungen Alters nicht persönlich vorgeworfen werden. Ohne dass es darauf ankäme, ist außerdem vollkommen unklar, ob und inwieweit sie überhaupt von den falschen Angaben ihrer Eltern wusste. Von der Entscheidung des Bundesamts war die Klägerin lediglich als unselbstständiger Teil der Familie betroffen, die insgesamt kein Bleiberecht hatte.
33
Zwischenzeitlich ist die Klägerin 14 Jahre alt geworden. Nach der gesetzgeberischen Wertung, wie sie unter anderem in § 25a Abs. 1 AufenthG zum Ausdruck kommt, ist davon auszugehen, dass spätestens ab dieser Altersgrenze eine teilweise Entkoppelung des ausländerrechtlichen Schicksals des Kindes von seinen Eltern eintritt (vgl. etwa Röcker, in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 25a AufenthG Rn. 11).
34
Zwar ist festzuhalten, dass eine feste gesetzliche Altersgrenze für diese Entkoppelung nicht existiert. Es ist naheliegend, die Möglichkeit der eigenständigen Erteilung einer (längerfristigen) Aufenthaltserlaubnis nicht als absolute Grenze anzusehen. So kann auch ein Kind im Alter von unter 14 Jahren mit Zustimmung seiner Eltern und ggf. unter Aufsicht Reisen mit Kurzzeit-Visa unternehmen, denen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ebenfalls entgegenstehen würde. Auch die Teilnahme an einem Schüleraustausch nach § 16f AufenthG kann – mit Zustimmung der Eltern – unter Umständen schon vor dem 14. Geburtstag stattfinden.
35
Für die 14-jährige Klägerin ist jedenfalls von einer solchen Entkoppelung auszugehen.
36
Nimmt man die Klägerin allein in den Blick und blendet die aufenthaltsrechtlichen Verstöße ihrer Eltern aus, sind weder general- noch spezialpräventive Gründe ersichtlich, aus denen von einem fortbestehenden Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots ausgegangen werden kann. Vielmehr gibt es keine Gründe dafür, die Klägerin aufenthaltsrechtlich anders zu behandeln als jede andere 14-jährige Georgierin.
37
Die Klägerin selbst hat keine Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz oder sonstige Rechtsvorschriften begangen und bemüht sich derzeit um einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet. Es gibt (unter spezialpräventiven Aspekten) keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin in Zukunft solche Verstöße begehen wird.
38
Gleichzeitig sprechen keine generalpräventiven Gründe für das Einreise- und Aufenthaltsverbot. Zwar ist nicht zu verkennen, dass eine entsprechende Entscheidung abstrakt geeignet wäre, andere Ausländer davor abzuschrecken, unter falscher Identität gemeinsam mit ihren Kindern ins Bundesgebiet einzureisen. Schon aus Gründen des Grundrechtsschutzes verlangen aber auch generalpräventive Behördenentscheidungen nach einem Fehlverhalten der von ihnen betroffenen Person (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 16). Auch unter dem Gesichtspunkt der Generalprävention kann ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gegenüber der getrennt von ihren Eltern zu betrachtenden Klägerin daher nicht mehr aufrechterhalten werden.
39
Angesichts des damit eingetretenen Zweckfortfalls kann auch nicht von einem verbleibenden Ermessensspielraum für den Beklagten ausgegangen werden, sodass die Sache spruchreif ist. Es besteht keine rechtmäßige Möglichkeit mehr, nicht die Aufhebung, sondern eine Fristverkürzung zu verfügen. Vielmehr ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei Zweckfortfall aufzuheben. Dies gilt entweder, weil in einem solchen Fall der Ermessensspielraum auf Null reduziert ist, (NdsOVG, U.v. 18.2.2021 – 13 LB 269/19 – juris Rn. 42; VGH BW, U.v. 21.11.2016 – 11 S 1656/16 – juris Rn. 30) oder weil von einem gesetzgeberischen Formulierungsfehler und beim Zweckfortfall nach Sinn und Zweck des Gesetzes generell von einem gebundenen Anspruch ausgegangen werden muss (Dollinger in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 11 AufenthG Rn. 84 f.).
40
b) Anders als der Beklagte insbesondere im ausführlichen Schriftsatz vom 8. Februar 2024 vorbringt, ist die Entscheidung über die Fristverkürzung auch nicht davon abhängig, ob die Klägerin die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt.
41
Dass der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis lediglich ein Einreise- und Aufenthaltsverbot entgegensteht und die Tatbestandsvoraussetzungen im Übrigen erfüllt sind, ist zwar ein gewichtiger Aspekt, der in die Entscheidung über Verkürzung oder Aufhebung einzustellen wäre (BT-Drs. 18/4097, S. 37).
42
Umgekehrt scheidet eine stattgebende Entscheidung nach § 11 Abs. 4 AufenthG aber nicht zwingend aus, nur weil sich die Voraussetzungen für die Erteilung eines solchen Titels nicht aufdrängen.
43
Zum einen kann nach § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis im Ausnahmefall auch zu gesetzlich nicht vorgesehenen Zwecken erteilt werden. Auch die Einreise mit Kurzzeit-Visa wird durch ein Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgeschlossen.
44
Zum anderen geht die Wirkung des Einreise- und Aufenthaltsverbots als belastender Verwaltungsakt nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG über die Titelerteilungssperre hinaus. Im Speziellen für die Klägerin als georgische Staatsangehörige ist hierbei die Befreiung von der Visumpflicht für Kurzaufenthalte im Schengen-Raum zu beachten (Verordnung (EU) 2017/372 v. 1.3.2017, ABl. L 61/7). Auch solche visumfreien Kurzaufenthalte, die anderen georgischen Staatsangehörigen möglich sind, werden für die Klägerin durch das bestehende Einreise- und Aufenthaltsverbot verhindert.
45
Die Klägerin hat daher ein Interesse an der Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots, das sich nicht auf das – von ihr in erster Linie verfolgte – Interesse an der Erteilung einer längerfristigen Aufenthaltserlaubnis beschränkt und dessen Verwirklichung daher auch nicht von den Voraussetzungen einer solchen Aufenthaltserlaubnis abhängt.
46
c) Auf die weiterhin vorgebrachten schutzwürdigen Belange der Klägerin – insbesondere hinsichtlich des Schulbesuchs in Georgien – die für eine Verkürzung sprechen könnten, kommt es angesichts des auf Null verengten Ermessensspielraums nicht entscheidend an.
47
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Dass abweichend vom zuletzt gestellten Klageantrag die Beschränkung der Bindungswirkung des Urteils auf die Klägerin tenoriert wurde, dient allein der Präzisierung und ändert nichts daran, dass dem nach § 88 VwGO maßgeblichen Begehren der Klägerin vollständig stattgegeben wurde. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.