Titel:
Asyl, Russische Föderation: Anspruch auf subsidiären Schutz wegen drohender Einberufung
Normenkette:
AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, § 4, § 30 Abs. 1 Nr. 3, § 71 Abs. 1
Leitsätze:
1. Mit der im Folgeverfahren geltend gemachten Einberufung zum Militärdienst wurde neuer Vortrag vorgebracht, der auch auf Grundlage der geänderten Fassung des § 71 Abs. 1 AsylG mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung führen konnte. Gleichzeitig ist die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aber auf den festgestellten Wiederaufnahmegrund beschränkt. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Zwang zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, wie er derzeit von der Russischen Föderation gegen die Ukraine geführt wird, liegt ein drohender ernsthafter Schaden iSd § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG, Art. 3 EMRK in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl, Russische Föderation, Wehrpflicht, Subsidiärer Schutz, Einberufung, keine Fluchtalternative, unmenschliche Behandlung, völkerrechtswidriger Angriffskrieg
Fundstellen:
ZASA 2024, 489
BeckRS 2024, 6334
Tenor
I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger unter Aufhebung von Ziffern 3, 4, 5 und 6 des Bescheides vom 11. August 2023 (Az. 8790065-160) subsidiären Schutz zu gewähren.
II. Ziffern 1 und 2 des Bescheides vom 11. August 2023 werden aufgehoben, soweit die Ablehnung des Antrags dort als offensichtlich unbegründet erfolgte.
III. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Der Kläger trägt 1/3, die Beklagte 2/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
V. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzes, hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bezüglich der Russischen Föderation.
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1. Der am ... November 1998 in Tschetschenien/Russische Föderation geborene Kläger kam erstmals Anfang 2020 mit einem Visum zum Kurzaufenthalt in die Bundesrepublik und durchlief ein Asylverfahren (Az. 808832-160), das mit Bescheid des Bundesamts vom 21. September 2020 negativ abgeschlossen wurde.
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Damals trug er vor, er sei in Tschetschenien von Polizeibeamten erstmals im Jahr 2018 festgenommen worden. Man habe ihn zwei Tage lang festgehalten, überprüft und dann wieder freigelassen. Er habe sich auf ein entsprechendes Angebot hin geweigert, für die Sicherheitsbehörden zu arbeiten und in einer Schule als Lehrer gearbeitet. Wehrdienst habe er nicht geleistet. Ende September 2019 sei er dann gemeinsam mit einem Freund von Polizisten in ein Auto geschleppt worden. Sie seien gefoltert worden, um sie zu nötigen, ein Papier zu unterschreiben, auf dem sie versichern sollten, einen Terroranschlag geplant zu haben. Sein Freund sei dabei getötet worden. Er selbst sei erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Dort habe man ihm geholfen, seine Verletzungen zu dokumentieren. Das entsprechende Attest datierte auf mehrere Wochen nach diesen Ereignissen, um die Krankenhausmitarbeiter zu schützen. Später sei die Familie des Klägers von den Behörden heimgesucht worden, um seinen Aufenthaltsort zu erfahren. Nach der Folter sei er im September 2019 von Tschetschenien nach Inguschetien gegangen und nach ca. vier Monaten ausgereist.
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Eine Klage gegen den ablehnenden Bescheid wurde vom Verwaltungsgericht Bayreuth mit rechtskräftigem Urteil vom 30. November 2021 (Az. B 9 K 20.30163) abgewiesen.
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2. Am 31. März 2022 stellte der Kläger einen Folgeantrag, zu dem er am 1. August 2023 angehört wurde. Zur Begründung verwies er neben den im Erstverfahren geltend gemachten Gründen insbesondere auf eine infolge seiner Folter entstandene psychische Erkrankung. Außerdem habe ihn sein Vater über diverse Ladungen für das Bezirksmilitärkommissariat und einen Fahndungsbeschluss informiert. Der Kläger solle zum Kämpfen in der Ukraine eingezogen werden.
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3. Mit Bescheid vom 11. August 2023, dem Kläger am 18. August 2023 zugestellt, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1), auf Asylanerkennung (Ziffer 2) und auf subsidiären Schutz (Ziffer 3) als offensichtlich unbegründet ab. Ziffer 4 stellte fest, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen. Das Bundesamt forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, zur Ausreise binnen einer Woche auf (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate befristet (Ziffer 6).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es sei zwar ein weiteres Asylverfahren durchzuführen gewesen. Die geltend gemachte Einberufung zum Militärdienst führe zu einer neuen Sachlage. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen aber nicht vor. Die Furcht vor einer Einberufung zum Kriegsdienst führe nicht zur Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Eine Verknüpfung zwischen einer dem Kläger drohenden Verfolgungshandlung und einem Verfolgungsgrund nach § 3a Abs. 3 AsylG liege nicht vor. Die Einberufung zum Wehrdienst erfolge unabhängig vom ethnischen und religiösen Hintergrund bzw. einer oppositionellen Gesinnung. Zudem sei es nach den Erkenntnissen des Bundesamtes nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger eine Beteiligung am Angriffskrieg in der Ukraine droht. Ebenso wenig drohe ihm ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG. Die Bestrafung bei einer möglichen Weigerung, den Wehrdienst abzuleisten, sei hier nicht einzuordnen. Solche Strafen seien in jedem Staat möglich. Die engeren Voraussetzungen der Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG seien ebenfalls nicht gegeben. Der Antrag sei zudem offensichtlich unbegründet. Der Kläger habe gefälschte Unterlagen vorgelegt. Die Ladungen vom 24. Februar 2022 und vom 1. März 2022 sowie der Fahndungsbeschluss vom 21. März 2022 nähmen auf einen Präsidialerlass vom 26. April 2022 Bezug, der bei ihrer Ausstellung noch gar nicht vorgelegen haben könne. Ebenso gefälscht sei die Ladung zur Vernehmung vom 17. März 2022, die auf denselben Tag datiere, an dem der Kläger um 9 Uhr zur Vernehmung hätte erscheinen sollen. Eine Ladung vom 29. Juni 2023 nehme sodann keinerlei Bezug auf die vorhergehenden Ladungen, obwohl der Kläger ausweislich der Unterlagen zur öffentlichen Fahndung ausgeschrieben sei. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK sei im Gleichlauf mit der Ablehnung subsidiären Schutzes nicht gegeben. Ein außergewöhnlicher Einzelfall liege nicht vor, insbesondere führten die Sanktionen gegen Russland nicht zu humanitären Bedingungen, die gegen Art. 3 EMRK verstießen. Auch eine individuelle Gefahr für Leib oder Leben i.S.d. § 60 Abs. 7 AufenthG liege nicht vor. Insbesondere genügten die eingereichten ärztlichen Schreiben bzgl. der psychischen Erkrankung nicht den Anforderungen des Gesetzgebers an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung. Im Übrigen sei eine medizinische Grundversorgung in Russland gewährleistet. PTBS sei auch in Tschetschenien behandelbar. Zudem betreffe die Einschränkung der Versorgung die Gesamtbevölkerung, sodass § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Sperrwirkung entfalte. Die Abschiebungsandrohung stütze sich auf § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG. Die Frist von einer Woche folge aus § 36 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ergebe sich aus § 11 Abs. 1, Abs. 2, 75 Nr. 12 AufenthG.
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4. Dagegen ließ der Kläger am 18. August 2023 Klage zum Verwaltungsgericht Würzburg erheben und beantragen,
unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. August 2023 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen, hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
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Zu Begründung ließ er, unter ergänzendem Verweis auf seine Angaben im Verwaltungsverfahren, im Wesentlichen vortragen, dass zumindest der Antrag auf subsidiären Schutz nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden dürfe. Es bestehe die Gefahr einer Zwangsrekrutierung nebst zwangsweisem Einsatz in der Ukraine. Generell seien Flüchtlinge aus Tschetschenien bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen bedroht. Dem könne man auch nicht durch innerstaatliche Fluchtalternativen ausweichen. Insgesamt bestünden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids. Der Kläger sei bemüht aufzuklären, wie es zu den widersprüchlichen Angaben auf den vorgelegten Unterlagen gekommen sei. Zudem sei seine psychische Erkrankung auch dann im Rahmen der Art. 3 EMRK, § 60 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen, wenn die vorgelegten Atteste nicht den Anforderungen des § 60a Abs. 2c S. 2 AufenthG genügten. Er befinde sich in ständiger fachärztlicher Behandlung. Außerdem verfüge der Kläger nicht über die nötigen finanziellen Mittel, um in Tschetschenien adäquat behandelt zu werden.
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5. Das Bundesamt beantragte für die Beklagte,
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Zur Begründung wurde auf die Gründe des angefochtenen Bescheids verwiesen.
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6. Mit Beschluss vom 29. September 2023 (W 7 S 23.30459) hat das Verwaltungsgericht Würzburg die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im angefochtenen Bescheid angeordnet.
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Mit Beschluss vom 30. Januar 2024 hat die Kammer den Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
14
Die Erkenntnismittelliste Russische Föderation, Stand: Januar 2024, war Gegenstand des Verfahrens.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der beigezogenen Gerichts- und Behördenakten, auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes W 7 S 23.30459, wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung auf das Protokoll vom 4. März 2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte durch den Einzelrichter entscheiden, nachdem diesem das Verfahren durch Beschluss der Kammer zur Entscheidung übertragen worden ist, § 76 Abs. 1 AsylG.
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Die zulässige Klage, über die nach § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden durfte, ist teilweise begründet.
18
Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) im aufgenommenen Folgeverfahren (1) einen Anspruch auf die Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter (2). Der streitgegenständliche Bescheid vom 11. August 2023 ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die Sache ist auch spruchreif. In den Ziffern 1 und 2 erweist sich der Bescheid als rechtmäßig, soweit die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf Asylanerkennung abgelehnt wurden (3). Wegen des Gebots der einheitlichen Entscheidung über den Asylantrag erweist sich jedoch das negative Offensichtlichkeitsurteil angesichts des Anspruchs auf die Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter auch in den Ziffern 1 und 2 als rechtswidrig und ist daher aufzuheben (4). Auch die Nebenentscheidungen in den Ziffern 4 bis 6 des Bescheids waren aufzuheben (5).
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1. Zunächst ist die Beklagte zutreffend davon ausgegangen, dass in der Sache ein weiteres Asylverfahren durchzuführen war (vgl. § 71 Abs. 1 AsylG). Mit der im Folgeverfahren geltend gemachten Einberufung zum Militärdienst wurde neuer Vortrag vorgebracht, der auch auf Grundlage der geänderten Fassung des § 71 Abs. 1 AsylG mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer günstigeren Entscheidung führen konnte. Gleichzeitig ist die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens aber auf den festgestellten Wiederaufnahmegrund beschränkt (Dickten in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2023, § 71 AsylG Rn. 27). Bzgl. der im Erstverfahren geprüften Asylgründe – die insbesondere ein behauptetes fingiertes Strafverfahren in Tschetschenien gegen den Kläger wegen Terrorismusverdachts betreffen – bleibt es daher bei den Feststellungen des rechtskräftigen Urteils des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 30. November 2021 (B 9 K 20.31063). Die Prüfung im Folgeverfahren ist im Wesentlichen auf die drohende Einberufung zum Militärdienst zum Kampf gegen die Ukraine beschränkt.
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2. Auch auf Grundlage dieses beschränkten Prüfungsumfangs hat der Kläger allerdings einen Anspruch auf Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter. Insofern ist der Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine bedeutet eine Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG (a). Bei Rückkehr in die Russische Föderation droht dem Kläger diese Entsendung zur Überzeugung des Einzelrichters mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (b).
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a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
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Im Zwang zur Teilnahme an Kampfhandlungen im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges, wie er derzeit von der russischen Föderation gegen die Ukraine geführt wird, liegt ein drohender ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, Art. 3 EMRK in Form einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (vgl. VG Bayreuth, U.v. 20.1.2023 – B 9 K 21.30615 – juris Rn. 35; VG Berlin, U.v. 6.7.2023 – 33 K 312.19 A – juris Rn. 36, VG Bremen, B.v. 26.5.2023 – 6 V 24/23 – juris Rn. 17 f.; U.v. 16.1.2024 – 6 K 2587/20 – juris Rn. 26). Diese Auslegung der § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, Art. 3 EMRK wird durch die Wertung des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG unterstrichen. Denn der Militärdienst im Ukrainekrieg würde mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verbrechen oder Handlungen umfassen, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen und deren Ächtung und Verhinderung wiederum eines der Ziele von Art. 3 EMRK ist (vgl. VG Bremen, B.v. 26.5.2023 – 6 V 24/23 – juris Rn. 18). Hinter dieser Interpretation des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG steht der Gedanke, dass ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK auch daraus resultieren kann, dass eine Person bei Rückkehr in ihr Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in eine Situation geraten wird, in der sie entweder ihrerseits andere Menschen in ihren durch Art. 3 EMRK geschützten Rechten verletzen muss oder strafrechtlich sanktioniert werden wird.
23
Die russischen Streitkräfte haben in der Ukraine viele Taten begangen, die als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingeordnet werden können, insbesondere zahlreiche Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung. Es ist wahrscheinlich, dass in die Ukraine entsendete Soldaten in solche Verbrechen verwickelt werden (Home Office, Country Policy and Information Note – Russian Federation: Military service v. Juli 2023, S. 5; Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20.7.2023, Az. 21068674 Rn. 12; Amnesty International, Europe: The point of no return, 2024, S. 3, 10; EU Agency for Asylum, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 4). Das Sich-Entziehen von der Einberufung vom Militärdienst und das Sich-Entziehen eines Militärdienstleistenden von der Erfüllung der Militärdienstpflichten werden in Art. 328 bzw. Art. 339 des Strafgesetzbuchs der russischen Föderation strafrechtlich sanktioniert (Auswärtiges Amt, Amtliche Auskunft Russische Föderation vom 10.02.2023, 508-9-516.80 RUS, S. 4).
24
b) Dem 25-jährigen Kläger als trotz der vorgebrachten posttraumatischen Belastungsstörung körperlich gesundem russischen Staatsangehörigen im wehrpflichtigen Alter droht bei Rückkehr in die russische Föderation zur Überzeugung des Gerichts mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einberufung zum Wehrdienst (1) und anschließend die Entsendung in den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine (2). Eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht insofern nicht (3). Dem steht es nicht entgegen, dass der Kläger auch zur Überzeugung des Gerichts gefälschte Beweismittel vorgelegt hat (4).
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Der Begriff der drohenden Gefahr ist inhaltlich identisch mit der tatsächlichen Gefahr („real risk“) aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK, die wiederum dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32 m.w.N., Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2023, § 4 AsylG Rn. 83). Es geht darum, ob die für die Gefahr sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen.
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(1) Auf der Basis dieses Wahrscheinlichkeitsmaßstabs geht das Gericht davon aus, dass dem Kläger bei Rückkehr in die russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einberufung zum Wehrdienst droht.
27
Die Wehrpflicht in Russland betrifft ab dem 1. Januar 2024 volljährige Männer bis zum Alter von 30 Jahren. Das Höchstalter von zuvor 27 Jahren wurde vor der nächsten Einberufungswelle im Frühjahr 2024 am 25. Juli 2023 angehoben, um die Zahl der wehrpflichtigen Männer deutlich zu erhöhen (EU Agency for Asylum, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 5 f.).
28
Jeweils im Frühjahr und Herbst findet die Einberufung der Wehrpflichtigen statt. Sie umfasste in den vergangenen Jahren durchschnittlich rund 130.000 Männer pro Halbjahr. Bereits am 14. April 2023 trat die Gesetzesänderung in Kraft, dass künftig Einberufungsbescheide nicht mehr persönlich überreicht werden müssen, sondern auch auf elektronischem Weg zugestellt werden können (BAMF Briefing Note v. 31.7.2023, S. 9). Nach Verzögerungen soll auch dieses neue elektronische System erstmals im Frühjahr 2024 zum Einsatz kommen (EU Agency for Asylum, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 6 f.).
29
Bislang war es so, dass ca. die Hälfte Männer, die ins wehrpflichtige Alter kommen, auch eingezogen wurde. Die Frühjahrs-Einberufungswelle 2023 umfasste mit 147.000 Männern dabei die größte Zahl einberufener Wehrpflichtiger seit 2016, bereits in der jüngeren Vergangenheit war also eine gewisse Steigerung zu verzeichnen (EU Agency for Asylum, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 5). Nach dem Wehrdienst werden diese Männer automatisch Teil der Reserve (Danish Immigration Service, Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 17).
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Die Gesetzesänderungen im Vorfeld der Einberufungswelle ab Februar 2024 deuten zur Überzeugung des Einzelrichters darauf hin, dass diese Zahlen künftig noch weiter gesteigert werden sollen. Darauf deutet auch das jüngste Dekret Nr. 155 des russischen Präsidenten vom 1. März 2024 hin, auf das der Klägerbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat und wonach weitere Reservisten einberufen werden sollen. Der Kläger, der nie Wehrdienst geleistet hat und weiterhin im wehrpflichtigen Alter ist, ist zwar kein Reservist (dazu Danish Immigration Service, COI: Russia – An update on military service since July 2022, Dezember 2022, S. 13). Das Dekret unterstreicht aber nochmals, dass sich die russische Regierung derzeit umfassend um die Rekrutierung weiterer Männer zum Kampf in der Ukraine bemüht.
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Der aktuell hohe Mobilisierungsdruck angesichts großer Verluste der Armee lässt sich auch zahlreichen allgemein zugänglichen Medienberichten entnehmen (Überblick bei EU Agency for Asylum, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 3 f.).
32
Es ist daher zur Überzeugung des Gerichts beachtlich wahrscheinlich, dass ein alleinstehender gesunder Mann im wehrpflichtigen Alter, der bei Wiedereinreise in die Russische Föderation an den Grenzen behördlich erfasst werden wird (vgl. VG Berlin, U.v. 20.3.2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 81), mit seiner zeitnahen Einberufung zum Wehrdienst rechnen muss.
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Vor diesem Hintergrund ist es auch unerheblich, dass das Gericht – wie die Beklagte – davon ausgeht, dass der Kläger bislang keinen echten Musterungsbescheid erhalten hat (dazu unten, vgl. VG Berlin, U.v. 20.3.2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 78).
34
Anders als die Beklagte auf Seite 12 des Bescheids betont, besteht in Russland de facto auch kaum noch eine Möglichkeit, sich der Wehrpflicht durch Ableistung des in der Verfassung verbürgten Ersatzdienstes zu entziehen. Entsprechende Anträge werden in aller Regel abgelehnt (BFA, Länderinformation v. 8.11.2023, S. 42; Home Office, Country Policy and Information Note – Russian Federation: Military service v. Juli 2023 unter Punkt 3.3.5 und 3.3.6; Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage v. 28.4.2023, BT-Drs. 20/6631, S. 3 ff.; Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20.7.2023, Az. 21068674 Rn. 15). Soweit das oberste Gericht der Russischen Föderation laut Medienberichten im November 2023 ein Recht auf Zivildienst bei Mobilmachung anerkannt hat, das einfachgesetzlich unter Verstoß gegen die russische Verfassung nicht vorgesehen ist, bezieht sich dieses Urteil allein auf die Verweigerung des Militärdiensts aus religiösen Gründen und außerdem allein darauf, dass das Gesetz eine solche Möglichkeit prinzipiell vorsehen muss (BAMF Briefing Notes v. 27.11.2023, S. 7). Dass sich die Erfolgsaussichten von Anträgen auf Ableistung des in der Verfassung verbürgten Ersatzdienstes in Zukunft im Allgemeinen erhöhen werden, kann daraus jedenfalls aktuell noch nicht abgeleitet werden.
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(2) Das Gericht geht weiter davon aus, dass eine beachtlich wahrscheinliche Einberufung zum Wehrdienst auch – entgegen dem vom Kläger im Verfahren wiederholt geäußerten Willen – den beachtlich wahrscheinlichen Einsatz im Krieg gegen die Ukraine bedeuten würde. Die Beklagte führt auf Seite 11 des Bescheids gegenläufig aus, es sei nicht beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger – selbst wenn er zum Wehrdienst einberufen werden sollte – eine Teilnahme am Angriffskrieg der russischen Föderation gegen die Ukraine drohe.
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Das Gericht gelangt jedoch zu der Überzeugung, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Entsendung in die Ukraine in den letzten Monaten seit Bescheiderlass nochmals deutlich erhöht hat, sodass von ihrer Beachtlichkeit ausgegangen werden muss.
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Zwar lässt sich der im Bescheid zitierten Länderinformation des Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auch in der aktualisierten Fassung vom 8. November 2023 die Aussage entnehmen, aktuell gebe es keine Hinweise auf eine Teilnahme Wehrpflichtiger an Kampfhandlungen in der Ukraine (S. 34).
38
Nach Auskunft des Auswärtigen Amts, Amtliche Auskunft Russische Föderation vom 10.02.2023, 508-9-516.80 RUS, Seite 2 f. ist aber davon auszugehen, dass nach den Rechtsvorschriften der Russischen Föderation zwar ausschließlich Reservisten einer Mobilmachung bzw. Teilmobilmachung unterliegen. Es gebe allerdings Hinweise darauf, dass Grundwehrdienstleistende für den russischen Angriffskrieg eingesetzt werden. Im Juni 2022 habe der Militärstaatsanwalt des Militärbezirks West (der Moskau und St. Petersburg umfasst) von rund 600 ihm bekannten Fällen aus seinem Militärbezirk gesprochen, in denen Wehrpflichtige gesetzeswidrig in der Ukraine zum Einsatz kamen. Auch Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20.7.2023, Az. 21068674 Rn. 16 stellt fest, dass innerhalb der ersten Mobilisierungswelle des Krieges Rekruten nahezu unmittelbar nach ihrer Einberufung an der Frontlinie eingesetzt wurden.
39
Auch das britische Home Office, Country Policy and Information Note – Russian Federation: Military service v. Juli 2023 unter Punkt 3.7. und 3.2.4. gibt an, Wehrpflichtige seien in die Ukraine entsendet worden, ordnet die Wahrscheinlichkeit einer solchen Entsendung für das Individuum allerdings als gering ein.
40
EU Agency for Asylum, COI Query Q37-2023 v. 17.2.2023, S. 13 f. weist auf Fälle hin, in denen Wehrdienstleistende zur vertraglichen Vereinbarung eines Einsatzes in der Ukraine genötigt wurden. Das Jahr 2022 sei insgesamt von der Entsendung nicht ausgebildeter Soldaten an die Front – im Verstoß gegen russisches Recht – geprägt gewesen (EU Agency for Asylum, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 2).
41
Zusätzlich zu diesen Berichten über tatsächliche Einsätze ist festzuhalten, dass die Entsendung Wehrpflichtiger in Kampfeinsätze im Ausland nach russischem Recht bereits nach einer viermonatigen Ausbildung möglich ist. Bei Ausrufung des Kriegsrechts – wie in den besetzten ukrainischen Gebieten – wird dieser Zeitpunkt noch weiter vorverlagert (BFA, Länderinformation v. 8.11.2023, S. 34). Nach der von Moskau proklamierten Annexion der vier ukrainischen Oblaste Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson können Wehrpflichtige in diesen Gebieten auch offiziell für den Krieg gegen die Ukraine eingesetzt werden, ohne dass es sich insofern aus russischer Sicht um einen Auslandseinsatz handelte (SWP-Aktuell Nr. 76 v. 7.12.2022, S. 4). Insofern gelten keine gesetzlichen Einschränkungen für den Einsatz Wehrdienstleistender (BFA, Länderinformation v. 8.11.2023, S. 34).
42
Diese jüngeren Entwicklungen in Zusammenschau mit den geänderten Altersgrenzen für Wehrdienstleistende leiten das Gericht zu dem Schluss, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer Entsendung in die Ukraine für Wehrdienstleistende in den letzten Monaten deutlich erhöht hat und sich mit der Einberufungswelle im Frühjahr 2024 noch weiter steigern wird. Die geschilderten Gesetzesänderungen anlässlich der Einberufungswelle im Frühjahr 2024 in Zusammenschau mit Medienberichten über hohe Verluste der russischen Armee und der damit einhergehende hohe Mobilisierungsdruck legen nahe, dass ausgehend von der zwischenzeitlichen „verdeckten Mobilisierung“ (BFA, Länderinformation v. 8.11.2023, S. 35 f.) eine neue Mobilisierungswelle vorbereitet wird und insofern lediglich die Wahlen im März 2024 abgewartet werden (vgl. EU Agency for Asylum, COI Query Q47-2023 v. 3.10.2023, S. 11 ff.). Vor diesem Hintergrund ist von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit dafür auszugehen, dass der Kläger als körperlich gesunder Mann im wehrpflichtigen Alter bei Rückkehr in die Russische Föderation und damit einhergehender behördlicher Erfassung beim Grenzübertritt zeitnah zum Wehrdienst eingezogen und dabei zum Kampf in der Ukraine eingesetzt werden wird.
43
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Kläger nach Ableistung des einjährigen Wehrdienstes automatisch zum Teil der Reserve würde, wodurch die Wahrscheinlichkeit einer Entsendung in die Ukraine sich nochmals erhöhte (vgl. Auswärtiges Amt, Amtliche Auskunft Russische Föderation vom 10.02.2023, 508-9-516.80 RUS). Es ist davon auszugehen, dass Soldaten, die ihren Wehrdienst gerade abgeschlossen haben, bevorzugt mobilisiert werden (EU Agency for Asylum, COI Query Q37-2023 v. 17.2.2023, S. 16). Auch dieser Umstand ist als mit der Rückkehr zusammenhängende hinreichend konkretisierte Gefahr einzuordnen und trägt zu einer Erhöhung der Gefahrenwahrscheinlichkeit insgesamt bei (vgl. BVerwG, B.v. 16.1.2018 – 1 VR 12/17 – juris Rn. 24; VG Berlin, U.v. 20.3.2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 85).
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Nachdem die Teilnahme am Krieg gegen die Ukraine auf Grundlage der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel mit großer Wahrscheinlichkeit auch die Begehung von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfasst (siehe unter a), steht es der Annahme subsidiären Schutzes auch nicht entgegen, dass der künftige militärische Einsatzbereich des Klägers derzeit nicht konkret absehbar ist. Die entsprechende Wertung des Europäischen Gerichtshofs (U.v. 19.11.2020, C-238/19 – ECLI:ECLI:EU:C:2020:945 – EZ Rn. 37 f.), wonach in einem solchen Fall eine hohe Wahrscheinlichkeit der individuellen Verwicklung in solche Verbrechen bestehe, ist nicht auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beschränkt, sondern ist in einem Fall, in dem die Gewährung von Flüchtlingsschutz mangels Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund ausscheidet (dazu unten), auch auf die Prüfung des subsidiären Schutzes übertragbar.
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(3) Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger nach § 4 Abs. 3 Satz 1, 3e AsylG internen Schutz innerhalb der russischen Föderation erlangen könnte. Nach § 3e AsylG wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn der Kläger in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2) (interner Schutz bzw. innerstaatliche Fluchtalternative).
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Zwar könnte der Kläger sich durch die Einreise in einen anderen Landesteil den seit Mai 2022 in Tschetschenien beobachteten Zwangsrekrutierungen entziehen (EU Agency for Asylum, COI Query Q37-2023 v. 17.2.2023, S. 19 f.; Cour nationale du droit d’asile, U.v. 20.7.2023, Az. 21068674 Rn. 17; BFA, Länderinformation v. 8.11.2023, S. 36 f.). Die reguläre Einberufung zum Wehrdienst drohte ihm allerdings unabhängig von seinem Wohnsitz innerhalb der gesamten russischen Föderation. (vgl. Amnesty International, Europe: The point of no return, 2024, S. 24 f.).
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(4) Vor diesem Hintergrund ist es für die Entscheidung unerheblich, dass auch das Gericht davon überzeugt ist, dass der Kläger im Asylverfahren gefälschte Beweismittel i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 3 AsylG vorgelegt hat. Auch auf Grundlage des geänderten § 30 Abs. 1 Nr. 3 AsylG führt eine offensichtliche Täuschung der Behörden durch Vorlage gefälschter Dokumente prinzipiell zur Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet.
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Dass die Ladungen vom 24. Februar 2022 und vom 1. März 2022 auf einen Präsidentenerlass vom 26. April 2022, mithin aus der Zukunft, verweisen, dass die Ladung vom 17. März 2022 einen Vorsprachetermin am selben Tag um 9 Uhr festsetzt, sodass vollkommen unklar ist, wann dieses Dokument zugestellt worden sein soll, und dass die Ladung vom 29. Juni 2023 die vorhergehenden versäumten Termine mit keinem Wort erwähnt, kann zwar theoretisch jeweils auf behördlichen Fehlern beruhen. Die Häufung der Unregelmäßigkeiten lässt aus Sicht des Gerichts aber keinen anderen Schluss als denjenigen auf die Fälschung der vorgelegten Beweismittel zu.
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Dieser Eindruck hat sich auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung bestätigt. So konnte der Kläger auch auf mehrfache Nachfrage keine nachvollziehbare Erklärung für die besagten Unregelmäßigkeiten liefern. Er gab an, sein Vater habe ihm die Unterlagen so weitergeleitet, wie sie ihm vorgelegt worden seien. Dieser könne sich die Fehler ebenfalls nicht erklären, es handele sich aber wohl um ein Behördenversagen, das in Tschetschenien vorkomme. Angesichts des – insgesamt für unglaubhaft erachteten – Vortrags des Klägers, die tschetschenischen Strafverfolgungsbehörden ermittelten gegen ihn wegen der falschen Behauptung eines Terrorverdachts, wie er bereits Gegenstand des rechtskräftig abgeschlossenen Erstverfahrens war, erscheinen derart gehäufte Fehler gegenüber einer Person, die unter besonderer Beobachtung stehen müsste, nicht nachvollziehbar. Dies gilt umso mehr, nachdem nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung nun auch gegenüber seiner gesamten Familie in Russland Ermittlungsmaßnahmen ergriffen worden sein sollen, um den Aufenthaltsort des Klägers zu ermitteln.
50
Hinzu kommt, dass Musterungsbescheide regelmäßig nur gegenüber Personen ergehen, die sich dauerhaft in der Russischen Föderation aufhalten oder dort gemeldet sind (VG Berlin, U.v. 20.3.2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 67). Warum gegenüber dem Kläger, der das russische Staatsgebiet Anfang 2020 verlassen hat, mehrere solcher Bescheide ergangen sein sollten, erschließt sich nicht.
51
Allein die Verletzung des § 30 Abs. 1 Nr. 3 AsylG genügt aber nicht für die Ablehnung eines inhaltlich begründeten Antrags und steht der Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigter daher nicht entgegen (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 30 AsylG Rn. 10).
52
3. Bzgl. der abgelehnten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und der Asylanerkennung in Ziffern 1 und 2 des Bescheids vom 11. August 2023 wird auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Bescheids verwiesen, denen sich das Gericht aufgrund eigener Überzeugung anschließt (§ 77 Abs. 3 AsylG).
Ergänzend wird hierzu das Folgende ausgeführt:
53
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung ist § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG.
54
Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Lands (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
55
Dem Ausländer muss eine Verfolgungshandlung drohen, die mit einem anerkannten Verfolgungsgrund (§ 3b AsylG) eine Verknüpfung bildet, § 3a Abs. 3 AsylG. Die für eine Verfolgung im Sinne des Flüchtlingsschutzes nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG relevanten Merkmale (Verfolgungsgründe) sind in § 3b Abs. 1 AsylG näher definiert.
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Zwar spricht eine Vermutung dafür, dass Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG mit einem Verfolgungsgrund verknüpft ist. Allerdings ist die Plausibilität dieser Verknüpfung im Einzelfall zu prüfen (EuGH, U.v. 19.11.2020, C-238/19 – ECLI:ECLI:EU:C:2020:945 – EZ Rn. 57 f). Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung, selbst wenn sie von totalitären Staaten ausgehen, nur dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31.18 – juris Rn. 34; B.v. 24.4.2017 – 1 B 22.17 – juris).
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Nach derzeitigem Erkenntnisstand für die Russische Föderation ist davon auszugehen, dass diese Vermutung widerlegt ist. Es ist nicht ersichtlich, dass die Einziehung zum Wehrdienst oder die Bestrafung bei einer Entziehung vom Wehrdienst in der Russischen Föderation an ein asylrelevantes Merkmal anknüpfen (VG Berlin, U.v. 20.3.2023 – 33 K 143.19 A – juris Rn. 67). Vielmehr trifft die Wehrpflicht alle wehrpflichtigen Männer, ohne dass insofern nach Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe differenziert werden würde (vgl. zur Situation in Syrien BayVGH, U.v. 11.1.2024 – 21 B 19.33072 – juris Rn. 29). Auch die strafrechtliche Ahnung einer Entziehung von der Wehrpflicht trifft gleichermaßen alle Wehrpflichtigen, ohne nach asylrelevanten Merkmalen zu differenzieren. Belastbare gegenläufige Erkenntnisse liegen nicht vor.
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Mangels Anknüpfung an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG genannten Merkmale droht dem Kläger auf dieser Grundlage keine die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigende Verfolgung.
59
Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG liegen ebenfalls nicht vor.
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4. Gegen das Offensichtlichkeitsurteil im streitgegenständlichen Bescheid bestehen zur Überzeugung des Einzelrichters zwar keine inhaltlichen Bedenken. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger durch Vorlage gefälschter Unterlagen offensichtlich i.S.d. § 30 Abs. 1 Nr. 3 AsylG getäuscht hat (s.o.). Nach § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG ist aber von der Einheitlichkeit des Asylantrags auszugehen. Nachdem der Kläger als subsidiär Schutzberechtigter anzuerkennen ist, ist das Offensichtlichkeitsurteil insgesamt und damit auch in den Ziffern 1 und 2 aufzuheben, obwohl dort die Flüchtlingseigenschaft und die Asylanerkennung zutreffend abgelehnt wurden (m.w.N. Heusch in: Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand: 1.10.2023, § 30 AsylG Rn. 9.). Der Kläger hat auch ein Rechtsschutzbedürfnis bzgl. einer solchen Teilaufhebung der Ziffern 1 und 2, um so die Wirkung des § 10 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu vermeiden (VG Sigmaringen, U.v. 6.12.2022 – A 7 K 1179/19, BeckRS 2022, 35848 Rn. 21). Die entsprechende Tenorierung ist vom nach § 88 VwGO maßgeblichen klägerischen Begehren mitumfasst, das auf die Aufhebung des Bescheids insgesamt lautet.
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5. Nach alledem ist dem Kläger subsidiärer Schutz gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen. Infolgedessen besteht kein Anlass für eine weitere Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG, so dass die Nr. 4 des Bescheides des Bundesamtes ebenfalls aufzuheben war (vgl. § 31 Abs. 2 Satz 1 AsylG und § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Über den hilfsweise gestellten Antrag war damit nicht zu entscheiden, sodass es auf die geltend gemachte posttraumatische Belastungsstörung des Klägers nicht entscheidend ankam. Im Übrigen war diese bereits Teil des gerichtlichen Erstverfahrens (VG Bayreuth, U.v. 30.11.2021 – B 9 K 20.30163 S. 24 ff.).
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Des Weiteren sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung und die Ausreiseaufforderung samt Ausreisefristbestimmung (Nr. 5 des Bundesamtsbescheids) rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt erlässt nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a AsylG die Abschiebungsandrohung nicht, wenn subsidiärer Schutz gewährt wird. Damit ist auch das nach § 75 Nr. 12
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AufenthG durch das Bundesamt erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 6) aufzuheben.
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Auf die erst in der mündlichen Verhandlung – nach Ablauf der nach § 87b Abs. 3 VwGO gesetzten Frist – ohne Übersetzung vorgelegten russischsprachigen Unterlagen des Klägers kam es nicht mehr entscheidend an. Diese umfassen nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung seinen Schriftverkehr mit seinem Anwalt in Tschetschenien und ein Attest über die orthopädische Behandlung seiner Mutter. Beides soll belegen, dass die Familie des Klägers in Tschetschenien wegen dessen Flucht nach Deutschland vorgeladen und misshandelt wurde und ein Bruder des Klägers kürzlich zwangsweise mobilisiert wurde. Im Kern knüpfen diese Ereignisse an den klägerischen Vortrag im rechtskräftig abgeschlossenen Erstverfahren an, wonach dieser einem fingierten Strafverfahren wegen Terrorverdachts in Tschetschenien ausgeliefert sei (s.o.). Zudem setzen diese Ausführungen voraus, dass es sich bei den vom Kläger vorgelegten Ladungen und Musterungsbescheiden um echte Unterlagen handelt, was zur Überzeugung des Gerichts ausscheidet.
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Diesen Eindruck könnten ausführliche Übersetzungen eines ebenso fälschungsanfälligen E-Mail-Verkehrs mit einem Anwalt in der Russischen Föderation sowie medizinische Unterlagen über eine orthopädische Behandlung der Mutter des Klägers nicht erschüttern. Eine abweichende Entscheidung vermögen diese Unterlagen daher nicht zu begründen. Der Einzelrichter hat sich außerdem mittels automatisierter Übersetzung einen kursorischen Überblick über das Unterlagenkonvolut verschafft. Der Schriftverkehr mit einem Anwalt in Tschetschenien hat im Wesentlichen den vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geschilderten Inhalt. Die Schreiben wirken aber sehr konstruiert, auf kurze Anfragen des Klägers folgen jeweils ausführliche abschnittsweise Erläuterungen des Anwalts zur Verfolgung der gesamten Kernfamilie des Klägers, sodass zumindest ausgesprochen zweifelhaft ist, ob es sich hier um echte E-Mails handelt.
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6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2, Abs. 4 VwGO, § 83b AsylG. Zum einen wurde berücksichtigt, dass der Kläger mit seinem Hauptantrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht durchgedrungen ist, zum anderen wurde aus der Aufhebung des Offensichtlichkeitsausspruchs keine weitere Reduzierung der Kostenbeteiligung abgeleitet, nachdem insofern die Vorlage gefälschter Beweismittel Ursache der Beklagtenentscheidung war.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.