Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 29.02.2024 – W 1 S 24.30257
Titel:

Erfolgloser Eilantrag gegen eine Abschiebungsandrohung nach Griechenland (Drittstaatenverfahren)

Normenketten:
GrCH Art. 4
EMRK Art. 3
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
Leitsatz:
Es ist derzeit davon auszugehen, dass ohne Hinzutreten etwaiger Besonderheiten des Einzelfalls zwar in der Regel angenommen werden muss, dass für den Fall einer Rückkehr eines in Griechenland anerkannten international Schutzberechtigten diesem dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK droht, was grundsätzlich auch für den Fall alleinstehender gesunder und arbeitsfähiger Männer gilt (Anschluss an OVG Saarlouis BeckRS 2022, 32449). (Rn. 16 – 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Drittstaatenbescheid, Griechenland, Interessenabwägung, Drittstaatenverfahren, internationaler Schutz, erniedrigende Behandlung
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6333

Tenor

I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wird abgelehnt.
II. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
III. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller wurde nach eigenen Angaben am … geboren. Er sei afghanischer Staatsangehöriger islamischer Religionszugehörigkeit und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken. Er habe sein Heimatland ca. 2018 verlassen und sei in den Iran geflohen. 2019 sei er nach Griechenland eingereist, wo er sich bis 2022 aufgehalten habe, bevor er von dort aus weitergereist und etwa am 14.11.2022 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist. In Deutschland hat der Antragsteller sodann am 06.02.2023 einen Asylantrag gestellt.
2
Anhand eines Eurodac-Treffers der Kategorie 1 wurde festgestellt, dass der Antragsteller bereits am 07.11.2019 in Griechenland einen Asylantrag gestellt hatte und ihm dort am 30.11.2021 internationaler Schutz gewährt wurde.
3
Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) gab der Antragsteller an, dass er nicht in Griechenland habe bleiben wollen wegen der Sicherheit und dem Gesundheitssystem. Es habe keine berufliche Perspektive gegeben. Anfangs seines Aufenthalts in Griechenland habe er nicht arbeiten dürfen; er habe in der Zeit unregelmäßig illegal für 20,00 – 23,00 EUR am Tag gearbeitet. Nach Feststellung des internationalen Schutzes habe er ein Zimmer gemietet; das Geld dafür habe er sich geliehen. Er habe 110,00 EUR monatlich für zwei Monate bekommen. Von Flüchtlingsorganisationen habe er Lebensmittel bekommen. Er sei dann im November 2022 nach Norwegen zu einem Freund geflogen und von dort aus nach Deutschland gekommen. Auch mit der Flüchtlingsanerkennung sei es in Griechenland schwer, eine Arbeitserlaubnis und eine Arbeit zu bekommen. Er habe sich auf griechisch verständigen können. Sein Arbeitgeber habe aber nicht gewollt, dass er legal arbeite, weil er dann 40,00 EUR hätte bezahlen müssen.
4
Mit Bescheid vom 05.12.2023 (zugestellt am 20.02.2024) wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Nummer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nummer 2) und der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, andernfalls er nach Griechenland abgeschoben werde. Er dürfe nicht nach Afghanistan abgeschoben werden (Nummer 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 4).
5
Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 27.02.2024 Klage erheben lassen, über die bislang nicht entschieden ist (W 1 K 24.30256). Er ließ auf die obergerichtliche Rechtsprechung verweisen, wonach die zu erwartenden Lebensverhältnisse in Griechenland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK, Art. 4 GrCh darstellten. Der Antragsteller sei in Griechenland wiederholt obdachlos und ständig auf der Suche nach Tagelöhnertätigkeit gewesen, um irgendwie zu überleben. Meistens sei die Arbeitssuche erfolglos geblieben. Er habe nur aufgrund der regelmäßigen Teilnahme an einer kirchlichen „Armenspeisung“ überleben können. Trotz jahrelanger Bemühungen habe er in Griechenland daher kein „Bett, Brot, Seife“ erreichen können. Aus diesen persönlichen Erfahrungen in Verbund mit der generellen Situation für anerkannt Schutzberechtigte in Griechenland ergebe sich eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GrCh, sodass die Ablehnung des Antrages als unzulässig rechtswidrig sei. Aus diesen Erwägungen bestünden ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung; die Erfolgsaussichten der Klage seien zumindest offen.
6
Gleichzeitig ließ der Antragsteller im vorliegenden Verfahren beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tage gegen die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes vom 05.12.2023 anzuordnen.
7
Überdies wurde beantragt,
dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten zu bewilligen.
8
Die Antragsgegnerin hat bislang keinen Antrag gestellt.
9
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte in diesem Verfahren, im Verfahren W 1 K 24.30256 sowie der vorgelegten Bundesamtsakte verwiesen.
II.
10
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 des Bescheides des Bundesamtes vom 05.12.2023 ist zulässig, aber nicht begründet.
11
Bei der im Rahmen des Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Interesse des Betroffenen an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage überwiegt vorliegend das öffentliche Vollzugsinteresse, weil keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen, vgl. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG.
12
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts liegen dabei dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält. Geringe Zweifel reichen nicht aus. Maßgeblich ist das Gewicht der Faktoren, die Anlass zu Zweifeln geben (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 –, juris, Rn. 93 ff.; Pietzsch, in: BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 35. Edition, Stand: 1.1.2022, § 36 Rn. 37).
13
Das Bundesamt hat in Nummer 1 des angefochtenen Bescheids den Asylantrag des Antragstellers nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu Recht als unzulässig abgelehnt.
14
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Aus dem in der Bundesamtsakte befindlichen Eurodac-Ergebnis, das der Antragsteller im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt auch bestätigt hat, ergibt sich zweifelsfrei, dass dem Antragsteller am 30.11.2021 in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt wurde, sodass die Voraussetzungen für eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dem Grunde nach vorliegen. Gleichwohl ist die Regelung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, der Art. 33 Abs. 2 Buchst. a) der RL 2013/32/EU umsetzt, auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass ein in Deutschland gestellter Asylantrag trotz Zuerkennung internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union dann nicht als unzulässig abgelehnt werden darf, wenn dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) bzw. des – wortgleichen – Art. 3 EMRK droht (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C- 40/17 und C-541/17 (Hamed) –, juris, Rn. 43, sowie Ue.v. 19.3.2019 – C- 297/17 u. a. (Ibrahim) –, juris, Rn. 83 bis 94, und vom 19.3.2019 – C-163/17 (Jawo) –, juris, Rn. 81 bis 97).
15
Vorliegend ist aufgrund einer Würdigung der Gesamtumstände nicht ernstlich zweifelhaft, dass der Asylantrag des Antragstellers gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden durfte.
16
Denn nach der – soweit ersichtlich jedenfalls ab dem Jahr 2021 – einheitlichen und überzeugenden obergerichtlichen Rechtsprechung ist derzeit davon auszugehen, dass ohne Hinzutreten etwaiger Besonderheiten des Einzelfalls zwar in der Regel angenommen werden muss, dass für den Fall einer Rückkehr eines in Griechenland anerkannten international Schutzberechtigten diesem dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GrCh bzw. Art. 3 EMRK droht, was grundsätzlich auch für den Fall alleinstehender gesunder und arbeitsfähiger Männer gilt (vgl. zum Ganzen: OVG Saarland, U.v. 15.11.2022 – 2 A 81/22 – juris; OVG Sachsen, U.v. 27.4.2022 – 5 A 492/21 A – juris; OVG NRW, U.v. 21.1.2021 – 11 A 2982/20.A –, juris Rn. 32; U.v. 21.1.2021 – 11 A 1564/20 –, juris Rn. 30; B.v. 5.4.2022 – 11 A 314/22.A –, juris Rn. 44 ff.; NdsOVG, U.v. 19.4.2021 – 10 LB 244/20 –, juris Rn. 23; OVG Bremen, U.v. 16.11.2021 – 1 LB 371/21 –, juris Rn. 29; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 23.11.2021 – OVG 3 B 53.19 –, juris Rn. 23 f.; VGH BW, U.v. 27.1.2022 – A 4 S 2443/21 –, juris Rn. 23 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 23.11.2021 – 3 B 53.19 –, juris Rn. 23 f.).
17
Den Ausführungen der obergerichtlichen Rechtsprechung lässt sich entnehmen, dass es auch für in Griechenland anerkannt Schutzberechtigte grundsätzlich beachtlich wahrscheinlich ist, dass sie bei einer Rückkehr nach Griechenland über einen absehbaren Zeitraum obdachlos werden und dieser Personenkreis aufgrund der prekären Arbeitsmarktlage in Griechenland nicht über die finanziellen Mittel verfügen wird, um seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. etwa: OVG Sachsen, U.v. 27.4.2022 – 5A 492/21 A – juris Rn. 43 ff., 98 ff.). Im Falle des Antragstellers existiert zwar keine konkrete und einzelfallbezogene Zusage der griechischen Behörden, den Antragsteller zur Abwendung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK, Art. 4 GrCh angemessen unterzubringen und ihm im Bedarfsfalle das zum Leben Unerlässliche zu gewähren. Das Schreiben des griechischen Ministeriums für Migrationspolitik vom 8. Januar 2018 erfüllt die Voraussetzungen an eine konkret-individuelle Zusage jedenfalls nicht, sondern informiert lediglich darüber, dass die Qualifikationsrichtlinie rechtzeitig im Jahr 2013 umgesetzt worden sei und international Schutzberechtigten alle Rechte gewährt würden, die in der Qualifikationsrichtlinie festgelegt seien (vgl. etwa OVG Sachsen, a.a.O., Rn. 49).
18
Der Fall des Antragstellers weist indessen Besonderheiten auf, die dieser grundsätzlichen Einschätzung entgegenstehen, so dass keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen. So hat der Antragsteller beim Bundesamt angegeben, in Griechenland habe er unregelmäßig illegal für 20,00 – 23,00 EUR am Tag gearbeitet. Nach Feststellung des internationalen Schutzes habe er ein Zimmer gemietet; das Geld dafür habe er sich geliehen. Er habe 110,00 EUR monatlich für zwei Monate bekommen. Von Flüchtlingsorganisationen habe er Lebensmittel bekommen. Er sei dann im November 2022 nach Norwegen zu einem Freund geflogen und von dort aus nach Deutschland gekommen. Auch mit der Flüchtlingsanerkennung sei es in Griechenland schwer, eine Arbeitserlaubnis und eine Arbeit zu bekommen. Er habe sich auf griechisch verständigen können. Sein Arbeitgeber habe aber nicht gewollt, dass er legal arbeite, weil er dann 40,00 EUR hätte bezahlen müssen. Damit sind aus Sicht des Gerichts besondere begünstigende Umstände dargetan, die es dem Antragsteller ermöglichen würden, auch bei einer Rückkehr nach Griechenland die Grundbedürfnisse „Bett, Brot, Seife“ zu befriedigen, zumal ihm das auch schon vor seiner Ausreise gelungen war. Die gegenteiligen Ausführungen des Antragstellerbevollmächtigten sind mit den Angaben des Antragstellers selbst nicht in Übereinstimmung zu bringen. So hat der Antragsteller selbst angegeben, per Flug aus Griechenland nach Norwegen ausgereist zu sein, was auf das Vorhandensein von Ersparnissen schließen lässt, die sich der Antragsteller wohl in Griechenland erarbeitet hatte. Soweit der Antragsteller vorträgt, er habe sich Geld geliehen, bleibt er die Auskunft schuldig, wer in Griechenland ihm Geld hätte leihen sollen, es sei denn, er verfügt bereits über ein soziales Netzwerk in Griechenland (vgl. OVG Saarland, U.v. 15.11.2022 – 2 A 81/22 – juris; OVG Sachsen, U.v. 27.4.2022 – 5 A 492/21 A – juris). Ist letzteres nicht der Fall, kann dies nur bedeuten, dass der Antragsteller aufgrund seiner bereits in Afghanistan erworbenen Bildung und Fähigkeiten (drei Jahre „Elektrik“-Studium) sowie seiner erworbenen Sprachkenntnisse (er kann sich nach eigenen Angaben auf griechisch verständigen) in der Lage war, in Griechenland ein Einkommen zu erzielen, das ihn in die Lage versetzte, mehr als die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Es wäre Sache des Antragstellers vorzutragen, aus welchen Gründen ihm in Griechenland Verelendung droht. Der Antragsteller hat indes lediglich vorgetragen, er sei nach Deutschland gekommen, weil er in Griechenland nicht habe studieren können und wegen der dort fehlenden Gesundheitsversorgung. Letztere spielt bei dem jungen und gesunden Antragsteller keine entscheidende Rolle, ein Studium dürfte auch in Deutschland für den Antragsteller nur sehr schwer realisierbar sein. Auch wenn aus dem Ausland zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte vom Bezug von Sozialleistungen grundsätzlich zunächst ausgeschlossen sind (vgl. OVG Sachsen, U.v. 27.04.2022 – 5 A 492/21.A – juris Rn. 115), sieht der erkennende Einzelrichter aufgrund des längeren Voraufenthalts in Griechenland, der Sprachkenntnisse sowie der dort früher ausgeübten Tätigkeiten entscheidende Hinweise darauf, dass beim Antragsteller besondere Umstände vorliegen, die einen Ausnahmefall begründen.
19
Vor diesem Hintergrund überwiegt im Rahmen der vom Gericht vorzunehmenden Interessenabwägung hier das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin gegenüber dem Bleibeinteresse des Antragstellers. Daher war der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 des angegriffenen Bescheides anzulehnen. Aus den gleichen Gründen war der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussicht abzulehnen.
20
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.