Inhalt

VGH München, Beschluss v. 05.01.2024 – 11 CS 23.1818
Titel:

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Einnahme von Medizinalcannabis – einstweiliger Rechtsschutz

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 46 Abs. 1, Anl. 4 Nr. 9.2.1, Nr. 9.5
BtmG § 13 Abs. 1
Leitsätze:
1. Soll eine Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist, das medizinische Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (vgl. VGH München BeckRS 2023, 13682 Rn. 16 mwN). Fehlt es bereits an der medizinischen Indikation, führt dies in der Regel zum Verlust der Fahreignung wegen regelmäßigen Konsums (vgl. VGH München BeckRS 2020, 1237 Rn. 23). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Verschreibung von Cannabis zu medizinischen Zwecken ist insbesondere dann nicht indiziert, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann. Kommen andere Maßnahmen in Betracht, die zur Erreichung des Ziels geeignet sind, ist diesen der Vorrang zu geben. Dementsprechend hat der Arzt in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Betäubungsmittelverschreibung ultima ratio ist (vgl. VGH München BeckRS 2023, 17189 Rn. 23). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
3. Dass das Privileg, trotz regelmäßigen Konsums von (Medizinal-)Cannabis und sogar unter dessen Einfluss ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen, auch dann, wenn der Betroffene verantwortungsvoll damit umgeht, mit einer Erhöhung der Gefahr im Straßenverkehr verbunden ist, rechtfertigt es, die Privilegierung jedenfalls in dem der Gefahrenabwehr dienenden Fahrerlaubnisrecht allein von der objektiven Erfüllung ihrer Voraussetzungen abhängig zu machen. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
4. Nach der jüngeren Rechtsprechung des Senats hat die Fahrerlaubnisbehörde der Frage der Wiedererlangung der Fahreignung auch schon vor Ablauf eines Jahres nach Aufgabe des Konsums nachzugehen, wenn sich nach fachlichen Kriterien und auch nach den dazu für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien ohne Weiteres ein Abstinenzerfordernis von weniger als einem Jahr ergibt (vgl. dazu VGH München BeckRS 2023, 27906 Rn. 20 ff.). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis, Einnahme von Medizinalcannabis, ärztliche Verschreibung ohne Indikation (Verstoß gegen Ultima-Ratio-Prinzip), Entfallen der Fahreignung wegen regelmäßigen Cannabiskonsums (bejaht), Wiedererlangung der Fahreignung nach Absetzen des Medizinalcannabis und Umstellung auf konventionelle Medikation (offengelassen), medizinischen Indikation, Ultima-Ratio-Prinzip, allein objektive Beurteilung, Abstinenzzeitraum für Wiedererlangung der Fahreignung
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 28.09.2023 – Au 7 S 23.1479
Fundstelle:
BeckRS 2024, 632

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis der Klassen B, L und M (alt).
2
Im Herbst 2022 war die Antragstellerin wiederholt vorläufig im Bezirkskrankenhaus G. untergebracht, nachdem sie in einem psychischen Ausnahmezustand angetroffen worden war.
3
Auf Anforderung der Fahrerlaubnisbehörde beim Landratsamt ... übersandte die Antragstellerin zunächst einen Entlassbericht des Bezirksklinikums und sodann ein ärztliches Gutachten der TÜV ... L2. Service GmbH vom 22. Februar 2023. Dieses kommt zu dem Ergebnis, die Antragstellerin sei trotz des Vorliegens einer affektiven Psychose wieder in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 gerecht zu werden. Sie sei im Oktober 2022 an einer akuten Psychose erkrankt, die im Rahmen einer bipolaren Störung (manische Episode mit psychotischen Symptomen) oder einer Schizophrenie zu sehen sei. Zwischenzeitlich habe sie sich jedoch wieder stabilisiert. Im Untersuchungsgespräch habe sich kein Anhalt für eine akute psychische Störung gefunden. Zur Krankheitsvorgeschichte heißt es, die Antragstellerin sei im Jahr 2019 schwer depressiv erkrankt, von November 2019 bis Oktober 2022 sei ihr medizinisches Cannabis verordnet worden. Nach dem psychischen Zusammenbruch im Oktober 2022 habe sie das Cannabis abgesetzt.
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Mit Blick auf diese Dauerbehandlung mit Cannabis forderte das Landratsamt die Antragstellerin auf, ein weiteres ärztliches Gutachten u.a. dazu beizubringen, ob bei ihr eine Grunderkrankung gegeben war, die die Verordnung von Medizinalcannabis gerechtfertigt habe. Das daraufhin erstellte ärztliche Gutachten der TÜV ... L3. Service GmbH vom 6. Juli 2023 verneint diese Frage. Es fehle an einer Indikation, insbesondere sei – abgesehen von einem einwöchigen Therapieversuch mit einem Antidepressivum – keine weitere fachärztliche Behandlung erfolgt. Die Antragstellerin sei jedoch wieder in der Lage, den Anforderungen zum Führen von Kraftfahrzeugen gerecht zu werden. Das Cannabismedikament werde seit Oktober 2022 nicht weiter eingenommen, so dass keine negativen fahreignungsrelevanten Auswirkungen mehr anzunehmen seien. Nach dem Ergebnis der Haaranalyse sei Cannabisabstinenz über sechs Monate belegt. Im Untersuchungsgespräch hat die Antragstellerin angegeben, sie habe in der Vergangenheit (illegales) Cannabis konsumiert, allerdings in den Jahren 2008 bis 2010, und den Konsum bei ihrer Schwangerschaft aufgegeben. Im Jahr 2019 sei sie in eine tiefe Depression geraten, die ihr Hausarzt mit Zyprexa behandelt habe. Das habe sie ebenso wenig vertragen wie das sodann verordnete Johanniskraut. Unter Hypnosetherapie habe sich die Situation verbessert. Im September 2019 habe sie ein Wochenendseminar besucht, bei dem ein Arzt u.a. die neuen Möglichkeiten von Cannabis als Medikation vorgestellt habe. Dieser habe ihr dann nach einem ersten Termin im November 2019 sogleich Cannabis verschrieben. Während der stationären Unterbringung im Herbst 2022 sei ihre Medikation auf Olanzapin umgestellt worden. Dieses nehme sie zuverlässig ein und fühle sich wohl damit. Nach Einschätzung der ärztlichen Gutachterin bestehen keine Zweifel an der Therapietreue (Compliance) der Antragstellerin.
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Mit Bescheid vom 10. August 2023 entzog das Landratsamt der Antragstellerin die Fahrerlaubnis und verpflichtete sie, ihren Führerschein unverzüglich, spätestens innerhalb von fünf Tagen nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner ordnete es die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an. Nach dem ärztlichen Gutachten vom 26. Mai 2023 sei die Verordnung von Medizinal-Cannabis nicht indiziert gewesen, so dass sich dessen tägliche Einnahme als ein die Fahreignung ausschließender regelmäßiger Cannabiskonsum darstelle.
6
Am 12. September 2023 erhob die Antragstellerin Klage und stellte zugleich einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht Augsburg mit Beschluss vom 28. September 2023 abgelehnt hat. Bei summarischer Überprüfung sei die Entziehung der Fahrerlaubnis rechtmäßig. Das Landratsamt sei zutreffend davon ausgegangen, dass die Antragstellerin nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV aufgrund regelmäßigen Cannabiskonsums als fahrungeeignet anzusehen sei. Solle eine Dauerbehandlung mit Medizinal-Cannabis nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setze das u.a. voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet sei. Dabei sei zu beachten, dass die Verschreibung von Medizinal-Cannabis als Betäubungsmittel nach dem Ultima-Ratio-Grundsatz des § 13 BtmG ausscheide, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise, insbesondere durch Anwendung nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegender Arzneimittel, erreicht werden könne. Hier sei das Gutachten nachvollziehbar zu dem Ergebnis gelangt, dass nicht alle alternativen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft gewesen seien. Damit sei die medizinische Indikation zu verneinen. Auf Kenntnis oder Verschulden der Antragstellerin komme es insoweit im Fahrerlaubnisrecht als Sicherheitsrecht nicht an. Das Landratsamt habe auch annehmen dürfen, dass die Antragstellerin deshalb im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch fahrungeeignet gewesen sei, obgleich der letzte Konsum im Oktober 2022 stattgefunden habe. Mache eine Person geltend, sie habe die Fahreignung zwischenzeitlich wiedererlangt, sei diesem Vorbringen bereits im Entziehungsverfahren nachzugehen. Ein Entziehungsbescheid dürfe in einer solchen Fallgestaltung nur dann ohne weitere Sachaufklärung ergehen, wenn es aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen ausgeschlossen sei, dass dem „Wiedererlangungseinwand“ Erheblichkeit zukomme. Letzteres sei bei vorangegangenem regelmäßigen Cannabiskonsum nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs dann der Fall, wenn bis zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt das eine Jahr, während dessen der Betroffene im Regelfall Drogenabstinenz geübt haben oder zu einem mit den Erfordernissen des Fahrerlaubnisrechts vereinbaren Cannabiskonsum übergegangen sein müsse (Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV), noch nicht abgelaufen sei und es deshalb – vorbehaltlich einer atypischen Fallgestaltung im Sinn der Vorbemerkung 3 der Anlage 4 zur FeV – keinesfalls zu einer Wiedergewinnung der Fahrerlaubnis gekommen sein könne. Diese sog. verfahrensrechtliche Einjahresfrist sei, ausgehend von einem letzten Konsum im Oktober 2022, hier bei Bescheiderlass im August 2023 noch nicht abgelaufen gewesen. Das Landratsamt sei insoweit auch nicht an die Wertung der Gutachterin gebunden, die Antragstellerin sei angesichts der Beendigung der Cannabismedikation im Oktober 2022 „aus medizinischer Sicht“ wieder fahrgeeignet. Bei dem Schluss aus der nicht indizierten Einnahme von Medizinalcannabis bis Oktober 2022 auf mangelnde Fahreignung bei Bescheiderlass handle es sich um reine Rechtsanwendung, die der Fahrerlaubnisbehörde obliege.
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Dagegen richtet sich die Beschwerde der Antragstellerin, der der Antragsgegner entgegentritt.
8
Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
9
Die Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen wäre. Weitergehende Fragen müssen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
10
1. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310,319), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2021 (BGBl I S. 3091), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz vom 2. März 2023 (BGBl I Nr. 56), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde.
11
Die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bei ärztlich verordneter Einnahme von Medizinalcannabis richtet sich nach Nr. 9 der Anlage 4 zur FeV. Danach entfällt bei Einnahme von ärztlich verordnetem Cannabis die Fahreignung grundsätzlich nicht schon wegen regelmäßigen Cannabiskonsums (Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV), wenn es sich um die bestimmungsgemäße Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels im Sinne von Nr. 3.14.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (Vkbl S. 110) in der Fassung vom 17. Februar 2021 (Vkbl S. 198) handelt. Insoweit definieren Nr. 9.4 und Nr. 9.6.2 der Anlage 4 zur FeV speziellere Anforderungen für Eignungsmängel, die aus dem Gebrauch psychoaktiver Arzneimittel resultieren (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2019 – 11 B 18.2482 – ZfSch 2019, 414 Rn. 23 m.w.N.). Soll eine Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist (Schubert/Huetten/Reimann/Graw, Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung, 3. Aufl. 2018, S. 303), das medizinische Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (vgl. Handlungsempfehlung der Ständigen Arbeitsgruppe Beurteilungskriterien [StAB] zur Fahreignungsbegutachtung bei Cannabismedikation, aktualisierte Fassung vom August 2018, abgedruckt in Schubert/Huetten/Reimann/Graw, a.a.O., S. 440/443; BayVGH, B.v. 31.5.2023 – 11 ZB 23.152 – juris Rn. 16 m.w.N.; VGH BW, B.v. 16.1.2023 – 13 S 330/22 – NJW 2023, 861 Rn. 6; U.v. 27.9.2023 – 13 S 517/23 – juris Rn. 27 ff.; OVG Saarl, B.v. 8.11.2021 – 1 B 180/21 – ZfSch 2022, 57 = juris Rn. 14; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl. 2023, § 2 StVG Rn. 62a). Fehlt es bereits an der medizinischen Indikation, führt dies in der Regel zum Verlust der Fahreignung wegen regelmäßigen Konsums nach Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV (vgl. BayVGH, B.v. 16.1.2020 – 11 CS 19.1535 – Blutalkohol 57, 133 = juris Rn. 23; VGH BW, U.v. 27.9.2023 a.a.O. Rn. 27).
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2. Davon ausgehend greift der Einwand der Antragstellerin, sie habe das medizinische Cannabis allein auf ärztlichen Rat konsumiert und könne nichts dafür, dass dies wohl nicht die ultima ratio gewesen sei, nicht durch.
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Wann die Verschreibung von Cannabis, das nach Anlage III zu § 1 Abs. 1 BtMG zu den verkehrs- und verschreibungsfähigen Betäubungsmitteln gehört, zu medizinischen Zwecken indiziert ist, ergibt sich u.a. aus § 13 Abs. 1 Satz 1 und 2 BtMG. Danach darf es ärztlich nur verschrieben werden, wenn seine Anwendung am oder im menschlichen Körper begründet ist (§ 13 Abs. 1 Satz 1 BtmG). Dies ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, insbesondere dann nicht der Fall, wenn der beabsichtigte Zweck auf andere Weise erreicht werden kann (§ 13 Abs. 1 Satz 2 BtmG). Kommen andere Maßnahmen in Betracht, die zur Erreichung des Ziels geeignet sind, wie eine Änderung der Lebensweise, physiotherapeutische Behandlungen, eine Psycho- oder Verhaltenstherapie oder die Anwendung nicht den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegender Arzneimittel, ist diesen der Vorrang zu geben. Dementsprechend hat der Arzt in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Betäubungsmittelverschreibung ultima ratio ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.1.2020 – 11 CS 19.1535 – juris Rn. 23; B.v. 3.7.2023 – 11 C 23.363 – juris Rn. 23 f.; VGH BW, U.v. 27.9.2023 – 13 S 517/23 – juris Rn. 35, Patzak in Patzak/Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl. 2022, § 13 Rn. 20 ff.; Handlungsempfehlung der Ständigen Arbeitsgruppe Beurteilungskriterien, a.a.O. S. 440/441).
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Hier ist, wie auch die Beschwerde nicht ernsthaft in Zweifel zieht, nicht erkennbar, dass die Behandlung der Antragstellerin mit Medizinalcannabis dem Ultima-Ratio-Grundsatz entsprochen hätte.
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Anders als die Antragstellerin meint, kommt es auch nicht darauf an, ob sie auf die Ordnungsgemäßheit der ärztlichen Verordnung vertrauen durfte. Das Privileg, trotz regelmäßigen Konsums von (Medizinal-)Cannabis und sogar unter dessen Einfluss ein Kraftfahrzeug führen zu dürfen, ist auch dann, wenn der Betroffene verantwortungsvoll damit umgeht, mit einer Erhöhung der Gefahr im Straßenverkehr verbunden (vgl. dazu AG Trier, U.v. 15.12.2021 – 36 Owi 8041 Js 35254/20 – Blutalkohol 59, 149 = juris Rn. 24; Wagner/Brenner-Hartmann/Kirsten/Löhr-Schwaab, Blutalkohol 59, 412/414 f., 423). Dies rechtfertigt es, die Privilegierung jedenfalls in dem der Gefahrenabwehr dienenden Fahrerlaubnisrecht allein von der objektiven Erfüllung der vorgenannten Voraussetzungen abhängig zu machen.
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3. Wenn die Beschwerde einwirft, die Antragstellerin habe zuletzt im Oktober 2022 Cannabis konsumiert, verhält sie sich nicht näher zu der eingehenden Begründung, mit der das Verwaltungsgericht eine Wiedererlangung der Fahreignung im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses verneint hat. Insoweit wird sie den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO, die eine Prüfung, Sichtung sowie rechtliche Durchdringung des Streitstoffs und damit eine sachliche Auseinandersetzung mit den Gründen des angefochtenen Beschlusses erfordern (vgl. BayVGH, B.v. 22.10.2019 – 11 CS 19.1837 – juris Rn. 10; Guckelberger in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 146 Rn. 76 ff.; Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 146 Rn. 22a f.), nicht gerecht. Folglich ist darauf im Beschwerdeverfahren nicht näher einzugehen.
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4. Im Hauptsacheverfahren bedarf die Frage der Wiedererlangung der Fahreignung aus Sicht des Senats allerdings voraussichtlich der weiteren Vertiefung.
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In seiner älteren Rechtsprechung, auf die das Verwaltungsgericht Bezug genommen hat, hat der Senat zwar angenommen, die Wiedererlangung der Fahreignung nach Aufgabe eines Drogenkonsums setze auch ohne Abhängigkeit – vorbehaltlich atypischer Fallgestaltungen – einen Mindestabstinenzzeitraum von einem Jahr voraus. Denn die Regelung in Nr. 9.5 der Anlage 4 zur FeV sei insoweit jedenfalls entsprechend anwendbar (vgl. BayVGH, B.v. 11.11.2004 – 11 CS 04.2814 – Blutalkohol 43, 414 = juris Rn. 8; B.v. 9.5.2005 – 11 CS 04.2526 – VRS 109, 64 = juris Rn. 22; B.v. 8.2.2008 – 11 CS 07.3017 – juris Rn. 33 ff.). Diese Frist war hier, wie vom Verwaltungsgericht ausgeführt, noch nicht abgelaufen. In seiner jüngeren Rechtsprechung hat der Senat jedoch entschieden, dass dem „Wiederlangungseinwand“ unter Umständen auch schon vor Ablauf eines Jahres Bedeutung zukommen kann. Die Fahrerlaubnisbehörde darf danach zwar in der Regel von einer notwendigen Mindestabstinenz von einem Jahr ausgehen. Zugleich hat der Senat aber hervorgehoben, dass sich die Länge der Mindestabstinenz nach fachlichen Kriterien bemisst und dazu auch die für die Begutachtungsstellen entwickelten Beurteilungskriterien (Urteilsbildung in der Fahreignungsbegutachtung, Hrsg.: Deutsche Gesellschaft für Verkehrspsychologie [DGVP]/Deutsche Gesellschaft für Verkehrsmedizin [DGVM], mittlerweile 4. Aufl. 2022) mit in den Blick zu nehmen sind. Ergibt sich daraus ohne Weiteres ein Abstinenzerfordernis von weniger als einem Jahr, hat die Fahrerlaubnisbehörde der Frage der Wiedererlangung der Fahreignung daher auch schon vor Ablauf eines Jahres nach Aufgabe des Konsums nachzugehen (vgl. dazu BayVGH, B.v. 5.10.2023 – 11 CS 23.1413 – juris Rn. 19 ff.).
19
Hier stellt sich mit Blick auf die Beurteilungskriterien zunächst die Frage, nach welchen medizinischen bzw. medizinisch-psychologischen Maßstäben sich die inmitten stehende Problematik – Wiedererlangung der Fahreignung nach ärztlicher Verordnung von Medizinalcannabis ohne Indikation – beurteilt. In Betracht kommen insoweit die Kriterien für die Prüfung der Fahreignung bei Drogenkonsum (sog. D-Hypothesen, Beurteilungskriterien S. 142 ff.), aber auch die Kriterien für die Beurteilung der Fahreignung im Fall der Dauermedikation und des Medikamentenmissbrauchs (sog. M-Hypothesen, Beurteilungskriterien S. 226 ff.).
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Dazu lässt sich den Beurteilungskriterien entnehmen, dass eine Verordnung psychoaktiver Arzneimittel in Zusammenhang mit der zugrundeliegenden Drogenproblematik, also nach den D-Hypothesen, zu bewerten ist, wenn sie auf die Absicht des Betroffenen zurückzuführen ist, die Arzneimittel als Ersatzstoff bzw. Ausweichmittel zu verwenden (Beurteilungskriterien, S. 142). Zudem sind danach etwaige zusätzliche Fragestellungen hinsichtlich einer früheren Missbrauchsproblematik mit Verkehrsauffälligkeit, wie sie bei Cannabismedikation häufig vorliegen (vgl. dazu auch Wagner/Brenner-Hartmann/Kirsten/Löhr-Schwaab, Blutalkohol 59, 412/419, 423), nach den D-Kriterien zu bewerten (Beurteilungskriterien, S. 229). Demnach liegt es nicht fern, dass die Wiedererlangung der Fahreignung nach ärztlicher Verordnung von Medizinalcannabis ohne Indikation zumindest in Anlehnung an die Hypothese D3 (Drogengefährdung ohne Anzeichen einer fortgeschrittenen Drogenproblematik) zu beurteilen ist, wenn der Betroffene in zeitlichem Zusammenhang mit der Verschreibung auch illegal Cannabis konsumiert hat. In diesem Fall wäre bei einem regelmäßigen Cannabiskonsum über mehrere Jahre, wie er bei der Antragstellerin vorlag, wohl ein Abstinenzzeitraum von einem Jahr zu fordern, wie das Verwaltungsgericht ihn hier zugrunde gelegt hat (vgl. Beurteilungskriterien, Nr. 2 des Kriteriums D3.4 N).
21
Bei der Antragstellerin ist allerdings fraglich, ob ein relevanter zeitlicher Zusammenhang zwischen Konsum von illegalem Cannabis und der Einnahme von Medizinalcannabis bestand. Ihren Angaben nach, die das Gutachten vom 6. Juli 2023 nicht in Zweifel zieht, lagen zwischen der Verordnung von Medizinalcannabis und dem illegalen Konsum mehr als 8 Jahre und hat sie letzteren aufgrund einer Schwangerschaft aufgegeben. Somit war die Einnahme des Medizinalcannabis möglicherweise ausschließlich gesundheitlich bzw. medizinisch motiviert.
22
In diesem Fall läge aber nicht nur eine vollkommen andere Motivation, sondern auch eine geringere Rückfallgefahr vor als bei einem gewöhnlichen regelmäßigen Cannabiskonsumenten. Bei diesem dient das Cannabis typischerweise dazu, die Stimmung zu regulieren, also insbesondere Anspannungen abzubauen und sozialen Hemmungen oder Langeweile entgegenzuwirken (vgl. dazu Tossmann/Soellner/Kleiber in Jahrbuch Sucht 1994, 143/150). Daher könnte es fachlich geboten sein, die Wiedererlangung der Fahreignung in dieser Konstellation nach den bzw. in Anlehnung an die Kriterien zur Fahreignung bei Dauermedikation und Medikamentenmissbrauch (M-Hypothesen) zu beurteilen. Dafür könnte auch sprechen, dass die Beurteilungskriterien eine Verordnung durch den Arzt außerhalb der zugelassenen Indikation (sog. Off-Label-Use), wie sie hier vorlag, unter den Begriff der missbräuchlichen Einnahme bzw. des nicht bestimmungsgemäßen Gebrauchs fassen (Beurteilungskriterien, S. 228 unter Verweis auf die S3-Leitlinien „Medikamentenbezogene Störungen“). Von Interesse erscheint in diesem Zusammenhang insbesondere die Hypothese M2, die u.a. darauf abstellt, dass kein Fehlgebrauch psychoaktiver Arzneimittel mehr vorliegt, der Betroffene die Ursachen des Fehlgebrauchs erkannt und aufgearbeitet hat, aufgeklärt ist und die Arzneimittel entsprechend der ärztlichen Verordnung einnimmt (Compliance). Ferner fällt auf, dass die Beurteilungskriterien insoweit nur einen Zeitraum von in der Regel sechs Monaten fordern, in denen der Verzicht auf die Einnahme des Arzneimittels, bei dem der Fehlgebrauch bestand, belegt werden muss (Nr. 4 des Kriteriums M2.4N).
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In diesem Zusammenhang kommt auch der Beurteilung in dem Gutachten vom 6. Juli 2023, das von einer sehr guten Compliance und wiedererlangter Fahreignung ausgeht, Bedeutung zu. Ggf. bietet es sich an, die ärztliche Gutachterin – mit Einverständnis der Antragstellerin – nach § 98 VwGO i.V.m. § 411 Abs. 3 ZPO (vgl. dazu Geiger, NZV 2002, 20/22) um eine schriftliche oder mündliche Erörterung ihres Gutachtens und um Vertiefung, nach welchen medizinischen Kriterien sich die Wiedererlangung der Fahreignung in der vorliegenden Konstellation ihres Erachtens bemisst, zu bitten.
24
5. Die Beschwerde war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
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6. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).