Inhalt

VGH München, Urteil v. 21.03.2024 – 24 B 23.30860
Titel:

unzulässiger Asylantrag von anerkannt Schutzberechtigten (Italien)

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 35
Verfahrens-RL Art. 33 Abs. 2 lit. a
Aufnahme-RL Art. 21
GRCh Art. 4, Art. 7, Art. 24 Abs. 3
EMRK Art. 3, Art. 8
Rückführungs-RL Art. 5
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
GG Art. 6
Leitsätze:
1. Asylanträge von vulnerablen Personen, die in Italien internationalen Schutz zuerkannt bekommen haben, sind nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da ihnen aufgrund der bestehenden Rückführungsmodalitäten nach Rückkehr keine ernsthafte Gefahr einer Obdachlosigkeit droht. (Rn. 26 – 34)
2. Eine Rückkehrentscheidung im Sinne des Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) erfasst wegen Art. 6 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Rückführungsrichtlinie auch Abschiebungsandrohungen, die nach § 35 AsylG einen Mitgliedstaat der Europäischen Union als Zielstaat nennen. Entsprechend dient die Änderung des § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG durch Art. 2 Nr. 9 Buchst. b des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54)) auch der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie, so dass bei dessen Auslegung die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 5 Rückführungsrichtlinie zu beachten ist. (Rn. 53 – 55)
Schlagworte:
Asylrecht, Sekundärmigration (Italien), anerkannt Schutzberechtigte, Alleinerziehende mit minderjährigem Kind, Rückführung vulnerabler Personen, finanzielle Unterstützung für Familien mit Kindern in Italien, Sicherung des Lebensunterhalts, Abschiebungsandrohung, Berücksichtigung eines „nasciturus“, unzulässiger Asylantrag, RL 2013/33/EU, vulnerable Person, Schwangerschaft, Rückkehrentscheidung, nasciturus, vorübergehendes Vollstreckungshindernis
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 25.04.2023 – RO 14 K 21.31471
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6211

Tenor

I. Unter Abänderung der Nummer I. des Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 25. April 2023 wird der Bescheid vom 4. November 2021 hinsichtlich der Nummer 4 aufgehoben. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Die Klägerinnen tragen die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerinnen dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird gemäß § 78 Abs. 8 AsylG zugelassen. Im Übrigen wird die Revision nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die 1992 geborene Klägerin zu 1) ist nigerianische Staatsangehörige aus dem Volk der Bini und christlicher Religionszugehörigkeit. Sie reiste im Juli 2016 in die Italienische Republik (im Folgenden: Italien) ein. Ihre Tochter, die Klägerin zu 2), wurde im November 2016 in Rom geboren und ist ebenfalls nigerianische Staatsangehörige. Der Vater der Klägerin zu 2) lebt in Nigeria.
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Am 12. Juli 2021 reisten die Klägerinnen in die Bundesrepublik Deutschland und stellten am 25. August 2021 einen Asylantrag. Ein Wiederaufnahmegesuch vom 26. August 2021 nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) lehnten die italienischen Behörden am 7. September 2021 ab und verwiesen darauf, dass den Klägerinnen in Italien am 4. Februar 2019 eine Aufenthaltserlaubnis für Asyl („residence permit for ‚asylum‘“) erteilt worden sei, womit das Asylverfahren abgeschlossen sei.
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Mit Bescheid vom 4. November 2021 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerinnen als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Klägerinnen wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen (Nr. 3 Satz 1), andernfalls wurde ihnen die Abschiebung nach Italien (Nr. 3 Satz 2) oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet ist (Nr. 3 Satz 3) angedroht. Das Bundesamt stellte fest, dass die Klägerinnen nicht nach Nigeria abgeschoben werden dürften (Nr. 3 Satz 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da den Klägerinnen in Italien internationaler Schutz gewährt worden sei.
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Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Regensburg mit Urteil vom 25. April 2023 ab. Die zulässige Klage sei unbegründet, denn der Asylantrag der Klägerinnen sei aufgrund ihrer Anerkennung als international Schutzberechtigte in Italien zu Recht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt worden. Die Klägerinnen erwarteten bei einer Rückkehr in Italien keine Lebensverhältnisse, die sie der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK aussetzen würden. Es bestünden keine Anhaltspunkte dafür, dass den Klägerinnen im Falle einer Rückkehr Obdachlosigkeit drohe und sie infolge dessen in existenzielle Not gerieten. Zudem hätten anerkannte Flüchtlinge und Personen mit subsidiärem Schutz Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Klägerin zu 1) verfüge über Schulbildung und Berufserfahrung und habe diese in ihrer Zeit in Italien weiter ausbauen können. Die Klägerin zu 2) sei nun deutlich älter und in wesentlich geringerem Umfang auf eine Betreuung durch die Klägerin zu 1) angewiesen, sodass sie eine geeignete Arbeitsstelle finden können sollte. Abschiebungsverbote bestünden nicht.
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Zur Begründung ihrer vom Senat zugelassenen Berufung machen die Klägerinnen unter Bezugnahme auf die Zulassungsbegründung geltend, ihr Asylantrag hätte nicht als unzulässig abgelehnt werden dürfen, da ausweislich aktueller Erkenntnismittel in Italien für anerkannt Schutzberechtigte die ernsthafte Gefahr bestehe, dass sie im Falle ihrer Rückkehr nach Italien eine unmenschliche Behandlung erfahren. Es handele sich zumindest bei der Klägerin zu 2) um eine vulnerable Person mit einem höheren Versorgungsbedarf. Die Klägerinnen hätten keinen Unterbringungsanspruch in einem SAI-Projekt, da sie die maximale Unterbringungszeit bereits ausgeschöpft hätten. Eine drohende Obdachlosigkeit sei auch für eine Übergangszeit nicht hinnehmbar. Die Klägerin zu 1) sei überdies schwanger (errechneter Geburtstermin: 2.4.2024). Der künftige Vater des Kindes sei nigerianischer Staatsangehöriger und befinde sich im nationalen Asylverfahren. Es sei nicht davon auszugehen, dass er die Klägerinnen nach Italien begleiten würde, sodass die Klägerin zu 1) als alleinerziehende Mutter mit künftig zwei Kindern nach Italien zurückkehren müsse. Wegen der Betreuung ihrer Kinder wäre es ihr nicht möglich, Arbeit zu finden.
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Die Klägerinnen beantragen,
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das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 25. April 2023 – RO 14 K 21.31471 – abzuändern und den Bescheid des Bundesamtes vom 4. November 2021 aufzuheben, hilfsweise unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 4. November 2021 festzustellen, dass nationale Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG bezüglich Italiens vorliegen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Berufung der Klägerinnen zurückzuweisen.
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Die Lebensbedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Italien seien ausreichend, sodass eine erniedrigende Behandlung nicht zu befürchten sei. Insbesondere könnte auch Rückkehrenden mit abgelaufenem Aufenthaltstitel eine Unterkunft in einem SAI-Zentrum zugeteilt werden, wobei schon vor Rückkehr ein Antrag beim zuständigen Servizio Centrale gestellt werden könne. Der Zeitraum der Unterbringung könne auf bis zu 1,5 Jahre verlängert werden. Darüber hinaus gebe es für anerkannt Schutzberechtigte verschiedene finanzielle Unterstützungsleistungen wie insbesondere die Familien- und Elternbeihilfe. Weiterhin gebe es die Möglichkeit einer Familienzusammenführung für anerkannt Schutzberechtigte. Auf die aktualisierte Auskunft des Verbindungsbeamten zur Rückkehrsituation im Rahmen von Dublin-Überstellungen vom 4. Dezember 2023 an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein werde verwiesen. Den Asylantrag des zukünftigen Kindsvaters habe die Beklagte abgelehnt, dagegen sei eine Klage anhängig.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Streit- und Sachstands wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung, die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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A.
Der Senat entscheidet über die Berufung mit Einverständnis der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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B.
Die zulässige Berufung der Klägerinnen ist überwiegend unbegründet. Denn der Bescheid der Beklagten vom 4. November 2021 erweist sich in seinen Nummern 1 und 2 in dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 des Asylgesetzes (AsylG) i.d.F. d. Bek. vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54), für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats als rechtmäßig. Die Asylanträge der Klägerinnen sind aufgrund des bereits in Italien zuerkannten internationalen Schutzes zu Recht als unzulässig abgelehnt worden (I.). Abschiebungsverbote hinsichtlich Italien liegen nicht vor (II.). Auch die in Nummer 3 des Bescheids erlassene Abschiebungsandrohung erweist sich als rechtmäßig (III.). Jedoch stellt sich das in Nummer 4 des Bescheids vom 4. November 2021 verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot hinsichtlich seiner Befristung als ermessensfehlerhaft dar, sodass der Bescheid insoweit aufzuheben ist (IV.).
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I. Die Beklagte hat den Asylantrag in Nummer 1 des Bescheids zutreffend nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt. Die Norm nutzt die durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl Nr. L 180 S. 60 – Verfahrensrichtlinie) eingeräumte und abschließend ausgestaltete Möglichkeit, anstelle einer Sachentscheidung einen Asylantrag als unzulässig zu betrachten, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2020 – C-564/18 – juris Rn. 29 ff.). Die Voraussetzungen sind hier gegeben.
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1. Die Klägerinnen haben im Februar 2019 durch Italien als Mitgliedstaat der Europäischen Union den internationalen Schutzstatus erhalten (vgl. Schreiben der italienischen Behörden vom 7.9.2021). Ausweislich der Erkenntnismittel erhalten Schutzberechtigte in Italien eine befristete Aufenthaltserlaubnis für fünf Jahre, die auf Antrag bei Fortbestand der Voraussetzungen verlängert wird (AIDA, Country Report: Italy, Stand Mai 2023, S. 216).
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Ob der Flüchtlingsstatus noch besteht, ist für § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG jedenfalls dann nicht relevant, wenn die Klägerinnen – wie hier – Italien freiwillig verlassen haben. Der Senat geht davon aus, dass unter Einhaltung der unionsrechtlichen Vorgaben in Art. 19 Abs. 4 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl Nr. L 337 S. 9, ber. ABl 2017 Nr. L 167 S. 58 – Anerkennungsrichtlinie) der Schutzstatus nicht ohne individuelle Prüfung, mithin nicht ohne Widerrufsverfahren und nicht ohne Kenntnis der Klägerinnen entzogen wird. Selbst wenn die Klägerinnen ihren Schutzstatus im Zusammenhang mit ihrer Ausreise zwischenzeitlich verloren haben sollten, wären sie so zu behandeln, als bestünde der Schutzstatus fort, weil dessen Verlust in diesem Fall auf ihren Willensentschluss zurückzuführen wäre. Es wäre mit dem Zweck der Norm nicht vereinbar, könnten die Betroffenen durch dieses freiwillige Handeln der Beklagten die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unmöglich machen (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 20.4.2023 – 24 ZB 23.30078 – juris Rn. 16 f.).
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2. Eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist auch nicht aus unionsrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Der Senat geht nach Auswertung der verfügbaren Erkenntnismittel davon aus, dass den Klägerinnen bei einer Rückkehr nach Italien keine ernsthafte Gefahr droht, in einer Weise behandelt zu werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. Dies gilt auch und insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerinnen der Gruppe der vulnerablen Personen angehören.
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a) Es ist den Mitgliedstaaten untersagt, von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie eingeräumten Befugnis – und mithin von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 – C-540/17 u.a., Hamed u.a. – juris Rn. 35; EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim u.a. – juris Rn. 88), wenn die Antragsteller in Italien der ernsthaften Gefahr ausgesetzt wären, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union i.d.F. d. Bek. vom 12. Dezember 2007 (EU-Grundrechtecharta – GRCh, ABl Nr. C 303 S. 1) zu erfahren (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh i.V.m. Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie). In einem solchen Fall ist deshalb bereits die Unzulässigkeitsentscheidung (und nicht erst die Abschiebungsandrohung) rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 17).
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aa) Art. 4 GRCh entspricht ausweislich der Charta-Erläuterungen dem Recht, das durch Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten i.d.F. d. Bek. v. 22. Oktober 2010 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK, BGBl II S. 1198) garantiert ist (vgl. Charta-Erläuterungen, ABl 2007 C 303 S. 18; s. a. Art. 52 Abs. 3 GRCh) und verbietet ausnahmslos insbesondere jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Für die Anwendungssperre hinsichtlich des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist alleine die Frage maßgeblich, ob die festgestellten Aufnahmebedingungen in allgemeiner Hinsicht regelhaft derartige Schwachstellen aufweisen, die unabhängig vom Einzelfall die Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCh für nach Italien zurückkehrende anerkannt Schutzberechtigte hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen.
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Für die Beurteilung, ob eine solche Gefahr zu erwarten ist, bedarf es einer Prognose, wie der betroffene Drittstaatsangehörige im Falle der Rückkehr behandelt werden wird. An die hierbei anzustellende Prognose sind aufgrund des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaten, der davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 81; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 84), hohe Anforderungen zu stellen. Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die widerlegliche Vermutung, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht.
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bb) Diese Vermutung kann widerlegt werden, wenn in einem Mitgliedsstaat bei der praktischen Umsetzung des Migrationsrechts größere Funktionsstörungen auftreten. Wegen der Bedeutung des Vertrauensgrundsatzes tragen Störungen die Annahme einer ernsthaften Gefahr einer grundrechtswidrigen, insbesondere mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Behandlung eines Drittstaatsangehören in dem Mitgliedsstaat der anderweitigen Schutzgewährung jedoch nur dann, wenn sie sich zum einen als systemische oder allgemeine Schwachstellen erweisen, die eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen und zum anderen anzunehmen ist, dass der Drittstaatsangehörige im Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss beachtlich wahrscheinlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden (vgl. zum Ganzen EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 85 und 88; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 86f.). Verfügt das Gericht über Angaben, die die Klagepartei vorgelegt hat, um das Vorliegen eines solchen Risikos in dem betreffenden Mitgliedstaat nachzuweisen, so ist es verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18).
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cc) Festgestellte systemische Schwachstellen, die den Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung im Sinne von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG hindern, erreichen die notwendige besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit insbesondere erst dann, wenn im betroffenen Mitgliedstaat die Behörden gegenüber Rückkehrern derart gleichgültig sind, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 f m.w.N.; U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 – juris Rn. 89 f.; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18).
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Wegen des strengen Maßstabs wird die erforderliche Erheblichkeitsschwelle grundsätzlich nicht schon erreicht, wenn eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation zu erwarten ist. Etwas anderes gilt nur dann, wenn diese Situation zugleich mit extremer materieller Not verbunden ist, sodass sich der Betroffene in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 93; BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss der Drittstaatsangehörige aufgrund der mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden fehlenden Befriedigung seiner Grundbedürfnisse Gefahr laufen, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt zu werden oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden (BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 18). Diese Schwelle der Erheblichkeit kann in Bezug auf vulnerable Personen schneller erreicht sein als bei gesunden und arbeitsfähigen erwachsenen Personen (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 12). Der zeitliche Prognosehorizont einer grundrechtswidrigen Handlung als Folge einer festgestellten Schwachstelle ist dabei auf einen absehbaren Zeitraum ausgerichtet (vgl. zu § 60 Abs. 5 AufenthG BVerwG, U.v. 21.4.2022 – 1 C 10.21 – juris Rn. 25).
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dd) Im Rahmen der Prognose, ob ein Betroffener bei Rückkehr unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, sind zum einen die örtlich vorherrschenden Möglichkeiten, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern, zu berücksichtigen (wirtschaftliche Rückkehrsituation). Hierbei sind alle realistischen Formen der Erwerbstätigkeit einzubeziehen. Denn einem Drittstaatsangehörigen ist es im Regelfall zumutbar, auch wenig attraktive oder der Vorbildung nicht entsprechende Arbeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entspricht und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 29). Zum anderen sind bei der Bewertung die staatlichen Unterstützungsleistungen auch die – alleinigen oder ergänzenden – dauerhaften Unterstützungs- oder Hilfeleistungen von vor Ort tätigen nichtstaatlichen Institutionen und Organisationen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 22). Deshalb kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweilig Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (vgl. BVerwG, B.v. 27.1.2022 – 1 B 93.21 – juris Rn. 14; B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 20; VGH BW, B.v. 8.11.2021 – A 4 S 2850/21 – juris Rn. 10; vgl. ferner BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 22).
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Die Prognose einer Situation extremer materieller Not hängt nicht nur von den genannten wirtschaftlichen und karitativen Aspekten, sondern auch – in personeller Hinsicht – von der Zahl und Leistungsfähigkeit der betroffenen Adressaten einer Rückkehrentscheidung (personelle Rückkehrsituation), also davon ab, ob nur eine Person oder gegebenenfalls mehrere Personen als Familienangehörige gemeinsam zurückkehren müssen. Indes ist für die personelle Rückkehrsituation rechtlich nicht berücksichtigungsfähig, ob darüber hinaus noch weitere Personen (Familienangehörige) vorhanden sind, mit deren freiwilligen Begleitung zu rechnen ist (vgl. hierzu eingehend BayVGH, U.v. 4.3.2024 – 24 B 22.30376 – Rn. 27 ff.).
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b) Bei Anlegung der vorgenannten Maßstäbe und nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln erwarten die Klägerinnen bei ihrer Rückkehr nach Italien keine Lebensverhältnisse, die sie der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh im vorstehenden Sinne zu erfahren.
27
aa) Bei der Vornahme der Prognose ist zu beachten, dass die Klägerin zu 1) als alleinerziehende Mutter und ihre Tochter, die erst siebenjährige Klägerin zu 2), der Gruppe der vulnerablen Personen zuzurechnen sind.
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Vulnerabilität ist anzunehmen, wenn die betroffene Person gegenüber erwachsenen und gesunden Personen einen deutlich anderen bzw. höheren Versorgungsbedarf aufweist und deshalb mit widrigen Umständen erheblich weniger umgehen kann und deshalb wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in Situationen extremer Not geraten wird (vgl. VGH BW, U.v. 7.7.2022 – A 4 S 3696/21 – juris Rn. 40) und orientiert sich an den Umständen des Einzelfalls. Die Auslegung und Anwendung des Begriffs der Vulnerabilität unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, nicht aber den Restriktionen des § 60a Abs. 2c AufenthG analog (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 26.10.2023 – 24 B 22.31109 – juris Rn. 27).
29
Rechtliche Orientierung bietet Art. 21 der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl Nr. L 180, S. 96 – Aufnahmerichtlinie). Die Norm selbst hat zwar eine andere Regelungsintention als Kriterien für eine Risikoabschätzung nach Art. 4 GRCh zu formulieren (vgl. hierzu Tsourdi in Thym/Hailbronner, EU Immigration and Asylum Law, 3. Ed. 2022, Art. 21 RL 2013/33/EU Rn. 1 ff.); gleichwohl liegt bei den dort genannten Personengruppen die Annahme von Vulnerabilität auch im Sinne von Art. 4 GRCh besonders nahe (vgl. SächsOVG, U.v. 15.3.2022 – 4 A 506/19.A – juris Rn. 61; vgl. OVG Bremen, B.v. 12.8.2021 – 1 LA 328/21 – juris Rn. 8). Entsprechendes ergibt sich aus Art. 20 Abs. 3 und – die Einzelfallprüfung betonend – Abs. 4 Anerkennungsrichtlinie (hierzu auch VGH BW, B.v. 13.10.2022 – A 4 S 2182/22 – juris Rn. 6). Auch weist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) darauf hin, dass Kinder wegen ihres Alters und ihrer Abhängigkeit besondere Bedürfnisse haben und die Kinderkonvention der Vereinten Nationen die Staaten zu angemessenen Maßnahmen verpflichtet, damit ein Kind, das sich um einen Flüchtlingsstatus bemüht, Schutz und menschliche Hilfe erhält, einerlei, ob es allein oder von seinen Eltern begleitet ist. Folglich sind gerade Kinder aufgrund ihres Alters und ihrer Abhängigkeit, aber auch ihres Status als Schutzsuchende „extrem verwundbar“ (EGMR, U.v. 4.11.2014 – Tarakhel/Schweiz – Nr. 29217/12 – NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 99, 119).
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Die Klägerin zu 1) als alleinerziehende Mutter und die siebenjährige Klägerin zu 2) sind der Gruppe der vulnerablen Personen zuzurechnen. Aufgrund des deutlich anderen Versorgungsbedarfs einer alleinerziehenden Mutter mit ihrer noch jungen Tochter ist davon auszugehen, dass die Klägerinnen als Lebensgemeinschaft wesentlich schneller unabhängig vom eigenen Willen in eine Art. 4 GRCh widersprechende Situation extremer Not geraten können. Dies gilt umso mehr, als die Klägerin zu 1) nun schwanger ist. Auch in Italien gelten alleinstehende Eltern mit minderjährigen Kindern als vulnerabel (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 27.7.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 5). Für diese Personengruppe (zu der u.a. auch Hochschwangere und erheblich kranke oder behinderte Menschen gehören) sind daher bereits besondere Verfahrensgarantien vorgesehen („special procedural guarantees“, siehe auch AIDA, Country Report: Italy, Stand Mai 2022, S. 100 und S. 164: besondere Anforderungen an die Aufnahmebedingungen).
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bb) Vor dem Hintergrund bestehender besonderer Überstellungsmodalitäten bei vulnerablen Schutzberechtigten ist bei einer Rückkehr der Klägerinnen nach Italien nicht mit einer mit Art. 4 GRCh unvereinbaren Lage auszugehen.
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Vulnerable Schutzberechtigte können grundsätzlich über die gesetzlich vorgesehenen sechs Monate Aufenthalt in den SAI-Unterkünften hinaus weitere sechs, unter Umständen sogar bis zu weitere zwölf Monate, verbleiben (vgl. AIDA, Country Report: Italy, Stand: Mai 2022, S. 236f.). Darüber hinaus lässt sich den Erkenntnismitteln entnehmen, dass in den durch nichtstaatliche Hilfsorganisationen, Kirchen und privaten Initiativen zur Verfügung gestellten Schlafplätzen und betriebenen Notunterkünften gerade Familien mit kleinen Kindern bessere Chancen haben, untergebracht zu werden und gewisse Projekte nur für Frauen und Kinder zugänglich sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe und Pro Asyl, 29.10.2020, Auskunft an VGH Kassel, S. 7).
33
Der Senat geht hinsichtlich alleinstehender anerkannt Schutzberechtigter, die keinen Anspruch auf behördliche Unterbringung im Zweitaufnahmesystem „Sistema Asilo Integrazione“ (SAI) mehr haben, davon aus, dass ihnen aufgrund der schwierigen Verhältnisse am italienischen Wohnungsmarkt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zumindest vorübergehend Obdachlosigkeit droht. Wegen des bestehenden Angebots an Notunterkünften und vorübergehenden Schlafplätzen, die in ganz Italien von Nichtregierungsorganisationen, Freiwilligenorganisationen und Kirchen zur Verfügung gestellt werden und deren eigenverantwortliche Inanspruchnahme ihnen auch zumutbar ist, ist aber nicht davon auszugehen, dass sich alleinstehende arbeitsfähige anerkannt Schutzberechtigte mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit in einer menschenrechtswidrigen Lage wiederfinden (vgl. BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954; U.v. 3.8.2023 – 24 B 22.30821; U.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953; U.v. 11.10.2023 – 24 B 23.30525 – alle veröffentlicht in juris). Angesichts der besonderen Vulnerabilität von insbesondere kleine(re) n Kindern und der daraus folgenden erhöhten Schutzbedürftigkeit können Familien, die keinen Anspruch auf behördliche Unterbringung mehr haben, für den Fall ihrer Rückkehr nach Italien jedoch nicht wie alleinstehende erwachsene Schutzberechtigte auf die allgemeine Unterkunftssituation in Italien verwiesen werden. Denn die erhöhte Schutzbedürftigkeit von kleineren Kindern sowie deren Abhängigkeit von ihren Eltern führt zu einer schneller erreichbaren Erheblichkeitsschwelle, sodass ein pauschaler Verweis von Familien bzw. alleinstehenden Elternteilen mit – jedenfalls sehr jungen – Kindern auf (u.U. tageweise) wechselnde Schlafstätten und damit einhergehend erforderlicher hoher örtlicher Flexibilität mit hohem Unsicherheitsfaktor im Gegensatz zu gesunden, alleinstehenden Personen regelmäßig unzumutbar sein wird, zumal in Italien bis zum Alter von 16 Jahren, unabhängig vom rechtlichen Status, eine allgemeine Schulpflicht besteht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 27.7.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 7).
34
Dies führt aber dennoch nicht zu einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Art. 4 GRCh entgegenstehenden Behandlung, da ausweislich der Erkenntnismittel gerade hinsichtlich der vulnerablen Schutzberechtigten eine besondere Rückführungspraxis herrscht, die im Ergebnis dazu führt, dass den Betroffenen bei einer Rückkehr nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine Obdachlosigkeit droht. Demnach wird bei vulnerablen Personen erst eine Unterkunft gesucht, die Zustimmung Italiens für eine Rückübernahme erfolgt nur unter dem Vorbehalt, dass eine geeignete Unterkunft gefunden wird, sodass bei vulnerablen Rückkehrern die Unterkunft bereits bei der Ankunft sichergestellt ist (BAMF, Auskunft vom 4.2.2022, S. 2 unten). Das Fortbestehen dieser Praxis wurde nicht nur in der mündlichen Verhandlung von der Vertreterin der Beklagten bestätigt, sondern ergibt sich auch aus der im Verfahren vorgelegten Auskunft des Bundesamtes an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein vom 4. Dezember 2023 (s. dort S. 6: „Italien verweigert die Rückübernahme schutzberechtigter Familien bis ein geeigneter Platz gefunden ist.“). Diese Praxis spiegelt sich im Übrigen auch darin wider, dass es weder Berichte über eine erhebliche Zahl an obdachlosen Kindern in Italien gibt noch sich hierfür Anhaltspunkte in der statistischen Erfassung finden lassen: Bei einer Einwohnerzahl von ca. 59 Mio. Einwohner waren zum Stichtag 31. Dezember 2021 96.197 Personen in Italien obdachlos, von denen 38% ausländische Bürger waren, wobei hier nicht bekannt ist, wie viele von ihnen einen Schutzstatus haben (BAMF, Auskunft an OVG SH vom 4.12.2023, S. 4). Nachdem es sich bei der geschilderten Vorgehensweise um die gängige Rückführungspraxis handelt, stellt dies auch keine Zusicherung im Einzelfall dar, die von der Beklagten – ggf. schon vor Erlass der Entscheidung – einzuholen wäre.
35
cc) Außerdem ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Klägerinnen nach ihrer Rückkehr nach Italien einen Anspruch auf Unterbringung im Rahmen des SAI-Systems haben werden, obwohl sie in der Vergangenheit bereits dort untergebracht waren. Denn durch die Schwangerschaft der Klägerin zu 1) und das zu erwartende zweite Kind wurde eine neue Vulnerabilität geschaffen, aufgrund derer die Klägerinnen erneut und für die Dauer von zwölf Monaten dort eine Unterkunft finden werden.
36
Zwar erhalten Personen, die bereits früher Zugang zu einem Projekt im Rahmen des SAI-Systems (zuvor: SIPROIMI) hatten, bei einer späteren Rückkehr nach Italien grundsätzlich keinen (erneuten) Zugang mehr. Ausnahmsweise aber können anerkannt Schutzberechtigte beim italienischen Innenministerium einen erneuten Antrag auf Unterbringung stellen, wenn sie aus nunmehr eingetretenen Gründen (erneut) als besonders verletzlich anzusehen sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Januar 2020, Aufnahmebedingungen in Italien, S. 61; weitere Fortgeltung auch nach dem Systemwechsel von SIPROIMI zu SAI: Schweizerische Flüchtlingshilfe, 17.5.2021, Auskunft an OVG NW, S. 2). Die Geburt eines weiteren Kindes begründet eine neue besondere Verletzlichkeit. Die Anträge für die Unterbringung in einem SAI-Projekt müssen an die Zentralverwaltung, den sog. Servizio Centrale, gerichtet werden. Die Anträge mit dem entsprechenden Formular können nicht von den Betroffenen selbst ausgefüllt werden, sie erreichen den Servizio Centrale über das Innenministerium oder die zuständige Präfektur; in gewissen Fällen auch über Rechtsanwälte (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 29.4.2022, Auskunft an das VG Karlsruhe, S. 3). Ausweislich der aktuellen Erkenntnisse der Beklagten dürfte ein solcher Antrag Aussicht auf Erfolg haben, da offenbar ausreichend Plätze vorhanden sind: Mit Stand August 2023 wurden 43.449 Aufnahmeplätze im SAI-Netzwerk finanziert und zum 15.11.2023 waren (nur) 34.689 Plätze in den SAI-Projekten besetzt. Der Entwurf des italienischen Haushalts 2024 sieht zusätzliche Mittel für Aufnahmezentren vor (vgl. BAMF, Auskunft an OVG SH vom 4.12.2023, S. 6); den am 16. Oktober 2023 vom Ministerrat beschlossenen Entwurf hat das italienische Parlament zum Jahresende 2023 verabschiedet.
37
Es ist den Klägerinnen auch zuzumuten, dass sie sich bereits von Deutschland aus ggf. unter Zuhilfenahme von rechtlichem Beistand oder über eine grenzüberschreitend tätige Nichtregierungsorganisation um eine entsprechende Antragstellung bemühen. Damit ist die Unterbringung und Versorgung der Klägerinnen für den ersten Zeitraum von zwölf Monaten zur Überzeugung des Senats sichergestellt und auch im weiteren Anschluss ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerinnen obdachlos werden. Denn beim Auszug aus dem SAI-Projekt können die Schutzberechtigten bei Bedarf die Kosten für Makler, Vertragsregistrierung, erste Monatsmiete und Hausgeld erhalten; auch für die erste Möblierung der Wohnung kann es eine Unterstützung von bis zu 2.000 EUR geben (BAMF, Auskunft an OVG SH vom 4.12.2023, S. 4). Die SAI-Einrichtungen helfen den Schutzberechtigten ggf. eine vorübergehende Wohnung zu finden, damit sie nach dem Ausscheiden aus der Unterkunft ein Obdach haben (BAMF, Auskunft an OVG SH vom 4.12.2023, S. 4). Anerkannt Schutzberechtigte erhalten demnach vor dem Ausscheiden aus dem SAI-Projekt Unterstützung bei der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten und einer Wohnung; Personen, die ausscheiden, ohne dass man ihre weiteren Ziele kennt, erhalten pro Kopf 250,00 EUR, welche die Kosten für Reise, Unterkunft und Verpflegung in den ersten Tagen abdecken sollen.
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dd) Im Hinblick auf die für Art. 4 GRCh ebenfalls maßgebliche Bewertung der Existenzsicherung ist davon auszugehen, dass anerkannt Schutzberechtigte trotz einer schwierigen wirtschaftlichen Situation eine Erwerbstätigkeit aufnehmen und so für ihren Lebensunterhalt (mit) sorgen können.
39
Der Senat geht in seiner Rechtsprechung davon aus, dass anerkannt Schutzberechtigte in Italien denselben Zugang zum Arbeitsmarkt haben wie Inländer und nachdem der italienische Arbeitsmarkt aus demografischen Gründen auf Migration angewiesen ist, in der Lage sein werden, eine Erwerbstätigkeit zu finden und mittels dieser ihren Lebensunterhalt zu sichern, auch wenn es sich hierbei – zumindest anfänglich – eher um eine geringqualifizierte oder auch informelle Tätigkeit handeln dürfte. Demnach ist grundsätzlich – gerade im Hinblick auf etwaigen Betreuungsbedarf der Klägerin zu 2) – auch eine Teilzeittätigkeit möglich (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954; U.v. 3.8.2023 – 24 B 22.30821; U.v. 27.9.2023 – 24 B 22.30953; U.v. 11.10.2023 – 24 B 23.30525 – alle veröffentlicht in juris).
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Anerkannt Schutzberechtigte haben denselben Anspruch auf Zugang zum italienischen Sozialsystem wie italienische Staatsbürger (AIDA, Country Report: Italy, Stand: 2022, S. 243), auch wenn das italienische Sozialsystem nur schwach ausgeprägt ist und sich auf traditionelle Familienstrukturen, die Flüchtlingen meist nicht zur Verfügung stehen, stützt.
41
Die Klägerin zu 1) ist gesund und arbeitsfähig. Zwar ist sie alleinerziehend und zum zweiten Mal schwanger, sodass ihr aufgrund des Betreuungsbedarfs zumindest anfänglich keine berufliche Tätigkeit zugemutet werden kann. Nachdem die Klägerinnen jedoch für mindestens zwölf Monate in einem SAI-Projekt unterkommen können (vgl. oben Rn. 35), geht der Senat davon aus, dass die Klägerinnen zur Existenzsicherung daher zunächst nicht auf eine berufliche Tätigkeit der Klägerin zu 1) angewiesen sein werden.
42
Darüber hinaus gibt es in Italien noch andere finanzielle Unterstützungsleistungen für Familien mit Kindern, die auch anerkannt Schutzberechtigten zugänglich sind. Die Sozialleistungen für Familien wurden zum März 2022 durch das sogenannte „assegno unico“ (Kindergeld) abgelöst. Dieses Kindergeld wird ab Geburt bis zum 18. Lebensjahr monatlich auf Antrag gezahlt und kann über die Einkommensberatungsstellen oder die Sozialberatungsstellen (Patronato) beantragt werden. Die Höhe richtet sich nach dem Familieneinkommen und der Anzahl der Kinder und kann bis zu 175,00 Euro pro Kind betragen. Auch für Kinder bis zum 21. Lebensjahr, die sich in der Ausbildung befinden, gibt es diese Regelung, und sie gilt auch für Drittstaatsangehörige mit einem gültigen Aufenthaltstitel von mindestens sechs Monaten. Zudem gibt es kommunale Beihilfen für arbeitslose Mütter (Assegno di maternità die comuni). Der Betrag wird jedes Jahr anhand des Verbraucherpreisindexes des Istituto Nazionale di Statistica (ISTAT) berechnet. Für das Jahr 2020 sind die Beträge auf 348,12 Euro für fünf Monate (Gesamtbetrag: 1.740,60 Euro) festgelegt (Auskunft BAMF an OVG Sachsen v. 4.2.2022 (Zusatzfragen), S. 7). Laut der aktuellen Auskunft der Beklagten vom 4. Dezember 2023 betrugen die kommunalen Beihilfen für arbeitslose Mütter für das Jahr 2023 383,46 EUR für fünf Monate (Gesamtbetrag 1.917,30 EUR). Das Kindergeld, welches ab Geburt bis zum 18. Lebensjahr monatlich auf Antrag bezahlt wird, kann abhängig vom Einkommen bis zu 175,00 EUR pro Kind betragen; die Summe kann bei mehreren Kindern auch auf 350 EUR pro Kind ansteigen (vgl. BAMF, Auskunft an OVG SH, 4.12.2023, S. 5).
43
Zutreffend weisen die Klägerinnen darauf hin, dass der Babybonus („bonus bebè“) zwischenzeitlich abgeschafft wurde. Er wurde ab März 2022 vom eben genannten „assegno unico“ abgelöst. Soweit die Klägerinnen aber monieren, sie würden die Zugangsvoraussetzungen für das (neue) Kindergeld nicht erfüllen, widerspricht dies den dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln, insbesondere auch der jüngsten Auskunft der Beklagten vom 4. Dezember 2023 an das Oberverwaltungsgericht Schleswig-Holstein. Die Klägerinnen konnten nicht substantiiert darlegen, dass diese Auskunft der Beklagten unzutreffend ist. Insbesondere vermag der Verweis der Klägerinnen auf die Homepage der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol und die dortigen Ausführungen die Zuverlässigkeit dieses Erkenntnismittels nicht zu erschüttern. Denn weder ergibt sich aus dem Vorbringen der Klägerinnen noch dem genannten Internetauftritt selbst, dass die dortigen Ausführungen überhaupt auf Flüchtlinge bzw. anerkannt Schutzberechtigte Anwendung finden, da sie unter der Kategorie „Finanzielle Unterstützung für Familien in Südtirol“ gelistet sind. Darüber hinaus ist weder ersichtlich noch dargelegt, dass die dort genannte Aufzählung der Anspruchsberechtigten eine abschließende wäre oder allgemeine Geltung für ganz Italien beansprucht.
44
II. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch hinsichtlich seiner Nummer 2 rechtmäßig. Nationale Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG) i.d.F. d. Bek. vom 25. Februar 2008 (BGBl I S. 162), zuletzt geändert durch das Gesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54), bestehen nicht. In der Person der Klägerinnen liegen keine Gründe vor, die zu einer von der allgemeinen Lage für nach Italien zurückkehrende international Schutzberechtigte abweichenden Beurteilung führen und ihrer Abschiebung nach Italien entgegenstehen könnten.
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1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der im deutschen Recht im Rang eines Bundesgesetzes geltenden Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dieses nationale Abschiebungsverbot erfasst nicht nur Gefahren für Leib und Leben, die von einem asylrechtlich relevanten Akteur ausgehen, sondern auch, wenn sie aus zu erwartenden Lebensverhältnisse resultieren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts umfasst der Verweis des § 60 Abs. 5 AufenthG auf die Konvention aus (gesetzes-)systematischen Gründen inhaltlich allerdings lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, die dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen, nicht jedoch inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 35; BVerwG, U.v. 11.11.1997 – 9 C 13.96 – juris Rn. 9 ff.). Mit Blick auf den Zweck der Konvention, grundsätzlich Rechte und Freiheiten innerhalb des eigenen Machtbereichs der Vertragsstaaten selbst zu sichern (vgl. BVerwG, U.v. 24.5.2000 – 9 C 34.99 – juris Rn. 8), kommt als ein solches zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis meist nur die Gefahr der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK in Betracht. Es ist geklärt, dass die im Zielstaat drohende Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen müssen (vgl. EGMR (GK), U.v. 13.12.2016 – Paposhvili/Belgien, Nr. 41738/10, NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/16 PPU – NVwZ 2017, 691 Rn. 68).
46
Bei der Prüfung, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung als Folge schlechter Lebens- und Rückkehrbedingungen droht und deshalb ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht, kommt es maßgeblich darauf an, wie sich die – bei der oben durchgeführten Prüfung der Unzulässigkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – allgemein festgestellten Aufnahmebedingungen im Lichte der jeweils individuellen Umstände und persönlichen Besonderheiten bei den konkreten Klägerinnen (im Falle ihrer Rückkehr) auswirken werden (vgl. auch BayVGH, U.v. 25.5.2023 – 24 B 22.30954 – juris Rn. 45). Denn die Frage nach einem nationalen Abschiebungsverbot kann nicht allein aufgrund der Umstände in einem Mitgliedstaat, sondern nur in der Auswirkung dieser Umstände auf den konkret Betroffenen beurteilt werden. Es bedarf insoweit einer umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11).
47
Unter Anlegung dieser Maßstäbe ist nicht davon auszugehen, dass die Klägerinnen im Falle einer Rückkehr nach Italien Gefahr laufen, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Es ist weder ersichtlich noch wurde vorgetragen, dass bei den Klägerinnen besondere individuelle Umstände bestehen, die in ihrem konkreten Fall dazu führen, dass abweichend von den allgemeinen Feststellungen eine Verletzung von Art. 3 EMRK hinreichend wahrscheinlich erscheint. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die Klägerinnen von der oben zugrunde gelegten durchschnittlichen Gruppe von Familien bzw. alleinstehenden Elternteilen mit minderjährigen Kindern in einer Weise abweichen, die eine abweichende individuelle Betrachtung erfordern würden, zumal die Klägerin zu 1) während ihres vorherigen Aufenthalts in Italien (zumindest in Grundzügen) die Sprache gelernt und dort eine Ausbildung gemacht hat. Außerdem haben die Klägerinnen vorliegend bei ihrer Rückkehr einen Anspruch auf Unterbringung im Rahmen des SAI-Systems.
48
2. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, die ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG rechtfertigen könnten, insbesondere rechtfertigt die Schwangerschaft der Klägerin zu 1) kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot.
49
Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Erforderlich, aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen dieser Vorschrift ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib und Leben alsbald nach der Rückkehr des Ausländers führt (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.2012 – 1 C 3.11 – juris Rn. 34).
50
Demnach kann hier nicht von einem zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernis ausgegangen werden. Auch wenn eine Schwangerschaft stets mit gewissen Risiken verbunden ist, ist weder ersichtlich noch dargelegt, dass es sich vorliegend um eine Risikoschwangerschaft im medizinischen Sinne handeln könnte. Die Klägerin zu 1) ist eine gesunde, junge Frau und hat auf Nachfrage in der mündlichen Verhandlung bestätigt, dass es ihr gut gehe.
51
Lediglich der Vollständigkeit halber ist ergänzend darauf hinzuweisen, dass anerkannt Schutzberechtigte in Italien verpflichtet sind, sich – wie italienische Staatsbürger – beim italienischen nationalen Gesundheitsdienst zu registrieren und aufgrund dessen zu folgenden Leistungen berechtigt sind: freie Wahl eines Hausarztes bzw. Kinderarztes (kostenlose Arztbesuche, Hausbesuche, Rezepte, usw.); Geburtshilfe und gynäkologische Betreuung bei der Familienberatung (consultorio familiare) ohne allgemeinärztliche Überweisung; kostenlose Aufenthalte in öffentlichen Krankenhäusern. Das Recht auf medizinische Versorgung erlischt nicht im Rahmen der Erneuerung der Aufenthaltserlaubnis (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, 27.7.2023, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, S. 13).
52
III. Die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 Satz 1 bis 3 des Bescheids ist rechtmäßig und verletzt die Klägerinnen nicht in ihren Rechten. Sie verstößt nicht gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F..
53
1. Durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54) hat der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union reagiert, wonach die bisherigen Regelungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung teilweise nicht den Anforderungen der RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) genügten (vgl. EuGH, B.v. 15.2.2023 – C-484/22 – juris Rn. 23 ff.). Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt nunmehr nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. auch voraus, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Damit werden die Anforderungen des Art. 5 Rückführungsrichtlinie in das nationale Recht übernommen, der verlangt, dass bei Erlass einer Rückkehrentscheidung die dort genannten Belange gebührend berücksichtigt werden (vgl. EuGH, U.v. 14.1.2021 – C-441/19 – juris Rn. 60; EuGH, U.v. 8.5. 2018 – C-82/16 – juris Rn. 102; EuGH, U.v. 11.12.2014 – C-249/13 – juris Rn. 48).
54
Der Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, dass nicht nur die Androhung der Abschiebung in einen Drittstaat (vgl. hierzu BVerwG, B.v. 6.5.2020 – 1 C 14.19 – juris Rn. 14; BVerwG, EuGH-Vorlage vom 9.5.2019 – 1 C 14.19 – juris Rn. 30), sondern auch in einen Mitgliedstaat eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie darstellt. Diese Annahme trifft zu (ebenso – noch vor Erlass des Rückführungsverbesserungsgesetzes – OVG SH, U.v. 22.6.2023 – 4 LB 6/22 – juris Rn. 97; offen gelassen OVG LSA, B.v. 11.9.2023 – 2 L 38/20 – juris Rn. 59 ff. m.w.N; anders hingegen SächsOVG, U.v. 7.9.2022 – 5 A 153/17.A – juris Rn. 61; wohl auch Kluth in Kluth/Hornung/Koch, Handbuch Zuwanderungsrecht, § 5 Rn. 9). Zwar erfasst Art. 3 Nr. 4 Rückführungsrichtlinie nur Entscheidungen, die gerade keinen Mitgliedstaat betreffen. Allerdings erklärt Art. 6 Abs. 2 Satz 2 a.E. Rückführungsrichtlinie Absatz 1 der Norm für anwendbar gegenüber Drittstaatsangehörigen, die – wie die Klägerinnen infolge ihrer Schutzgewährung durch Italien – Inhaber einer für dort gültigen Aufenthaltsberechtigung sind. Insoweit erweitert Art. 6 Abs. 2 Satz 2 a.E. Rückführungsrichtlinie die Legaldefinition des Art. 3 Nr. 4 Rückführungsrichtlinie. Dieses Verständnis einer Rückkehrentscheidung legt schließlich auch Art. 21 Rückführungsrichtlinie nahe, denn damit wurden die speziellen Regelungen in Art. 23 und 24 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. Juni 1990 (ABl 2000 Nr. L 239 S. 19), zuletzt geändert durch Verordnung vom 22.11.2023 (ABl Nr. L 2667 S. 1) – Schengener Durchführungsübereinkommen – ersetzt und Abschiebungen vollständig durch die Rückführungsrichtlinie geregelt.
55
Vor diesem Hintergrund ist die Norm im Lichte des Art. 5 Rückführungsrichtlinie und der hierzu ergangenen Rechtsprechung auszulegen; auch für die Anwendung des Art. 6 GG ist Raum.
56
Die Betroffenheit der in § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG genannten Belange und ihr Gewicht hat das Bundesamt als nach § 35 AsylG für die Abschiebungsandrohung zuständige Behörde beim Erlass der Androhung zu prüfen. Im Rahmen der Kontrolle haben die Verwaltungsgerichte im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Entscheidung nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG das Vorliegen von (möglicherweise auch erst nach Erlass der Androhung entstandenen) Belangen zu prüfen und eine eigene Abwägung vorzunehmen. Insoweit müssen die Gerichte „durchentscheiden“. Es kommt hingegen nicht in Betracht, die Abschiebungsandrohung wegen Ermessensausfall allein deshalb aufzuheben, weil das Bundesamt in seinem Bescheid gar keine Prüfung der Belange vorgenommen hat (in diese Richtung noch vor Änderung des § 34 AsylG durch das Rückführungsverbesserungsgesetz im Rahmen der unionsrechtskonformen Auslegung OVG Bremen, B.v. 9.6.2023 – 2 B 19/23 – juris Rn. 41; VG Hannover, U.v. 10.11.2023 – 13 A 108/22 – Rn. 45, juris; anders VG SH, U.v. 3.5.2023 – 7 A 285/22 – juris Rn. 13).
57
2. Die vorliegend zu berücksichtigenden Aspekte stehen einer Abschiebungsandrohung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht entgegen. Das Wohl der minderjährigen Klägerin zu 2) und des noch ungeborenen Kindes (a) stehen der Androhung ebenso wenig entgegen wie die Beziehungen der von der Abschiebungsandrohung betroffenen Personen zu- und untereinander und die Interessen des ungeborenen Kindes an einer Verbindung zu seinem Vater (b). Gleiches gilt für den gesundheitlichen Zustand der schwangeren Klägerin zu 1) (c).
58
a) Hinsichtlich der minderjährigen Klägerin zu 2) sind Belange des Kindeswohls im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 1 AsylG n.F. bzw. Art. 5 Buchst. a Rückführungsrichtlinie, die sich nicht als familiäre Belange von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG darstellen (hierzu unter Rn. 65), nicht ersichtlich und stehen daher dem Erlass der Abschiebungsandrohung von vornherein nicht entgegen.
59
Das noch ungeborenen Kind („nasciturus“) und seine Interessen werden von der Vorschrift nicht erfasst. Abgesehen davon, dass es zweifelhaft ist, ob das Unionsrecht, insbesondere die Grundrechtecharta, das werdende Leben überhaupt eigenständig schützt (vgl. Calliess in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 2 Rn. 6 ff.; Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021 Rn. 6 m.w.N.), machen jedenfalls der Regelungszusammenhang der Rückführungsrichtlinie mit Art. 24 Abs. 2 GRCh (vgl. EuGH, U.v. 15.2.2023 – C-484/22 – Rn. 24) und die Binnensystematik der Richtlinie (vgl. deren Art. 7 Abs. 2, Art. 10 und Art. 17 Abs. 5) deutlich, dass Art. 5 Buchst. a Rückführungsrichtlinie und damit auch der seiner Umsetzung dienende § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 1 AsylG n.F. den nasciturus nicht als Kind ansieht. Auch aus der Perspektive des Art. 6 GG ergibt sich nichts Anderes. Familie ist die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft von Eltern und Kindern (Badura in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: August 2023, Art. 6 Rn. 60; Uhle in Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Stand: 15.1.2024, Art. 6 Rn. 14 m.w.N.). Das setzt die Geburt voraus (vgl. BVerfG, B.v. 18.4.1989 – 2 BvR 1169/84 -juris Rn. 29).
60
b) Die bestehende tatsächliche Beziehung zwischen den Klägerinnen, insbesondere der Klägerin zu 1), und dem künftigen Kindsvater stellen keine familiäre Bindung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG dar und stehen dem Erlass der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Das gilt im Ergebnis auch für das Verhältnis zwischen ungeborenem Kind und seinem Vater.
61
aa) Familiäre Bindungen im Sinne dieser Vorschrift können – wie bei Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK – auch Beziehungen unter Erwachsenen ohne Kinder sein (vgl. EGMR, U.v. 24.6.2010 − Schalk u. Kopf/Österreich – Nr. 30141/04 – NJW 2011, 1421/1425 Rn. 94; EGMR, U.v. 3.4.2012 – van der Heijden/Niederlande – Nr. 42857/05 – NJW 2014, 39/40 Rn. 50). Auf eine Eheschließung kommt es dabei ebenfalls nicht an. Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK stellen vielmehr auf ein tatsächlich bestehendes Familienleben ab und unterscheiden nicht zwischen einer ehelichen und nichtehelichen Familie. Entscheidend ist, dass die Partner konstante enge persönliche Beziehung haben (vgl. EGMR (GK), U.v. 24.1.2017 – Paradiso u. Campanelli/Italien – Nr. 25358/12 – NJW 2017, 941 Rn. 140; EGMR, U.v.12.7.2001 – K.u.T./Finnland, Nr. 25702/94 – NJW 2003, 809 f.; EGMR, U.v. 13.6.1979 – Marckx/Belgien – Nr. 6833/74 – BeckRS 1979, 108523). Der Begriff der Familie ist damit in erster Linie lebensbestimmt und nicht rechtsbestimmt (Hofmann in BeckOK AuslR, Stand 1.7.2022, EMRK Art. 8 Rn. 16). Gleiches gilt für die Schutzwirkungen des Art. 6 GG, auch hier ist die tatsächliche Verbundenheit der Familienmitglieder entscheidend (vgl. BVerfG, B.v. 24.6.2014 – 1 BvR 2926/13 – juris Rn. 22 f.), wobei der grundgesetzliche Familienbegriff nach wohl überwiegendem Verständnis kinderlose Paarbeziehungen nicht erfasst (vgl. Heiderhoff in von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 76; Jarass in Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Art. 6 Rn. 8, jeweils m.w.N.).
62
Liegt nach diesem Maßstab eine Familie vor und bestehen familiäre Bindungen im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG n.F., die von einer Abschiebungsandrohung betroffen werden, so sind für die Frage, ob sie der Androhung entgegenstehen, die Bindungen – wie es Art. 5 Rückführungsrichtlinie formuliert – in gebührender Weise zu berücksichtigen. Notwendig ist insoweit eine Abwägung der für die Abschiebungsandrohung sprechenden Belange mit dem tatsächlichen und normativen Gewicht der familiären Belange im konkreten Einzelfall. Im Rahmen dieser Würdigung können die Grundsätze und Wertungsgesichtspunkte der ausländerrechtlichen Rechtsprechung herangezogen werden, die im Zusammenhang mit der Prüfung aufenthaltsrechtlicher Entscheidungen, entwickelt wurden. Die Fallgestaltungen und die grundrechtlichen Wertungen sind insoweit grundsätzlich vergleichbar. Normativ ist insoweit insbesondere Art. 7 GRCh i.V.m. Art. 8 EMRK (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh) und Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG entscheidend. Zwar gewähren diese grundrechtlichen Garantien dem Ausländer keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt im Bundesgebiet, sie verpflichten aber dennoch die Behörden und Gerichte, bei entsprechenden Entscheidung die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333.21 – juris Rn. 45; B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – juris Rn. 26 m.w.N.; BVerwG, U.v. 8.12.2022 – 1 C 8.21 – juris Rn. 20 m.w.N.). Soweit Kinder Teil der familiären Bindung sind, ist zudem Art. 24 GRCh zu beachten. Ausdrücklich misst Art. 24 Abs. 3 GRCh regelmäßigen persönlichen Beziehungen und direkten Kontakten von Kindern zu ihren Elternteilen – das meint das unmittelbare Zusammensein, aber auch andere direkte Kontakte (vgl. Jarass, GRCh, 4. Aufl. 2021, Art. 24 Rn. 19 f.; s.a. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – juris Rn. 58) – große Bedeutung bei (vgl. BVerwG, B.v. 21.1.2020 – 1 B 65.19 – juris Rn. 6 m.w.N.).
63
Bei der vorzunehmenden Abwägung ist zu beurteilen, ob die festgestellten Beeinträchtigungen der familiären Bindungen in einem angemessenen Verhältnis zu den asyl- und einwanderungspolitischen Belangen, Sicherheits- oder sonstigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland stehen, denen durch die Abschiebungsandrohung Rechnung getragen werden soll, und sie deshalb zurückstehen können. So sind beispielsweise die Interessen eines betroffenen Ehepartners zu würdigen (vgl. BVerfG, B.v. 18.7.1973 – 1 BvR 23/73 – juris Rn. 69) oder zu beurteilen, ob erwartbare Trennungsphasen einem Kind oder dem Elternteil zugemutet werden können (vgl. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 46). Von Relevanz ist auch, ob, wann und in welchem Umfang es den anderen Familienangehörigen möglich und zumutbar ist, den Adressaten der Abschiebungsandrohung ins Ausland zu begleiten. Dies wird umso eher anzunehmen sein, je weniger der Aufenthalt des Kindes und des anderen Elternteils im Bundesgebiet gesichert ist und je weiter die Möglichkeiten der Familie reichen, ihre schutzwürdige Gemeinschaft nach der Ausreise aus dem Bundesgebiet an einem anderen Ort fortzuführen (vgl. zum Ganzen etwa VGH BW, B.v. 4.7.2023 – 11 S 448/23 – juris Rn. 12; BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 15.12 – juris Rn. 17).
64
bb) Vorliegend kann die zwischen der Klägerin zu 1) und dem künftigen Kindsvater gebildete Beziehung noch nicht als familiäre Bindung eingeordnet werden. Es fehlt sowohl für sich betrachtet als auch unter Berücksichtigung der gemeinsamen Elternschaft am Bestand einer Familie. Es ist bereits weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, dass die Klägerin zu 1) mit dem künftigen Kindsvater eine ausreichend konstante enge und persönliche Bindung aufgebaut hat, die für den Familienbegriff konstitutiv ist. Die Klägerin zu 1) hat den Vater ihres ungeborenen Kindes, der in der Nähe von Stuttgart lebt, im Juni 2023 kennengelernt. Aufgrund der Entfernung hatten sie sich seitdem ungefähr einmal im Monat persönlich getroffen und hatten ansonsten telefonisch Kontakt. Nach Angaben der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung hatte ihr neuer Freund bereits einen Umverteilungsantrag gestellt, da sie davon ausgeht, dass sie mit dem zweiten Kind in Zukunft seine Hilfe brauchen würde. Zuletzt hat die Klägerin mitgeteilt, dass sie zum Vater des künftigen Kindes gezogen ist und eine neue Meldeadresse mitgeteilt. Eine vom Senat eingeholte Melderegisterauskunft bestätigt die seit dem 5. Februar 2024 identische Anschrift der Klägerinnen und des künftigen Kindsvaters. Jedoch befindet sich unter der neuen Anschrift nach Recherchen des Senats ein Hotel, welches vorübergehend geschlossen ist, sodass davon auszugehen ist, dass es sich hierbei um eine von der Kommune angemietete Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge handelt. Die Unterkunftsmodalitäten in einem Hotelgebäude sind jedoch vielfältig. Inwieweit die Klägerin zu 1) zusammen mit dem künftigen Kindsvater nunmehr eine tatsächliche familiäre Lebensgemeinschaft führt, wurde nicht weiter ausgeführt. Zu berücksichtigen ist, dass die Beziehung insgesamt noch sehr jung ist und nach eigener Einschätzung der Klägerin zu 1) der künftige Kindsvater nicht mit ihr zusammen nach Italien gehen würde. Eine ausreichend verfestigte familiäre Lebensgemeinschaft kann angesichts dieser Gesamtumstände jedenfalls derzeit noch nicht angenommen werden.
65
Hinsichtlich der Klägerin zu 2) stehen ebenfalls keine familiären Belange der Abschiebungsandrohung entgegen. Der Kontakt der Klägerin zu 2) zu ihrer Mutter ist durch die Androhung nicht berührt, weil beide Adressatinnen der Abschiebungsandrohung sind. Die bestehende Familie ist insoweit nicht beeinträchtigt. Im Verhältnis zum neuen Freund ihrer Mutter ist schon nicht vorgebracht, dass sie überhaupt irgendeine Beziehung zu ihm hat. Die Abschiebungsandrohung betrifft auch nicht das Verhältnis oder die Kontaktmöglichkeiten der Klägerin zu 2) zu ihrem leiblichen Vater. Denn dieser lebt in Nigeria, insoweit wird ohnehin in der Bundesrepublik keine familiäre Bindung gelebt.
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cc) Das Verhältnis zwischen dem ungeborenen Kind und dessen Vater hindert den Erlass der Abschiebungsanordnung im Ergebnis ebenfalls nicht.
67
Der nasciturus selbst kann sich auf die familien(grund) rechtlichen Gewährleistungen der Europäischen Grundrechtecharta jedenfalls im Regelungskontext der Rückführungsrichtlinie nicht berufen (vgl. oben Rn. 59). In dieser Hinsicht und aus dieser Perspektive kann das biologische Verhältnis des ungeborenen Kindes zu seinem Vater nicht als Familie angesehen werden. Auch Art. 6 GG verlangt insoweit kein anderes Verständnis der Norm. Art. 6 Abs. 1 GG setzt ohnehin ein geborenes Kind voraus (vgl. oben Rn.59). Auch aus Art. 6 Abs. 2 GG ergibt sich nichts Anderes. Die Elternverantwortung beginnt zwar wohl bereits vor der Geburt (vgl. von Coelln in Sachs, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 6 Rn. 52; Robbers in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 155; offen BVerfG, B.v. 11.1.2017 – 1 BvR 2322/16 – juris Rn. 10 ff.), jedoch ist diesbezüglich weder das geborene noch das ungeborene Kind Grundrechtsträger, sondern allein Grundrechtsbegünstigter (vgl. Robbers in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 182).
68
Ob und unter welchen Voraussetzungen – aus Perspektive des Vaters zu seinem ungeborenen Kind – eine familiäre Bindung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG n.F. vorliegen kann (vgl. speziell zu Art. 6 GG insoweit OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 27.2.2019 – OVG 11 S 7.19 – juris Rn. 7), kann hier offen bleiben. Denn jedenfalls steht vorliegend eine etwaige familiäre Bindung der Abschiebungsandrohung nicht im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Var. 2 AsylG n.F. entgegen, auch wenn der künftige Kindsvater durch die Anerkennung der Vaterschaft, die Abgabe einer gemeinsamen Sorgeerklärung und die Herstellung räumlicher Nähe mit der Kindsmutter alles in seiner Macht Stehende getan hat, um nach der Geburt eine familiäre Bindung mit seinem Kind begründen zu können. Mit Blick auf das Gewicht der vorliegend verfolgten asyl- und einwanderungspolitischen Belange der Beklagten kommt dem Umstand erhebliche Relevanz zu, dass weder die Klägerin zu 1) noch der künftige Kindsvater über ein gesichertes Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland verfügen und in Kenntnis dieser Umstände das ungeborene Kind gezeugt haben (vgl. zur Eheschließung, BayVGH, B.v. 12.11.2020 – 10 ZB 20.2257 – juris Rn. 7 m.w.N.). Der künftige Kindsvater verfügt aktuell wohl noch über eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG, die nach § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylG erst mit Unanfechtbarkeit der Entscheidung des Bundesamts erlischt. Damit wird nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG aber nur der Aufenthalt im Bundesgebiet zur Durchführung des Asylverfahrens ermöglicht. Ein ausländerrechtlicher Familiennachzug des künftigen Kindsvaters zur Klägerin zu 1) in das Bundesgebiet oder andersherum kommt derzeit aufgrund der fehlenden Aufenthaltsrechte in Deutschland nicht in Betracht, während grundsätzlich ein Familiennachzug zu der anerkannt schutzberechtigten Klägerin zu 1) nach Italien möglich ist. Es kann bei derzeitigem Verfahrensstand auch nicht davon ausgegangen werden, dass das gemeinsame Kind nach seiner Geburt – über eine Aufenthaltsgestattung für die Durchführung eines Asylverfahrens hinaus – ein Aufenthaltsrecht für die Bundesrepublik Deutschland erwerben wird.
69
Vor diesem Hintergrund ist die Beklagte nicht verpflichtet, es der Klägerin zu 1) zu ermöglichen, das Kind in der Bundesrepublik auf die Welt zu bringen, damit der künftige Kindsvater die Möglichkeit hat, eine familiäre Bindung zu seinem Kind aufzubauen. Ungeachtet dessen bleibt die zuständige Behörde allerdings verpflichtet, die Abschiebungsandrohung bei Veränderung maßgeblicher Umstände – hier die zu erwartende Geburt des zweiten Kindes – zu überprüfen (vgl. zu Maßnahmen nach § 54a AufenthG BVerwG, U.v. 30.07.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 29; zu Ausweisungen OVG Berlin-Bbg, U.v. 19.7.2011 – OVG 12 N 40.10 – juris Rn. 4). Mit Geburt des zweiten Kindes der Klägerin zu 1) wird dessen Wohl sowie die familiären Bindungen der hiesigen Klägerinnen zu diesem Kind neu zu beurteilen sein. Der Senat weist darauf hin, dass ausweislich der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 20/9463 S. 58) bis zur rechtskräftigen Entscheidung und damit bis zum Eintritt der Bestandskraft des Bescheids die Beklagte für die Abschiebungsandrohung zuständig bleibt.
70
c) Die Schwangerschaft der Klägerin zu 1) stellt unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs eine mögliche gesundheitlich bedingte Reiseunfähigkeit i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. bzw. Art. 5 Buchst. c Rückführungsrichtlinie dar, steht jedoch dem Erlass einer Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Sowohl der (gesundheitlich begründete) vor- als auch der nachgeburtliche Mutterschutz (vgl. § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Mutterschutzgesetz) sind von solch temporärer Art, dass sie lediglich die Aufschiebung der Abschiebung i.S.v. Art. 9 Abs. 2 Rückführungsrichtlinie zu begründen vermögen (so auch VG Berlin, B.v. 2.1.2024 – 38 L 280/23 A – juris Rn. 16) und damit ein vorübergehendes Vollstreckungshindernis darstellen.
71
IV. Aufzuheben ist jedoch Nummer 4 des Bescheids, da sich das nach § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. §§ 34, 35 AsylG verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot als ermessensfehlerhaft erweist.
72
Offenkundig wurde der Umstand, dass die Klägerin zu 1) mit dem Kind eines in der Bundesrepublik Deutschland aufhältigen Mannes schwanger ist, nicht im Rahmen des von der Beklagten hinsichtlich der Befristung gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG auszuübenden Ermessens berücksichtigt. Auch wenn die Klägerin zu 1) – zumindest noch – keine schützenswerte familiäre Lebensgemeinschaft mit dem künftigen Kindsvater lebt, handelt es sich hierbei um einen zu berücksichtigenden persönlichen Belang, welcher ihr Interesse an der Wiedereinreise und einem erneuten Aufenthalt im Bundesgebiet berührt. Da auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen ist, bleibt die Behörde auch während des laufenden Verfahrens zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Befristungsentscheidung und ggf. zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen verpflichtet. Dies ist vorliegend nicht erfolgt.
73
V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, da die Aufhebung des Bescheides in seiner Nummer 4 hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots als Nebenentscheidung nur ein geringfügiges Unterliegen der Beklagten darstellt. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
74
C.
Die Revision ist nach Maßgabe des § 78 Abs. 8 Satz 1 AsylG als sogenannte „Tatsachenrevision“ zuzulassen, da der Senat im Rahmen der Überprüfung der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG in der Beurteilung der allgemeinen abschiebungsrelevanten Lage in Italien von alleinerziehenden Elternteilen bzw. Familien mit minderjährigen Kindern von deren Beurteilung durch andere Oberverwaltungsgerichte (OVG RhPf, B.v. 23.1.2024 – 13 A 10945/22; HessVGH, B.v. 11.1.2021 – 3 A 539/20.A; NdsOVG, U.v. 19.12.2019 – 10 LA 64/19; VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19; alle jeweils juris) abweicht. Darüber hinaus ist die Revision nicht zuzulassen, da Gründe nach § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.