Titel:
Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen wegen mehrfacher schwerer Drogendelikte
Normenketten:
EMRK Art. 8
ARB 1/80
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 6
AufenthG § 11 Abs. 3 S. 1, § 53 Abs. 3, § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1
StGB § 56a Abs. 1 S. 2, § 57, § 62, § 64 S. 2, § 67d Abs. 5 S. 1
Leitsätze:
1. Bei der eigenständigen Prognose der Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. VGH München BeckRS 2012, 59963 mwN). (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (stRspr, vgl. VGH München BeckRS 2021, 28901). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug nach § 57 StGB sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (BVerfG BeckRS 2021, 40836; BVerwG BeckRS 2013, 47815). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
4. Eine strafvollstreckungsrechtliche Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug und eine gefahrenabwehrrechtliche Ausweisung verfolgen unterschiedliche Zwecke und unterliegen deshalb unterschiedlichen Regeln (vgl. VGH München BeckRS 2021, 12721). (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
5. Im Falle der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen führt § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu einer Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen nach §§ 53 Abs. 1, 54, 55 AufenthG; ihnen kommt auch iRd § 53 Abs. 3 AufenthG die Bedeutung von gesetzlichen Umschreibungen spezieller Interessen mit dem jeweiligen Gewicht zu (vgl. BVerwG BeckRS 2017, 107747). (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Assoziationsberechtigter, Cannabis, Strafrest- und Maßregelvollzugsaussetzung, Wiederholungsgefahr, Bleibeinteresse, Eheschließung in Kenntnis der Ausweisung, gefahrenabwehrrechtliche Ausweisung, Prognoseentscheidung, Rückfallwahrscheinlichkeit
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 07.09.2022 – AN 5 K 22.461
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6200
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.
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Mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich der Kläger (ein am ... 1976 geborener türkischer Staatsangehöriger, der im Februar 1981 nach dem Tod seiner Mutter zu seinem als Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Vater nachzog, seit dem 2.2.1993 <bis zum Wirksamwerden der Ausweisung> im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis war, am ... 2012 eine deutsche Staatsangehörige heiratete und Vater von zwei 2013 und 2015 geborenen gemeinsamen Kindern mit deutscher und türkischer Staatsangehörigkeit wurde <die Ehe wurde im Jahr 2018 geschieden> und der Vater eines am ... 2019 geborenen deutschen Staatsangehörigen ist, mit dessen Mutter er seit ... 2023 verheiratet ist) gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 7. September 2022, durch das seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 26. Januar 2022 abgewiesen wurde. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid wies die Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1 des Bescheids), ordnete den Sofortvollzug der Ausweisung an (Ziffer 2), erließ ein auf sieben Jahre ab der Ausreise bzw. Abschiebung des Klägers befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziffer 3 des Bescheids), ordnete den Sofortvollzug der Ziffer 3 an (Ziffer 4), ordnete die Abschiebung des Klägers direkt aus der Haft bzw. dem Maßregelvollzug an (Ziffer 5) und drohte dem Kläger die Abschiebung insbesondere in die Türkei an (Ziffer 6). In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 7. September 2022 verkürzte die Beklagte die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Ziffer 3 des Bescheids auf fünf Jahre. Mit Schriftsatz vom 24. Januar 2023 ergänzte sie ihre diesbezüglichen Ermessenserwägungen im Hinblick auf die am 5. Januar 2023 erfolgte Eheschließung des Klägers.
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1. Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet, weil das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) keine Zulassung der Berufung rechtfertigt. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestehen nur dann, wenn der Rechtsmittelführer im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage stellt (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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1.1 Aufgrund des Zulassungsvorbringens bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts.
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1.1.1 Der Kläger trägt vor, es möge zutreffen, dass die Gefahrenprognose zunächst durch sein Verhalten im Bundesgebiet getragen werde und hier angesichts von insgesamt 15 Eintragungen im Bundeszentralregister davon auszugehen sei, dass zumindest hinsichtlich der Eintragungen unter den Ziffern 1 bis 14 Verurteilungen erfolgt seien, die sämtlich Strafen in einem unteren Bereich eines jeweils eröffneten Strafrahmens dokumentierten, wobei es nur in drei von 14 Fällen zur Verhängung einer Freiheitsstrafe gekommen sei, während in allen anderen Fällen unter- bis „niedrigstschwellige“ Strafen verhängt worden seien. Wie dargestellt, seien mindestens zehn der Eintragungen tatbestandsmäßig im Sinne von § 17 Abs. 2 BZRG, was sich insoweit auch und gerade auf die vorzunehmende Prognose auswirke. Selbst wenn bei den Fallgruppen schwererer Delikte wie Betäubungsmitteldelikten an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit möglicherweise geringere Anforderungen zu stellen seien, sei auch unter Anlegung dieses Maßstabes nicht von einer gegenwärtigen Wiederholungsgefahr auszugehen, nachdem ausweislich sämtlicher Berichte des Bezirksklinikums es dem Kläger in hohem Maße gelungen sei, seine erstmalige Suchtmittelentwöhnungsmaßnahme nach § 64 StGB erfolgreich zu absolvieren, was insbesondere vor dem Hintergrund der langjährigen stoffgebundenen Suchterkrankung und unter weiterer Berücksichtigung des fortgeschrittenen Lebensalters des Klägers besonders positiv zu werten sei. Soweit nach obergerichtlicher Rechtsprechung bei Straftaten, die ihre (Mit-)Ursache in einer Suchtmittelproblematik hätten, von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden könne, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen sei und sich der Betreffende nach Therapieende nicht hinreichend in Freiheit bewährt habe, greife dies insoweit vorliegend nicht und begründe aus Sicht des Klägers auch den Abwägungsfehler, nachdem es nicht darauf ankomme, ob von einem vollständigen Entfallen der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden müsse, sondern es im Rahmen des hier vorzunehmenden Abwägungsprozesses ausreichen müsse, wenn die Wiederholungsgefahr auf ein Maß zurückgestutzt sei, welches nicht mehr ernsthaft erwarten lasse, dass der Kläger erneut Straftaten begehen werde.
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Diese Rügen greifen nicht durch.
8
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Berufungsgerichts (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18; U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8 m.w.N.).
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). Da jeder sicherheitsrechtlichen Gefahrenprognose nach den allgemeinen Grundsätzen des Gefahrenabwehrrechts eine Korrelation aus Eintrittswahrscheinlichkeit und (möglichem) Schadensausmaß zugrunde liegt, sind an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 16; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 16; U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; U.v. 6.9.1974 – 1 C 17.73 – juris Rn. 23; U.v. 17.3.1981 – 1 C 74.76 – juris Rn. 29; U.v. 3.7.2002 – 6 CN 8.01 – juris Rn. 41).
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Steht dem Ausländer – wie vom Verwaltungsgericht zugunsten des Klägers angenommen – ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation EWG-Türkei (ARB 1/80) zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen. Er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Bei der Feststellung der in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten schwerwiegenden Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (zu diesem Maßstab vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, Ziebell – juris Rn. 82 ff.), handelt es sich um eine Prognose, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eigenständig zu treffen haben (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Die Indizien, die für diese Prognose heranzuziehen sind, ergeben sich nicht nur aus dem Verhalten im Strafvollzug und danach. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – BVerwGE 112, 185, juris Rn. 14; vgl. auch BVerwG, B.v. 4.5.1990 – 1 B 82.89 – NVwZ-RR 1990, 649, juris Rn. 4). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
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Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden. Für die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr als Tatbestandsvoraussetzung einer spezialpräventiven Ausweisung genügt, wie dargestellt, eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der erneuten Begehung vergleichbarer (nicht gleichartiger) Straftaten durch den Ausländer. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Gefahrenprognose konkret durch das Verhalten des Klägers, d.h. die Anlassverurteilung des Klägers durch das Landgericht N. vom 27. August 2021 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen in Tateinheit mit vorsätzlichem Besitz einer verbotenen Waffe und unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 13 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten, konkret getragen werde. Zutreffend führt das Verwaltungsgericht aus, da gerade bei besonders schweren und schädlichen Delikten wie Betäubungsmitteldelikten an den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts regelmäßig nur geringe Anforderungen zu stellen seien, gehe die Beklagte zutreffend von einer gegenwärtigen Wiederholungsgefahr beim Kläger aus. Des Weiteren stuft das Verwaltungsgericht die von dem Kläger begangenen Betäubungsmittelstraftaten zu Recht als schwerwiegende Straftaten ein, die typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind, zumal der illegale Handel mit Betäubungsmitteln regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden ist, und dass sich darüber hinaus auch aus den Vorstrafen des Klägers und der Tatsache, dass er sich auch durch zweimalige Haftverbüßung nicht von der Begehung weiterer Straftaten hat abhalten lassen, eine hinreichende Wiederholungsgefahr ergibt.
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1.1.2 Des Weiteren geht das Verwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass aus der Entwicklung des Klägers nach der Anlassverurteilung nicht darauf geschlossen werden kann, dass die durch die vergangenen Straftaten zutage getretene Gefährlichkeit des Klägers beseitigt sei.
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Die Ursache für die Begehung der genannten Straftaten bildete nach den Feststellungen der Strafkammer des Landgerichts die Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers, für den nach den gutachterlichen Feststellungen im Strafverfahren tatzeitbezogen eine Abhängigkeit von Cannabinoiden sowie ein Hang, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, festgestellt wurden, weshalb gemäß § 64 StGB die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde.
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Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2021 – 10 ZB 21.935 – juris Rn. 9; B.v. 23.9.2021 – 19 ZB 20.323 – juris; B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris).
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In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass – worauf vorliegend auch die Sachverständige V.R. in ihrem Prognosegutachten zum Antrag der Staatsanwaltschaft auf Strafrestaussetzung vom 31. Oktober 2023 hinweist – die Erfolgschancen einer Therapie im Allgemeinen bereits deutlich unter 50% liegen (vgl. Fabricius in Körner/Patzak/Volkmer, BtMG, 9. Aufl. 2019, § 35 Rn. 46 ff.: nur 25% der beobachteten Personen blieben strafrechtlich unauffällig und dürften eine Chance der sozialen Reintegration und der gesundheitlichen Stabilisierung erreicht haben; „bescheidene Erfolge“; nach Klos/Görgen – Rückfallprophylaxe bei Drogenabhängigkeit, 2. Aufl. 2020, S. 18 ff. – sind Rückfälle eher die Regel als die Ausnahme; Jehle/Albrecht/Hohmann-Fricke/Tetal haben in der bundesweiten Rückfalluntersuchung „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen“ für den Zeitraum 2004/2010 bis 2013 – www.bmjv.de – ermittelt, dass nach Delikten gemäß BtMG innerhalb des 1. bis 3. Jahres 45% der Straftäter erneut registriert wurden mit einer Zunahme von weiteren 11% auf 56% vom 4. bis 6. Jahr und weiteren 4% auf 60% innerhalb des 7. bis 9. Jahres des Beobachtungszeitraums; von der Gesamtpopulation der Straftäter wurden innerhalb von 3 Jahren 36% erneut verurteilt; betreffend Cannabis spricht Th., Ärztlicher Leiter am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters Universitätsklinikum H., von bescheidenen Behandlungserfolgen; langfristig abstinent seien nach einer Therapie nur etwa 25% der Patienten, zit. nach aok-Gesundheitsmagazin, 31.5.2021, www.aok.de). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der erforderlichen Sicherheit auf einen Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10 ZB 17.1469 – juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11). Dies bedeutet, dass somit selbst eine im Maßregelvollzug erfolgreich absolvierte Drogentherapie nicht automatisch zu einem Entfallen der Wiederholungsgefahr führt.
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Eine von diesen Erfahrungswerten abweichende Einschätzung ergibt sich nicht aus der positiven Entwicklung des Klägers während des Maßregelvollzugs und der zwischenzeitlich erfolgten Strafaussetzungsentscheidung vom 21. Januar 2024. Trotz dieser für den Kläger günstigen Umstände kann im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt noch nicht von einer nachhaltigen Einstellungs- und Verhaltensveränderung ausgegangen werden, welche die Annahme rechtfertigte, der Kläger werde künftig straf- und drogenfrei bleiben.
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Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug nach § 57 StGB sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19; B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21; BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12, juris Rn. 18; U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09, juris Rn. 18; U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00, juris Rn. 17). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann bereits eine einmalige Betäubungsmittelstraftat einen solchen Anhaltspunkt für neue Verfehlungen des Betroffenen begründen und schließt auch eine positive Entscheidung über die Straf(rest) aussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus, dass im Einzelfall schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine spezialpräventive Ausweisung rechtfertigen können; das Bundesverfassungsgericht erkennt insoweit den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts an und fordert für den Fall einer aufenthaltsrechtlich abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr eine substantiierte, eigenständige Begründung (vgl. BVerfG, B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19). Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 24). Das Bundesverfassungsgericht erkennt mithin bei besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen zwei alternative Konstellationen an, in denen trotz einer Strafrestaussetzung zur Bewährung eine spezialpräventive Ausweisung rechtmäßig sein kann: Eine breitere Tatsachengrundlage der Ausländerbehörde bzw. des Verwaltungsgerichts oder in der Vergangenheit begangene Straftaten des Ausländers, die fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (vgl. ebenso OVG Bremen, B.v. 28.9.2021 – 2 LA 206/21 – juris Rn. 27).
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Zu Recht geht das Verwaltungsgericht insoweit davon aus, dass die fortbestehende Gefährdung durch den Kläger höchste Rechtsgüter und damit Grundinteressen der Gesellschaft berührt, was sich insbesondere aus der Art und Schwere der künftig zu erwartenden Delikte, insbesondere aufgrund der hohen Anzahl von Einzeltaten, der hohen Mengen und der kontinuierlichen Begehungsweise auch konkret im Hinblick auf die vom Kläger zu erwartenden Straftaten ergibt. Die von dem Kläger begangenen Straftaten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge mit Waffen in Tateinheit mit vorsätzlichem Besitz einer verbotenen Waffe und unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 13 Fällen sind schwerwiegend und richten sich gegen ein Grundinteresse der Gesellschaft.
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Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (vgl. Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV). Die Folgen des Betäubungsmittelkonsums, insbesondere für junge <Menschen, können äußerst gravierend sein. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12 – juris Rn. 12 m.w.N. zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR; BayVGH, B.v. 7.3.2019 – 10 ZB 18.2272 – juris Rn. 7). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sieht in der Rauschgiftsucht ein „großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (EuGH, U.v. 23.11.2010 – Rs. C-149/09, „Tsakouridis“ NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat mehrfach klargestellt, dass er bei der Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldelikts – wie vorliegend – in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (EGMR, U.v. 30.11.1999 – Nr. 3437-97, „Baghli“ – NVwZ 2000, 1401, U.v. 17.4.2013 – Nr. 52853/99‚ “Yilmaz“ – NJW 2004, 2147; vgl. OVG NRW, B.v. 17.3.2005 – 18 B 445.05 – juris). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 11.10.2022 – 19 ZB 20.2139 – juris Rn. 32; B.v. 14.3.2013 – 19 ZB 12.1877 und B.v. 10.10.2017 – 19 ZB 16.2636 – juris Rn. 8).
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1.1.3 Der Kläger trägt vor, er habe eine stoffgebundene Suchterkrankung insbesondere mit Derivaten des Betäubungsmitteltyps Cannabis ausgebildet, während seine Betäubungsmittelproblematik im Zusammenhang mit Amphetaminen wohl eher als Missbrauch, denn als Abhängigkeit zu werten sei. Aus diesem Grund habe auch die Stellungnahme des Bezirksklinikums A. vom 6. April 2022 die Abhängigkeit vom Cannabistyp, nicht aber von Amphetamin akzentuiert und ausgeführt: „Im Rahmen des Erkenntnisverfahrens wurde[n] in einer medizinischen Einschätzung durch den Sachverständigen Herrn Dr. med. T. (…) mit schriftlicher Stellungnahme vom 12.5.2021 die Diagnosen einer Abhängigkeit von Cannabinoiden (ICD- 10-Nr.: F12.2), einer psychotischen Störung durch Substanzkonsum (ICD-10-Nr.: F12.5), eines schädlichen Gebrauchs von Stimulantien (ICD-10-Nr.: F15.1) und einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen psychischen Faktoren (ICD-10-Nr.: F45.41) gestellt.“ Sei aber von einer stoffgebundenen Suchterkrankung nur in Bezug auf Cannabinoide, nicht aber auf Amphetamin auszugehen, sei schon unter diesem Gesichtspunkt von einer wesentlichen Reduktion der Rückfallgefahr schon deswegen auszugehen, weil eine stoffgebundene Suchterkrankung hinsichtlich Cannabinoiden nur eine psychische, nicht aber eine physische Abhängigkeit darstelle. Es sei wissenschaftlicher Konsens und auch den Erwägungen der „Großen Koalition“ im Rahmen der geplanten Legalisierung von Cannabis zugrunde gelegt, dass von einer geringen Suchtgefahr bei Cannabis auszugehen sei: „Bei dem Dauerkonsum von Cannabis, insbesondere bei regelmäßiger Aufnahme hoher THCMengen kann es beim einzelnen Konsument zu der von der Weltgesundheitsorganisation WHO definierten Abhängigkeit vom Cannabistyp, zu Einstellungs- und Wesensveränderungen und sozialem Rückzug kommen. Eine körperliche Abhängigkeit gibt es beim Cannabiskonsum nicht, wenn man einmal von gelegentlichen schwachen Entzugserscheinungen wie Unruhe, Übelkeit, Schlafstörungen und [S]chwitzen absieht. Es gibt keine Probleme der Toleranz oder einer notwendigen Dosissteigerung. Währenddessen ist eine leichte psychische Abhängigkeit bei Dauermissbrauch zu beobachten“ (Zitat aus Körner, BtMG, Kommentar, C.l., Cannabis, Rn. 253). Das Verwaltungsgericht hätte bei seiner Abwägung insoweit zugrunde legen müssen, dass bei der Prognose der Wiederholungsgefahr von einem deutlich geringeren Suchtpotential von Cannabisderivaten auszugehen sei, sodass allein dadurch schon von einer nur deutlich geringeren als angenommenen Wiederholungsgefahr auszugehen wäre. Es sei darüber hinaus auch noch zu berücksichtigen, dass trotz dieses deutlich geringeren Suchtpotentials von Cannabis sich der Kläger in einer Maßregeleinrichtung nach § 64 StGB befinde. Im Gegensatz zu den (freiwilligen) Suchtmittelentwöhnungsmaßnahmen auf Grundlage von § 35 BtMG gehörten die Suchtmittelentwöhnungsmaßnahmen im Rahmen des Maßregelvollzuges nach § 64 StBG zu den außerordentlich erfolgreichen therapeutischen Maßnahmen, um Menschen von einer stoffgebundenen Sucht zu befreien.
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Dem vermag der Senat nicht zu folgen.
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Bei der Bewertung der Gefährlichkeit eines im Zusammenhang mit dem Handel mit Cannabis bzw. Marihuana strafrechtlich verurteilten Ausländers sind zudem die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den insbesondere Jugendlichen durch den Konsum drohenden gesundheitlichen Schäden in den Blick zu nehmen (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2022 – 19 ZB 22.129 – juris). Neuere wissenschaftliche Untersuchungen belegen die dauerhafte Veränderung der Hirnstruktur und des Verhaltens bei Jugendlichen und die Erhöhung des Risikos u.a. für psychotische Störungen wie cannabisinduzierte Psychosen oder Schizophrenien sowie affektive Störungen wie Depressionen, Angststörungen, bipolare Störungen, Suizidalität (Studie Albaugh u.a. in JAMA psychiatry 2021; 78(9). 1031-1040; vgl. auch Horn/Friemel/Schneider, Abschlussbericht Cannabis. Potenzial und Risiko, Stand 11/2018, www.bundesgesundheitsministerium.de).
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Soweit der Kläger dem gegenüber darauf verweist, es sei wissenschaftlicher Konsens und auch den Erwägungen der „Großen Koalition“ im Rahmen der geplanten Legalisierung von Cannabis zugrunde gelegt, dass von einer geringen Suchtgefahr bei Cannabis auszugehen sei, und zum Beleg aus dem Kommentar von Körner zum Betäubungsmittelgesetz zitiert, stellt er die oben genannten wissenschaftlichen Untersuchungsergebnisse schon nicht substantiiert in Frage.
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Des Weiteren hat zwar das Bundesverfassungsgericht im Falle eines wegen Handeltreibens mit Marihuana zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilten Ausländers ausgeführt, dass es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend ist, wenn die Gerichte von der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 19). Im vorliegenden Fall ist demgegenüber unter Berücksichtigung der Häufigkeit der begangenen Einzeltaten, der sehr hohen Mengen gehandelter Drogen, des Waffeneinsatzes bei einer der abgeurteilten Taten und der anhand dieser Umstände zum Ausdruck kommenden hohen kriminellen Energie des Klägers eine fortbestehende Gefährdung höchster Rechtsgüter zu befürchten.
25
Im Übrigen teilt der Senat die Bewertung des Verwaltungsgerichts, dass es eher für die Annahme einer Wiederholungsgefahr spricht, dass der Kläger u.a. hat vortragen lassen (und im Zulassungsverfahren erneut vortragen lässt), er habe nur mit der etwas weniger gefährlichen Droge Cannabis gehandelt, die bei ihm auch zur Schmerzbehandlung eingesetzt werde, und damit seine Taten – er sei auch wegen des Handels mit Amphetamin verurteilt worden – herunterzuspielen versucht.
26
1.1.4 Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe im Übrigen auch nicht den überdurchschnittlich günstigen Verlauf der bisherigen Suchtmittelentwöhnungsmaßnahmen im Rahmen des Maßregelvollzuges berücksichtigt. Das Verwaltungsgericht hätte diese Erkenntnisse aus der Stellungnahme des Bezirksklinikums A. vom 6. April 2022 ohne weiteres erheben und in die Abwägung einstellen können. Dies sei nicht geschehen, vielmehr verhalte sich die anzufechtende Entscheidung nicht zu den einzelnen Punkten der genannten Stellungnahme des Bezirksklinikums (hierzu zitiert der Kläger aus der Stellungnahme des Bezirksklinikums A. vom 6.4.2022, S. 3 f.). Auch die Stellungnahme des Bezirksklinikums vom 14. Oktober 2022 schränke diese positive Sicht auf die Entwicklung des Klägers nicht ein, vielmehr seien weitere positive Aspekte dokumentiert worden, die sich seit dem Berichtszeitpunkt Ende März 2022 bis Mitte Oktober 2022 ergeben hätten und die noch nicht von dem Verwaltungsgericht hätten berücksichtigt werden können (wiederum mit Zitat aus der Stellungnahme des Bezirksklinikums A. vom 14.10.2022, Az.: 311 VRs 4357/21). Auch wenn dies von dem Verwaltungsgericht in der anzufechtenden Entscheidung noch nicht in die Abwägung habe eingestellt werden können, ergebe sich spätestens jetzt hinsichtlich des Klägers ein Bild eines Patienten im Maßregelvollzug, der bereits erste extramurale Belastungserprobungen erfolgreich absolviert habe (mit Zitat aus der Stellungnahme der Klinik für forensische Psychiatrie des Bezirksklinikums A. vom 14.10.2022, S. 3, 4). Auch hier attestiere das Bezirksklinikum dem Kläger extramurale Belastungsfähigkeit, so dass die Forderung einer Legalbewährung in Freiheit aus dem angefochtenen Urteil (inzwischen) als erfüllt erscheine (m.V.a. BayVGH, B.v. 11.3.2020 – 10 ZB 19.777 – juris Rn. 9). Auch wenn ein Therapieende (noch) nicht herbeigeführt worden sei, lasse bereits die bisherige Entwicklung des Klägers im Maßregelvollzug eine weiterhin günstige Prognose zu, die es erwarten lasse, dass sich der Kläger auch in Freiheit legal bewähren werde. Die beanstandungsfrei durchgeführten Lockerungen und insbesondere der unbegleitete Ausgang außerhalb der Maßregeleinrichtung stützten diese Prognose ebenfalls.
27
Diese Rügen greifen nicht durch. Insoweit ist zwar die Beurteilung durch das Verwaltungsgericht, dass der Kläger zwar im Rahmen des Maßregelvollzugs ab dem 8. November 2021 eine Therapie begonnen, diese aber nicht abgeschlossen habe, weshalb jedenfalls aufgrund der weiterbestehenden, nicht therapierten Drogenproblematik trotz der nach dem Therapiebericht vom 23. August 2022 (Bl. 122 ff. der Gerichtsakte) beanstandungslos verlaufenden Behandlung im Maßregelvollzug weiterhin eine Wiederholungsgefahr vorliege, durch die weitere tatsächliche Entwicklung überholt. Dennoch geht der Senat weiter von einem Fortbestehen der Wiederholungsgefahr aus:
28
Eine strafvollstreckungsrechtliche Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug und eine gefahrenabwehrrechtliche Ausweisung verfolgen unterschiedliche Zwecke und unterliegen deshalb unterschiedlichen Regeln (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2021 – 10 ZB 20.2091 – juris Rn. 14; B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25; B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris Rn. 8 ff.): Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit gegebenenfalls unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund. Es ist zu ermitteln, ob der Täter das Potential hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat nicht das Ziel, Gefahren für die öffentliche Sicherheit längerfristig zu unterbinden. Für eine Anordnung dieser Maßregel genügt die hinreichend konkrete Aussicht (ein vertretbares Risiko ist einzugehen, vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 67d Rn. 11), dass durch sie der Verurteilte über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang bewahrt wird (§ 64 Satz 2 StGB), wobei „eine erhebliche Zeit“ in der Regel bereits ab einem Jahr angenommen werden kann (Schöch in Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2008, § 64 Rn. 136 und in Festschrift für Klaus Volk, 2009, S. 705). Eine langfristige Bewahrung vor dem Rückfall kann bereits deshalb nicht als Ziel der Unterbringung festgelegt werden, weil dann entsprechend lange Unterbringungszeiten erforderlich wären. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als freiheitsentziehende Maßnahme darf jedoch nach § 67d Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich (vorbehaltlich des Satzes 3 der Bestimmung) zwei Jahre nicht übersteigen, muss in jedem Fall verhältnismäßig sein (§ 62 StGB) und insoweit umso strengeren Voraussetzungen genügen, je länger die Unterbringung dauert (BVerfG, B.v. 19.11.2012 – 2 BvR 193/12 – StV 2014, 148 ff.). Die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 5 Satz 1 StGB, „wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen“, ist somit bereits dann vorzunehmen, wenn für eine – im Vergleich zum ausländerrechtlichen Prognosehorizont – relativ kurze Zeitspanne die konkrete Aussicht (unter Eingehung eines vertretbaren Risikos) auf das Unterbleiben rechtswidriger Taten besteht. Nichts Anderes gilt für die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“, denn auch bei dieser strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidung, sowie bei der Erstellung eines Prognosegutachtens hierfür, sind die begrenzte Zielsetzung der Unterbringung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25; B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris Rn. 8 ff.).
29
Demgegenüber geht es bei der Ausweisung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zugrundeliegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potential, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2021 – 10 ZB 20.2091 – juris Rn. 14; B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 20.249 – juris Rn. 8 m.w.N.). Insgesamt ist nach der dargestellten Rechtslage das erforderliche Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und für eine entsprechende vorläufige Beendigung der Maßregel wesentlich geringer als dasjenige für eine positive ausländerrechtliche Gefahrenprognose, weil aus der Sicht des Strafrechts auch die geringste Resozialisierungschance genutzt werden muss. Das Strafrecht unterscheidet nicht zwischen Deutschen und Ausländern und berücksichtigt daher regelmäßig nicht die Möglichkeit, die Sicherheit der Allgemeinheit durch eine Aufenthaltsbeendigung zu gewährleisten (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 – 19 ZB 20.65 – juris Rn. 25).
30
Gemessen daran kann im vorliegenden Fall bei der notwendigen Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände auch unter Berücksichtigung der positiven Entwicklungen nicht der Schluss gezogen werden, dass die von dem Kläger ausgehende Gefahr soweit entfallen ist, dass dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung bzw. sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr gefährdet. Die in der Vergangenheit begangenen, schwerwiegenden Straftaten des Klägers aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz führen unter Berücksichtigung des Umstandes, dass der Kläger noch unter Führungsaufsicht und Bewährungsdruck steht, zum Fortbestehen der konkreten Gefahren für höchste Rechtsgüter. Dabei ist vorliegend zwar zu würdigen, dass der Kläger die Therapie im Maßregelvollzug erfolgreich durchlaufen hat. Sowohl die behandelnden Ärzte (in der Stellungnahme des Bezirksklinikums vom 5. September 2023) als auch die von der Strafvollstreckungskammer beauftragte Sachverständige V.R. in ihrem Prognosegutachten vom 31. Oktober 2023 befürworten im Ergebnis eine bedingte Entlassung des Klägers. Die Sachverständige hat zur Begründung ihrer Prognose darauf abgestellt, dass zwar als günstige Prognosefaktoren zu werten sind, dass der Kläger trotz der erlebten schwierigen Ereignisse im Kindes- und Jugendlichenalter (Tod der Mutter durch einen vom zehnjährigen Bruder mit einer gefundenen Schusswaffe ausgelösten Schuss, erlebte Ablehnung nach Umsiedlung in das Bundesgebiet) keine psychische Störung, insbesondere keine affektive Störung oder Persönlichkeitsstörung entwickelt habe, dass seine postdeliktische Entwicklung insgesamt als prognostisch günstig zu bezeichnen sei (insbesondere habe er die Lockerungen ohne Auffälligkeiten durchlaufen, habe sich eigenständig um Vorstellungsgespräche bei potentiellen Arbeitgebern bemüht, diesbezüglich ein hohes Durchhaltevermögen gezeigt und sei konstruktiv mit der Belastungssituation infolge der Versagung einer Arbeitserlaubnis umgegangen) sowie dass der Kläger sich mit seiner Wohnsituation gemeinsam mit seiner Ehefrau und dem vierjährigen Sohn wohlfühle, seiner ehrenamtlichen Tätigkeit zuverlässig nachgehe und gerade eine Schulung zur Unterstützung demenzkranker Menschen absolviere. Des Weiteren mag infolge der erfolgreich absolvierten Therapie die gutachterliche Einschätzung, dass der Beginn des Drogenkonsums des Klägers mit dem Fehlen konstruktiver Strategien zur Problembewältigung zusammenhänge, prognostisch nicht mehr relevant sein. Das Gutachten nennt jedoch eine ganze Reihe von weiteren prognostisch ungünstigen Faktoren, namentlich die (wie ausgeführt) hohe statistische Rückfallwahrscheinlichkeit bei Drogendelikten von über 50%, den Umstand, dass der Kläger einen Teil der Ausgangsdelikte während offener Bewährung begangen habe, dass in seiner prädeliktischen Persönlichkeit die ungünstigen Faktoren überwögen, dass mit der drohenden Ausweisung und der wirtschaftlichen Beschränkung infolge der fehlenden Beschäftigungserlaubnis Risikofaktoren im sozialen Empfangsraum bestehen, sowie die durch einen Arbeitsunfall verursachte Schmerzstörung. Dass die Sachverständige insgesamt von einer erfolgreichen Maßregelvollzugsbehandlung ausgeht, insbesondere aufgrund der erzielten vollumfänglichen Krankheitseinsicht und Abstinenzmotivation, und zu dem Schluss kommt, dass vor diesem Hintergrund aus gutachterlicher Sicht verantwortet werden könne, die Unterbringung und die Reststrafe zur Bewährung auszusetzen, vermag die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht in Frage zu stellen. Denn trotz der nachfolgenden Strafaussetzungsentscheidung vom 21. Januar 2024 ergibt sich vorliegend das Fortbestehen eines weiteren, engmaschigen Therapiebedarfs, so dass allein der formale Abschluss der Therapie im Maßregelvollzug sowie die derzeitige Drogen- und Straffreiheit des Klägers während laufender Bewährung noch nicht die Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens, insbesondere in Anbetracht der gewichtigen Betäubungsmitteldelinquenz und der erst kurzzeitigen Bewährungsphase rechtfertigen.
31
Der Kläger steht nach dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 21. Januar 2024 weiterhin unter dem nicht unerheblichen Druck der Bewährung und Führungsaufsicht steht. Die Strafvollstreckungskammer hat die zulässige Dauer der Bewährungszeit von maximal fünf Jahren vollends ausgeschöpft und sie nicht verkürzt (vgl. § 56a Abs. 1 Satz 2 StGB). Für die gesamte Dauer der Führungsaufsicht und Bewährungszeit wurde der Kläger der Aufsicht durch einen Bewährungshelfer unterstellt. Die Bewährungshilfe zeichnet sich zudem durch eine engmaschige Betreuung und eine intensive Überwachung aus (Meldung bei seinem Bewährungshelfer mindestens einmal, höchstens viermal im Monat, Mitteilung jedes Wechsels des Wohnortes binnen einer Woche, Aufgabe der ehrenamtlichen Tätigkeit nur mit Zustimmung des Bewährungshelfers, bei Erteilung der Beschäftigungserlaubnis Meldung bei der zuständigen Agentur für Arbeit oder einer anderen zur Arbeitsvermittlung zugelassenen Stelle binnen sieben Tagen und entsprechender Nachweis gegenüber dem Bewährungshelfer, Abstinenzgebot, Kontrollweisung).
32
Der Kläger befindet sich somit derzeit noch ganz am Anfang seiner am 15. Februar 2024 begonnenen, fünfjährigen Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit und der Unterstellung unter die Bewährungshilfe, so dass trotz des positiven Therapieverlaufs im nunmehr ausgesetzten Maßregelvollzug noch nicht ohne Weiteres von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer längerfristigen Änderung der Verhaltensmuster in Freiheit ohne den genannten Druck, die angeordneten Kontrollen und die für erforderlich erachtete fortwährende therapeutische Behandlung ausgegangen werden kann.
33
1.2 Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger auch die Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
34
1.2.1 Der Kläger trägt vor, unter besonderer Berücksichtigung des schwerwiegenden Bleibeinteresses nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sei eine nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG gebotene, aber vorliegend fehlerhaft vorgenommene Gesamtabwägung unter besonderer Berücksichtigung des mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu beklagen, da das Bleibeinteresse der Ausweisung des Klägers entgegenstehe und diese überwiege. Die Ausweisung sei daher unter Berücksichtigung der Maßstäbe des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK als unverhältnismäßig anzusehen. Sie sei darüber hinaus auch nicht angemessen, da von dem Kläger unter Berücksichtigung obiger Erwägungen nur noch eine geringe Gefahr schwerwiegender Straftaten ausgehe. Dass sich der Kläger trotz einschlägiger Verurteilungen und zwei kurzer Haftverbüßungen und durch zwei Verwarnungen nicht von der Begehung weiterer Straftaten habe abhalten lassen können, stelle nicht die Wiederholungsgefahr beim Kläger bzw. dessen Gefährlichkeit als besonders hoch dar, vielmehr sei diese Tatsache Ausdruck einer bis zur Aufnahme der therapeutischen Maßnahme nach § 64 StGB seit dem 14. Lebensjahr des Klägers zu konstatierenden stoffgebundenen Suchterkrankung. Der Kläger sei vor dem Hintergrund dieser stoffgebundenen Suchterkrankung in Form einer psychischen Abhängigkeit vom Cannabistyp nicht in der Lage, sein Verhalten durchweg regelkonform und gesetzestreu einzurichten, vielmehr habe von einer eingeschränkten Fähigkeit des Klägers vor seiner Inhaftierung ausgegangen werden können, sich trotz der Belastungen und Anforderungen der Suchtmittelerkrankung regelkonform und gesetzestreu zu verhalten. Nicht nur die Straftaten – wie im anzufechtenden Urteil ausgeführt – durchzögen das Leben des Klägers, sondern die stoffgebundene Suchterkrankung in Form einer psychischen Abhängigkeit vom Cannabistyp begleite diesen seit seinem 14. Lebensjahr.
35
Diese Rügen greifen nicht durch.
36
Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Der Gesetzgeber hat im Ausweisungsrecht in differenzierter Weise die Schutzwürdigkeit familiärer Bindungen ausdrücklich berücksichtigt und ihnen normativ verschieden gewichtete Bleibeinteressen zugeordnet (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG). Die Katalogisierung schließt es aber nicht aus, dass andere, nicht ausdrücklich in § 55 Abs. 1 AufenthG benannte Interessen und Umstände bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung jeweils mit einem Gewicht einzustellen sein können, das einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse entsprechen kann (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 55 Rn. 5).
37
Im Falle der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen führt § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu einer Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen nach §§ 53 Abs. 1, 54, 55 AufenthG; ihnen kommt auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG die Bedeutung von gesetzlichen Umschreibungen spezieller Interessen mit dem jeweiligen Gewicht zu (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24). Soweit die Entwurfsbegründung von einer „Sonderregelung“ spricht (BT-Drs. 18/4097, S. 50), bezieht sich diese Wendung jedoch ersichtlich auf das in § 53 Abs. 3 AufenthG festgelegte Maß der Sicherheitsgefahr und statuiert im Übrigen keine Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen.
38
Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation der Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 77 m.w.N.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 27.9.2017 – 10 ZB 16.823 – juris Rn. 20). Auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung des besonderen Gefährdungsmaßstabs für die darin bezeichneten Gruppen von Ausländern eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 (i.V.m. Abs. 2) durchzuführen.
39
Gemessen daran ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung des dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht zunächst festgestellt, dass im Hinblick auf den Kläger ein vertyptes besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG besteht. Entgegen der Auffassung des Klägers ergibt sich aus den konkreten Umständen kein geringeres Gewicht des Ausweisungsinteresses, da die konkreten Taten, die dabei zu Tage getretene und – wie ausgeführt – noch anhaltende Gefährlichkeit des Klägers sowie das hohe Gewicht der betroffenen Rechtsgüter auch unter Berücksichtigung seiner stoffgebundenen Suchterkrankung die abstrakte Gewichtung des Ausweisungsinteresses als besonders schwer auch im vorliegenden Falle rechtfertigen. Weitere konkrete Rügen gegen die konkrete Abwägung und die Beurteilung der Ausweisung als verhältnismäßig durch das Verwaltungsgericht trägt der Kläger nicht vor.
40
1.2.2 Der Kläger rügt, schon zum Zeitpunkt (der mündlichen Verhandlung) am 7. September 2022 wäre in die Abwägung nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG die Tatsache einzustellen gewesen, dass der Kläger mittlerweile einen standesamtlichen Termin zur Eheschließung am 8. Dezember 2022 vorzuweisen habe. Die Eheschließung sei bereits zu einem Zeitpunkt beabsichtigt gewesen, der vor dem Erlass der Ausweisungsverfügung datiere. Der maßgebliche Zeitpunkt sei hier der Zeitpunkt des Verlöbnisses im Jahr 2020. Zu diesem Zeitpunkt hätten sich die heutige Verlobte des Klägers sowie dieser selbst ein wechselseitiges Eheversprechen gegeben. Von einer reduzierten Schutzwürdigkeit der nunmehr anstehenden Eheschließung in Kenntnis der ergangenen Ausweisungsverfügung sei daher nicht auszugehen.
41
Dem vermag der Senat sich nicht anzuschließen. Zwar sind die diesbezüglichen Erwägungen im angefochtenen Urteil hinsichtlich der aufgrund der Wertungen des § 55 AufenthG geringen Schutzwürdigkeit der Verlobung mit einer deutschen Staatsangehörigen überholt, als der Kläger am 5. Januar 2023 und damit zeitlich nach dem erstinstanzlichen Urteil die Ehe mit seiner bisherigen Lebensgefährtin und Mutter seines 2019 geborenen Sohnes geschlossen hat. Dennoch führt das Verwaltungsgericht zu Recht aus, dass dieser in Kenntnis der (nunmehr durch eine erstinstanzliche Gerichtsentscheidung bestätigten) Ausweisung erfolgten Eheschließung eine verringerte Schutzwürdigkeit zukommt. Denn insoweit konnte kein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers und seiner Ehefrau in den Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet entstehen. Daran ändert der vom Kläger ins Feld geführte Umstand nichts, dass die Verlobung bereits vor dem Erlass der Ausweisungsverfügung stattgefunden habe. Abgesehen davon, dass der behauptete Zeitpunkt der Verlobung schon nicht substantiiert wurde, hätte der Kläger auch in dem behaupteten Zeitraum der Verlobung – vor der letzten strafrechtlichen Verurteilung und der dadurch veranlassten Ausweisungsverfügung – mit einer Aufenthaltsbeendigung aufgrund seiner Straftaten rechnen müssen, zumal er von der Beklagten in der Vergangenheit bereits zweimal ausländerrechtlich verwarnt wurde. Überdies stand, worauf das Verwaltungsgericht zu Recht hinweist, eine Eheschließung auch noch nicht unmittelbar bevor und konnte deshalb keine aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen i.S. einer Vorwirkung aus Art. 6 GG entfalten.
42
1.2.3 Des Weiteren wendet der Kläger ein, soweit das Verwaltungsgericht in der anzufechtenden Entscheidung darauf abgestellt habe, dass sich der Kläger trotz seiner im Jahr 2013, 2015 und 2019 geborenen Kinder nicht von der Begehung weiterer Straftaten habe abhalten lassen, beanspruche das oben Dargestellte ebenfalls Geltung. Seine erneute Straffälligkeit nach der Geburt von drei Kindern belege nicht, dass der Kläger uneingeschränkt in seiner Willensfreiheit und -betätigung eine Entscheidung getroffen habe, sich gegen geltendes Recht zu verhalten, sondern vielmehr seien diese erneuten und zur Aburteilung gelangten Straftaten Ausdruck eines zum damaligen Zeitpunkt noch nicht initiierten therapeutischen Prozesses und somit Fortbestandes einer stoffgebundenen Suchterkrankung.
43
Dem gegenüber hat das Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil zutreffend ausgeführt, es sei zwar – wie sich bereits sowohl aus § 53 Abs. 2 AufenthG als auch aus § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG ergebe – grundsätzlich in die Abwägung einzustellen, dass im Bundesgebiet drei Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit lebten, mit denen der Kläger Kontakt pflege bzw. nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug weiter pflegen wolle. Die Ausweisung verstoße allerdings auch insoweit nicht gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK. Hierbei dürfe zwar nicht verkannt werden, dass der Erziehungsbeitrag eines Vaters grundsätzlich nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder Dritter ersetzt werden könne (m.V.a. BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris Rn. 46). Dennoch erscheine die Ausweisung angesichts der Gesamtumstände nicht unverhältnismäßig und zur Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich. Die Beklagte habe insofern in rechtlich nicht zu beanstandender Weise in die Interessenabwägung eingestellt, dass die in den Jahren 2013, 2015 und 2019 geborenen Kinder den Kläger nicht davon abgehalten hätten, strafrechtlich in Erscheinung zu treten. Zwar habe das jüngste Kind mit dem Kläger und seiner Verlobten bis zu seiner Verhaftung in einer Wohnung zusammengelebt und auch die beiden Kinder aus der (früheren) Ehe hätten sich regelmäßig dort aufgehalten. Es sei insoweit allerdings zu berücksichtigen, dass der Umfang der Kontakte aufgrund der durch die Straftaten des Klägers herbeigeführten Trennung sowohl in den Justizvollzugsanstalten als auch im Bezirkskrankenhaus reduziert (gewesen) sei. Zuletzt weise die Beklagte insoweit zutreffend darauf hin, dass es dem Kläger und seinen Kindern zugemutet werden könne, trotz räumlicher Trennung die Bindung zueinander – zumindest für die Dauer der Wiedereinreisesperre – in anderweitiger Form, z.B. durch Kommunikationsmittel wie Telefon, Internet und Briefverkehr sowie gelegentliche Besuche in der Türkei aufrechtzuerhalten.
44
Diese Beurteilung durch das Verwaltungsgericht ist nicht zu beanstanden. Wie ausgeführt, wird die Gefahrenprognose und damit das Fortbestehen und das konkrete Gewicht des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses auch nicht durch die positive Entwicklung des Klägers seit der Durchführung des Maßregelvollzugs, insbesondere nicht durch die mittlerweile erfolgreich abgeschlossene Drogentherapie ernstlich in Frage gestellt.
45
1.3 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich ferner nicht im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht bestätigte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 AufenthG (in der durch Änderung der Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids in der mündlichen Verhandlung gefundenen Fassung) auf die Dauer von fünf Jahren.
46
Der Kläger rügt die mit Schriftsatz der Beklagten vom 24. Januar 2023 vorgenommene Ergänzung der Ermessenserwägungen nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dahingehend, dass die Frist von fünf Jahren ab Ausreise bzw. Abschiebung den Interessen des Klägers nicht in ausreichendem Maße Rechnung trage, zwar sei die Eheschließung in Kenntnis der aufenthaltsrechtlichen Problematik erfolgt, gleichwohl überwiege das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, so dass die Ausführungen des Beklagten nicht geeignet seien, eine andere Bewertung des Bleibeinteresses zu begründen.
47
Damit vermag der Kläger keine ernstlichen Zweifel an der (Ergebnis-)Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung zu begründen.
48
Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des (nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG im Einzelfall anzuordnenden) Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ändert das Erfordernis einer Ermessensentscheidung nichts am behördlichen Prüfprogramm. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, welches seiner Ausweisung zu Grunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlich an den Vorgaben aus Art. 7 EU-GR-Charta und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern es bedarf nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris Rn. 23).
49
Da für die gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist, trifft die Ausländerbehörde auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Befristungsentscheidung und gegebenenfalls zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27.16 – juris Rn. 23; BayVGH, U.v. 20.6.2017 – 10 B 17.135 – juris). Daher sind die Ermessenserwägungen, die die Beklagte ihrer Pflicht zur fortlaufenden Aktualisierung ihrer behördlichen Befristungsentscheidung entsprechend während des Zulassungsverfahrens ergänzt hat, vom Senat bei der gerichtlichen Überprüfung mit zu würdigen.
50
Gemessen daran ist die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf fünf Jahre durch die Beklagte nicht zu beanstanden. Wie ausgeführt, besteht das Ausweisungsinteresse auch in Anbetracht der aktuellen Entwicklung fort und vermag damit das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr weiter zu tragen. Die Beklagte hat durch die Anpassung ihrer Ermessenserwägungen auf die am 5. Januar 2023 erfolgte Eheschließung des Klägers reagiert und begründet, dass die konkret getroffene Befristungsentscheidung auch im Hinblick darauf weiter angemessen ist. Wie ausgeführt, bestehen auch im Hinblick auf die zwischenzeitliche Eheschließung keine Bedenken gegen das Ergebnis der Abwägung des Ausweisungsgegen die Bleibeinteressen des Klägers. Ermessensfehler der Beklagten sind insoweit nicht ersichtlich. Hinsichtlich der konkret festgesetzten Länge der Frist hat der Kläger schon keine Ermessensfehler dargelegt.
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2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).