Titel:
Abstandsflächenverstoß ist auch bei geringen Verstößen (hier: unter 1 cm) relevant
Normenkette:
BayBO Art. 6 Abs. 4
Leitsatz:
Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Baugenehmigung im Hinblick auf die Einhaltung der Abstandsflächen kommt es nicht darauf an, ob der festgestellte Verstoß geringfügig ist und sich eine entsprechende Bauausführung innerhalb der Maßtoleranzen bei Bauwerken bewegen würde. (Rn. 10 – 11)
Schlagworte:
Nachbarklage, Abstandsflächenrecht, Berechnung der Wandhöhe, natürliche oder veränderte Geländehöhe bei Abgrabung, Wandhöhe, Berechnung, Abgrabung, geringe Abweichung, geringer Verstoß, Maßtoleranz, Messtoleranz
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 26.09.2023 – RN 9 K 22.919
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6199
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Beigeladene trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 10.000 Euro festgesetzt.
Gründe
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Die Beigeladene wendet sich gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, mit der der Klage ihrer Grundstücksnachbarin stattgegeben und die erteilte Baugenehmigung vom 4. März 2022 zum Anbau eines Dreifamilienhauses wegen eines Abstandsflächenverstoßes aufgehoben worden ist. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass im vorliegenden Ausnahmefall für die Ermittlung der Wandhöhe nicht von der bisher vorhandenen Geländeoberfläche, sondern von der durch die Abgrabung veränderten Geländeoberfläche als unterem Bezugspunkt auszugehen sei und es auch angesichtes der äußerst geringfügigen Überschreitung auf eine genaue Einhaltung der Abstandsflächen ankomme. Hiergegen richtet sich die Beigeladene mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
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Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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1. Die Berufung ist nicht nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
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Die Beigeladene macht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts geltend (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Ob solche bestehen, ist im Wesentlichen anhand dessen zu beurteilen, was die Beigeladene als Rechtsmittelführerin innerhalb offener Frist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO) hat darlegen lassen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO). Aus dem Zulassungsvorbringen ergeben sich solche ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts allerdings nicht.
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a) Das Verwaltungsgericht ist bei der Berechnung der Wandhöhe zutreffend von der durch die Abgrabung veränderten Geländehöhe als unterem Bezugspunkt ausgegangen.
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Die Beigeladene ist der Ansicht, dass bei der Berechnung der maßgeblichen Wandhöhe nach Art. 6 Abs. 4 Sätze 1 und 2 BayBO von der natürlichen Geländeoberfläche als unterer Bezugspunkt ausgegangen werden müsse. Demgegenüber hat das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung die durch die geplante Abgrabung veränderte Geländehöhe zugrunde gelegt. Es ist hierbei zutreffend zunächst davon ausgegangen, dass, auch wenn der Gesetzgeber nicht mehr zwischen natürlicher und veränderter Geländehöhe unterscheidet, grundsätzlich auf die natürliche Geländehöhe, also auf die gewachsene und nicht die durch Aufschüttungen oder Abgrabungen veränderte Geländeoberfläche als unterer Bezugspunkt für die Bemessung der Wandhöhe abzustellen ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.2.2021 – 15 CS 21.403 – juris Rn. 98; B.v. 7.11.2017 – 1 ZB 15.1839 – juris Rn. 5). Sodann hat das Verwaltungsgericht einen Ausnahmefall bejaht, weshalb hier auf die durch Abgrabung veränderte Geländeoberfläche abzustellen sei (UA S. 10). Soweit die Beigeladene hiergegen anführt, das Verwaltungsgericht sei fehlerhaft von dem restriktiv anzuwendenden Ausnahmefall ausgegangen und führe keine Begründung für ein manipulatives, willkürliches Unterlaufen der gesetzlichen Regelung an, trifft dies nicht zu. Das Verwaltungsgericht begründet die Annahme des Ausnahmefalles und ein Abstellen auf die durch Abgrabung veränderte Geländeoberfläche vielmehr damit, dass das Nachbargrundstück tiefer liege als das Baugrundstück (UA S. 10 f.). Hiergegen ist nichts zu erinnern.
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Liegt das Nachbargrundstück tiefer als das Baugrundstück und gräbt der Bauherr das zum Nachbargrundstück weisende Gelände dauerhaft ab, so ist die Wandhöhe seines Gebäudes von der geplanten neuen Geländeoberfläche ausgehend zu berechnen (vgl. BayVGH, B.v. 23.12.2013 – 15 CS 13.2479 – juris Rn. 17; Kraus in Busse/Kraus, BayBO, Stand Oktober 2023, Grafik bei Art. 6 Rn. 194). Die sich aus einer Baugenehmigung durch eine Abgrabung ergebende (geringere) Höhe der Geländeoberfläche ist zwar dann nicht maßgebend, wenn die durch die Abgrabung geschaffene Vertiefung lediglich einen Teil des Baukörpers selbst darstellt, diesem unmittelbar zugeordnet ist, technisch mit ihm verbunden ist und der Funktion des angrenzenden Raums unmittelbar dient, wie dies z.B. bei Kellerlichtschächten oder Kellereingangstreppen in Betracht kommt (vgl. Waldmann in Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, Stand 1.10.2023, Art. 6 Rn. 138). Ein solcher Fall ist hier aber weder dargelegt noch ersichtlich. Im Übrigen setzt sich das Zulassungsvorbringen mit der vom Verwaltungsgericht angeführten, bestehenden Hanglage nicht weiter auseinander. Ob das Geländeniveau im Bereich des Bestandsgebäudes, an das der streitgegenständliche Anbau erfolgt, zwischenzeitlich zur natürlichen Geländeoberfläche geworden ist und bei der Geländeoberfläche im Bereich des Anbaus „nur“ eine Anpassung an das Geländeniveau im Bereich des Bestandsgebäudes erfolgt, ist irrelevant. Maßgebend ist vielmehr, dass die Geländeoberfläche im Bereich des Anbaus durch Abgrabung verändert wird und es dadurch für den tieferliegenden Nachbarn zu einer Erhöhung der Wandhöhe kommt. Damit werden durch Manipulation des Geländes die gesetzlichen Regelungen mit ihrem Schutzbezug im Dienste der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie des Nachbarschutzes (vgl. BayVGH, B.v. 21.2.2020 – 15 CS 20.45 – juris Rn. 30) unterlaufen.
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b) Das Verwaltungsgericht hat auch einen Abstandsflächenverstoß zutreffend bejaht.
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Soweit die Beigeladene vorträgt, der vom Verwaltungsgericht angenommene Abstandsflächenverstoß von weniger als einem Zentimeter führe zu keiner nennenswerten Beeinträchtigung, kommt es hierauf nicht an. Denn eine spürbare tatsächliche Beeinträchtigung des Nachbarn ist bei der Geltendmachung einer Verletzung des generell nachbarschützenden Art. 6 BayBO nicht erforderlich (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2020 – 15 ZB 19.2388 – juris Rn. 17 m.w.N.). Dies hat das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt (UA S. 12 f.).
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Auch der Hinweis der Beigeladenen, es bestehe zwar ein Anspruch auf „zentimetergenaue“ Einhaltung der Abstandsflächen (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2023 – 15 CS 23.603 – juris Rn. 9; B.v. 12.7.2021 – 1 ZB 21.735 – juris Rn. 8), der Abstandsflächenverstoß betrage hier jedoch nur acht Millimeter und liege damit innerhalb der visuell nicht wahrnehmbaren üblichen Bautoleranz, verfängt nicht. Mit dem Verwaltungsgericht ist davon auszugehen, dass der Nachbar einen Anspruch auf „genaue“ Einhaltung der Abstandsflächen hat (UA S. 12). Die Bayerische Bauordnung enthält keine Vorschriften über die Auf- oder Abrundung der Maße für Abstandsflächen (vgl. Waldmann in Molodovsky/Famers/Waldmann, a.a.O., Art. 6 Rn. 134; Schönfeld in Spannowsky/Manssen, Beck’scher Onlinekommentar Bauordnungsrecht Bayern, Stand 1.10.2023, Art. 6 Rn. 128), weshalb die Abstandsflächen maßgenau zu ermitteln sind. Es kommt auch nicht darauf an, ob sich eine eventuelle Bauausführung innerhalb der Maßtoleranzen bewegen würde oder nicht; vielmehr hat das Bauvorhaben den öffentlich-rechtlichen Vorschriften zu entsprechen, die nach Art. 59 Satz 1 bzw. Art. 60 Satz 1 BayBO Maßstab der Zulässigkeitsprüfung sind. Dies ist hier im Hinblick auf die einzuhaltende Abstandsfläche bei einer notwendigen Abstandsfläche von 3,013 m und einem Grenzabstand von 3,005 m nicht der Fall.
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2. Die Rechtssache hat auch nicht die von der Beigeladenen geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).
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Die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine konkrete, noch nicht geklärte Rechts- oder Tatsachenfrage aufgeworfen wird, deren Beantwortung sowohl für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war als auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird und die über den konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Anwendung oder für die Weiterentwicklung des Rechts hat. Zur Darlegung dieses Zulassungsgrundes ist eine Frage auszuformulieren und substantiiert anzuführen, warum sie für klärungsbedürftig und entscheidungserheblich gehalten und aus welchen Gründen ihr eine allgemeine, über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zugemessen wird (vgl. BVerwG, B.v. 22.1.2019 – 5 B 1.19 D – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 16.1.2024 – 15 ZB 23.1894 – juris Rn. 15). Dem wird das Zulassungsvorbringen nicht gerecht.
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Die Beigeladene macht geltend, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung, „insbesondere unter Berücksichtigung der Klärung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des natürlichen Geländeverlaufs zu dem geplanten Geländeverlauf bzw. zu dem geplanten Geländeverlauf im Falle von Hanggrundstücken bzw. Abgrabungen“. Damit formuliert sie schon keine konkrete Frage. Im Übrigen ist eine mögliche Anwendung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen und einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung für das Zulassungsverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).
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Mit der Entscheidung wird das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).