Inhalt

VGH München, Beschluss v. 11.03.2024 – 15 CS 24.116
Titel:

Ermessensausübung beim Erlass einer Beseitigungsanordnung

Normenketten:
BayBO Art. 76 S. 1
VwGO § 80 Abs. 3 S. 1, § 114
Leitsatz:
Die Möglichkeit eines Nachbarn, seine Rechte unmittelbar gegenüber dem "Störer" zivilrechtlich geltend zu machen, kann iRd Prüfung eines bauaufsichtlichen Einschreitens auf Antrag des Nachbarn je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls ein beachtlicher Ermessensgesichtspunkt sein. Dies gilt aber nicht in gleicher Weise bei einem Vorgehen vAw, da es grundsätzlich sachgerecht ist, den öffentlich-rechtlichen Nachbarschutz durch bauaufsichtliche Maßnahmen durchzusetzen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beseitigungsanordnung für einen Pavillon, Verhältnismäßigkeit., Beseitigungsanordnung, Ermessen, Ermessensfehler, Abstandsfläche
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 11.01.2024 – RN 6 S 23.2066
Fundstellen:
BayVBl 2024, 485
LSK 2024, 6195
BeckRS 2024, 6195

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens als Gesamtschuldner.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
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Die Antragsteller wenden sich gegen eine Beseitigungsanordnung des Antragsgegners.
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Anlässlich einer Baukontrolle im Juni 2023 stellte das zuständige Landratsamt fest, dass die Antragsteller im südöstlichen Bereich ihres Grundstücks einen Pavillon sowie nordwestlich des Pavillons eine Sichtschutzwand errichtet hatten. Der Pavillon befindet sich dabei an der Stelle, an der die Antragsteller bereits in den Jahren zuvor rechtskräftig zur Beseitigung eines Freisitzes verpflichtet worden waren (vgl. VG Regensburg, U.v. 2.9.2020 – RN 6 K 20.19; BayVGH, B.v. 10.11.2020 – 15 ZB 20.2323).
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Mit Bescheid vom 5. Oktober 2023 verpflichtete das Landratsamt den Antragsteller zu 2 zur Beseitigung des Pavillons (Nr. 1) und der Sichtschutzwand (Nr. 2) sowie die Antragstellerin zu 1 jeweils zur Duldung (Nr. 3). Zudem wurden die sofortige Vollziehung angeordnet (Nr. 4) und Zwangsgelder angedroht (Nr. 5 und 6). Hiergegen erhoben die Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht (RN 6 K 23.2061), über die noch nicht entschieden ist. Auf ihren Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stellte das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 5. Oktober 2023 betreffend die Sichtschutzwand wieder her und ordnete hinsichtlich der diese betreffenden Zwangsgeldandrohungen die aufschiebende Wirkung der Klage an; im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt. Mit ihrer Beschwerde wenden sich die Antragsteller gegen diese teilweise Ablehnung.
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Die Antragsteller sind der Ansicht, das Landratsamt habe keine einzelfallbezogenen Erwägungen angestellt. Der Sofortvollzug sei nur floskelhaft begründet. Außerdem seien die Anordnungen ermessensfehlerhaft, da die Herstellung rechtmäßiger Zustände auch durch die Beseitigung anderer Anlagen möglich sei und weder die Behörde noch das Verwaltungsgericht auf eine mögliche zivilrechtliche Geltendmachung durch die Nachbarn eingehe. Ein öffentliches Interesse an der Beseitigung sei nicht ersichtlich. Schließlich sei die zur Beseitigung eingeräumte Frist nicht angemessen, da den Antragstellern nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist nur ein Tag zur Umsetzung verbleibe. Dies verkürze die Rechtsschutzmöglichkeit der Antragsteller unangemessen.
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Die Antragsteller beantragen,
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den Beschluss des Verwaltungsgerichts abzuändern, soweit ihr Antrag abgelehnt wurde und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 5. Oktober 2023 auch hinsichtlich der Nrn. 1 und 3 (soweit sich jene auf Nr. 1 bezieht) sowie Nrn. 5 und 6 jeweils Buchst. a) wiederherzustellen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Das Beschwerdevorbringen erfülle die Darlegungsanforderungen nicht. Hinsichtlich der behaupteten mangelhaften Begründung setze sich die Beschwerde nicht mit der Argumentation des Verwaltungsgerichts auseinander, das auf das gezeigte Verhalten der Antragsteller abstelle. Es werde auch ausreichend auf die Belange der Antragsteller eingegangen, da der Pavillon eine leicht abzubauende Anlage darstelle. Auf die Möglichkeit der Beseitigung anderer baulicher Anlagen komme es nicht an, da das Verwaltungsgericht selbständig tragend einen Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht – unabhängig von einer Überschreitung der zulässigen Gesamtlänge an Grenzbebauung – festgestellt habe. Es sei auch nicht ersichtlich, weshalb ein zivilrechtliches Vorgehen der Nachbarn Auswirkungen auf die öffentlich-rechtliche Beseitigungsanordnung haben sollte. Das öffentliche Interesse liege gerade in der Herstellung rechtmäßiger Zustände. Die Frist zur Beseitigung betrage mehr als einen Monat. Wegen der Anordnung des Sofortvollzugs könnten sich die Antragsteller nicht auf die Ausschöpfung der Rechtsbehelfsfrist in der Hauptsache berufen.
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Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakte Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben oder abzuändern wäre.
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1. Das Verwaltungsgericht hat die Beachtung des formalen Begründungserfordernisses der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Beseitigungsanordnung im Bescheid vom 5. Oktober 2023 zu Recht bejaht.
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Die Begründung nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO muss kenntlich machen, dass sich die Behörde bewusst war, von einem rechtlichen Ausnahmefall Gebrauch zu machen. Hierzu müssen grundsätzlich die besonderen, auf den konkreten Fall bezogenen Gründe angegeben werden, die die Behörde dazu bewogen haben, den Suspensiveffekt auszuschließen (vgl. BayVGH, B.v. 18.10.2021 – 15 CS 21.2407 – juris Rn. 35). An dieses Begründungserfordernis sind jedoch inhaltlich keine allzu hohen Anforderungen zu stellen; es genügt vielmehr jede schriftliche Begründung, die zu erkennen gibt, dass die Behörde eine Anordnung des Sofortvollzugs im konkreten Fall für geboten erachtet (vgl. BayVGH, B.v. 30.1.2019 – 9 CS 18.2533 – juris Rn. 16).
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Gemessen daran hat das Verwaltungsgericht zutreffend darauf abgestellt, dass die Begründung im Bescheid vom 5. Oktober 2023, wonach das durch die Antragsteller gezeigte Verhalten eine Ignoranz der gesetzlichen Bestimmungen und behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen sowie der nachbarlichen Interessen erkennen läßt, in hinreichender Weise dem Begründungserfordernis Rechnung trage. Das Landratsamt habe sich mit dem vorliegenden Einzelfall auseinandergesetzt und konkret einzelfallbezogene Gründe angegeben (BA S. 11). Abgesehen davon, dass die bloße Behauptung der Antragsteller, es seien keine einzelfallbezogenen Erwägungen angestellt worden, dem Darlegungsgebot des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht Genüge leistet, ist dies im Hinblick auf das sowohl vom Verwaltungsgericht als auch im Bescheid beschriebene Verhalten der Antragsteller sowie die angegebene (prozessuale) Vorgeschichte, auch nicht richtig.
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Soweit sich dem Beschwerdevorbringen andeutungsweise entnehmen lässt, es fehle an einem besonderen Vollzugsinteresse i.S.d. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO, trifft dies hier nicht zu. Zwar ist für eine Beseitigungsanordnung ein besonderes Vollzugsinteresse erforderlich, das grundsätzlich nicht mit dem Interesse am Erlass des Bescheids identisch ist und regelmäßig im Hinblick auf das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 80 Abs. 1 und 2 VwGO nur ausnahmsweise vorliegen wird (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2019 – 9 CS 19.1170 – juris Rn. 13). Das Verwaltungsgericht ist jedoch von einem Ausnahmefall ausgegangen und hat darauf abgestellt, dass der Pavillon leicht abzubauen und dementsprechend bei einer sofortigen Durchsetzung der Beseitigungsanordnung keine Substanzvernichtung zu besorgen sei (BA S. 18 f.). Dem tritt die Beschwerde nicht entgegen.
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2. Das öffentliche Interesse am Sofortvollzug der Beseitigungsanordnung überwiegt hier auch das Suspensivinteresse der Antragsteller.
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Im Rahmen eines Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht aufgrund der sich im Zeitpunkt seiner Entscheidung darstellenden Sach- und Rechtslage eine eigene Ermessensentscheidung darüber, ob die Interessen, die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsakts sprechen, oder diejenigen, die für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung streiten, höher zu bewerten sind. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache zu berücksichtigen. Diese sind ein wesentliches, aber nicht das alleinige Indiz für und gegen den gestellten Antrag. Wird der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich erfolgreich sein (weil er zulässig und begründet ist), so wird regelmäßig nur die Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Wird dagegen der in der Hauptsache erhobene Rechtsbehelf voraussichtlich keinen Erfolg haben (weil er unzulässig oder unbegründet ist), so ist dies ein starkes Indiz für die Ablehnung des Eilantrags. Sind schließlich die Erfolgsaussichten offen, findet eine allgemeine, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der für und gegen den Sofortvollzug sprechenden Interessen statt (vgl. BVerwG, B.v. 11.11.2020 – 7 VR 5.20 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 17.2.2023 – 15 CS 23.95 – juris Rn. 23).
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Die angefochtene Beseitigungsanordnung ist voraussichtlich rechtmäßig. Nach Art. 76 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde die teilweise oder vollständige Beseitigung von Anlagen anordnen, wenn diese im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden und wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können. Das Beschwerdevorbringen zieht die tatbestandlichen Voraussetzungen der angefochtenen Beseitigungsanordnung nicht in Zweifel, sondern wendet sich allein gegen die Ermessensausübung und deren Prüfung durch das Verwaltungsgericht. Nach § 114 Satz 1 VwGO relevante Ermessensfehler werden allerdings von den Antragstellern nicht aufgezeigt.
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Die Beschwerde führt zunächst an, das Verwaltungsgericht habe zu Recht darauf hingewiesen, dass die Begründung, nachbarliches Einvernehmen sei nicht erforderlich und dessen Erteilung nicht zu erwarten, nicht tragfähig sei. Daraus ergibt sich allerdings kein Ermessensfehler. Denn das Verwaltungsgericht hat auf andere tragende Ermessenserwägungen abgestellt und dies nur klarstellend erwähnt.
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Soweit die Antragsteller einen Ermessensfehler unter Bezugnahme darauf, dass sich der Abstandsflächenverstoß wegen Überschreitung des zulässigen Gesamtumfangs grenzständiger Bebauung von 15 m gem. Art. 6 Abs. 7 Satz 2 BayBO aus der Addition der vorhandenen Grenzbebauungen einer Garage, eines grenzständigen Schuppens sowie des betroffenen Pavillons ergebe, darin sehen, dass die Herstellung rechtmäßiger Zustände auch durch die Beseitigung anderer Anlagen denkbar sei, geht dies fehl. Denn das Verwaltungsgericht hat – selbständig tragend – einen weiteren Abstandsflächenverstoß des Pavillons nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO festgestellt, da Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO wegen der Aufenthaltsqualität des Pavillons nicht zur Anwendung komme (BA S. 13). Damit könnte die im Rahmen der Ortseinsicht am 14. Juni 2023 durch den Antragsteller zu 2 überlegte Umgestaltung von vornherein nicht alle materiell-rechtlichen Verstöße beseitigen (vgl. BA S. 15). Unabhängig davon ist es Sache des Bauherrn, durch die Vorlage genehmigungsfähiger Pläne die (vollständige oder teilweise) Beseitigung abzuwehren (vgl. BayVGH, B.v. 19.7.2018 – 9 ZB 17.267 – juris Rn. 13). Anhaltspunkte dafür, dass dies dem Antragsteller zu 2 im bisherigen Verfahren unmöglich gemacht worden wäre, zeigt die Beschwerde nicht auf, zumal die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die leicht zu entfernende Anlage hier nicht zu hoch anzusetzen sind (vgl. BayVGH, B.v. 9.12.2015 – 15 CS 14.943 – juris Rn. 23).
21
Mit dem Einwand, weder die Behörde noch das Verwaltungsgericht gingen auf eine mögliche zivilrechtliche Geltendmachung durch den Nachbarn ein, bleiben die Antragsteller ebenfalls erfolglos. Die Möglichkeit eines Nachbarn, seine Rechte unmittelbar gegenüber dem „Störer“ zivilrechtlich geltend zu machen, kann im Rahmen der Prüfung eines bauaufsichtlichen Einschreitens auf Antrag des Nachbarn je nach den konkreten Umständen des Einzelfalls ein beachtlicher Ermessensgesichtspunkt sein (vgl. BVerwG, B.v. 10.12.1997 – 4 B 204.97 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 14.4.2003 – 15 ZB 99.2224 – juris Rn. 6). Dies gilt aber nicht in gleicher Weise bei einem Vorgehen von Amts wegen, da es grundsätzlich sachgerecht ist, den öffentlich-rechtlichen Nachbarschutz durch bauaufsichtliche Maßnahmen durchzusetzen. Die Bauaufsichtsbehörde ist bei nachbarschützenden Normen nicht gehalten, den Nachbarn auf den Zivilrechtsweg zu verweisen (vgl. BayVGH, U.v. 28.9.2001 – 2 B 95.1011 – juris Rn. 21).
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Schließlich verfängt auch das Vorbringen, eine Frist von nur einem Tag für die Beseitigung des Pavillons sei nicht angemessen und das Verwaltungsgericht verkenne Sinn und Zweck der Rechtsbehelfsfrist, nicht. Zum einen richtet sich die entsprechend Art. 36 Abs. 1 Satz 2 VwZVG gesetzte Frist zur Beseitigung des Pavillons bis 10. November 2023 nicht nach der Rechtsbehelfsfrist des Bescheids vom 5. Oktober 2023, der den Antragstellern am 9. Oktober 2023 zugestellt wurde. Sie beträgt daher nicht nur einen Tag, wie die Antragsteller meinen, sondern mehr als einen Monat. Dies ist – wie das Verwaltungsgericht ausführt – im Hinblick auf die einfach ab- und aufzubauende bauliche Anlage nicht unverhältnismäßig, zumal die Frist im Hinblick auf das anhängige Verfahren einstweiligen Rechtsschutzes offenbar stillschweigend verlängert wurde. Zum anderen müssen die Antragsteller aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung die Beseitigungsanordnung selbst bei einer zunächst rechtswidrigen Frist befolgen (vgl. BayVGH, B.v. 19.8.2010 – 1 CS 10.1430 – juris Rn. 16).
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).