Titel:
Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Drogenkonsums (Medizinalcannabis) – einstweiliger Rechtsschutz
Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5
BMG § 21 Abs. 2
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 7, § 46 Abs. 1 S. 1, S. 2, § 73 Abs. 2 S. 1, S. 2, Anl. 4 Nr. 9.2, 9.4, 9.6
BayVwVfG Art. 3 Abs. 3, Art. 44 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 Nr. 1, Art. 46
Leitsätze:
1. Die örtliche Zuständigkeit der Fahrerlaubnisbehörde richtet sich bei natürlichen Personen vorbehaltlich einer abweichenden Regelung nach dem Ort, in dem der Antragsteller oder Betroffene seine Wohnung – bei mehreren Wohnungen seine Hauptwohnung – hat, mangels einer solchen nach dem Aufenthaltsort. Als Hauptwohnung definiert das Bundesmeldegesetzes die vorwiegend benutzte Wohnung, wobei auf eine quantitative Beurteilung der Aufenthaltszeiten des Bewohners und nicht auf die Eintragung im Melderegister abzustellen ist (vgl. VGH München BeckRS 2022, 34092 Rn. 13). (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Regelung des § 73 Abs. 2 S. 2 FeV, wonach Anträge mit Zustimmung der örtlich zuständigen Behörde von einer gleichgeordneten auswärtigen Behörde behandelt und erledigt werden können, erfasst nicht Maßnahmen der Eingriffsverwaltung, wie die Entziehung der Fahrerlaubnis (VGH München BeckRS 2012, 58367 Rn. 50). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Wegfalls der Fahreignung durch eine örtlich unzuständige Fahrerlaubnisbehörde ist weder nichtig noch kann gem. Art. 46 BayVwVfG ihre Aufhebung verlangt werden, denn wenn sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist, hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis im Wege einer gebundenen Entscheidung ohne Ermessensspielraum zu entziehen (vgl. VGH München BeckRS 2022, 23704 Rn. 25 u. BeckRS 2022, 25862 Rn. 18). (Rn. 16 – 18) (redaktioneller Leitsatz)
4. Soll eine Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist, das medizinische Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (vgl. VGH München BeckRS 2024, 632 Rn. 11 mwN). Eine missbräuchliche Einnahme, die die Annahme fehlender Fahreignung rechtfertigt, kann zB bei einer Einnahme des Medikaments in zu hoher Dosis oder entgegen der ärztlichen Verschreibung angenommen werden (VGH München BeckRS 2023, 17189 Rn. 20). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entziehung der Fahrerlaubnis, Örtliche Zuständigkeit der Fahrerlaubnisbehörde, Feststehende Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen, Medizinalcannabis, Nicht bestimmungsgemäße Einnahme, Hauptwohnung nach dem Bundesmeldegesetz, Zustimmung der örtlich zuständigen Behörde, örtliche Unzuständigkeit der Fahrerlaubnisbehörde, Nichtigkeit oder Aufhebbarkeit einer Fahrerlaubnisentziehung wegen fehlender Fahreignung, Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis, Wegfall der Fahreignung, bestimmungsgemäße oder missbräuchliche Einnahme
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 19.12.2023 – RO 8 S 23.1694
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6191
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin wendet sich gegen den Sofortvollzug hinsichtlich der Entziehung ihrer Fahrerlaubnis und der Verpflichtung zur Ablieferung des Führerscheins.
2
Die 1981 geborene Antragstellerin war seit dem 8. Juli 2009 Inhaberin der Fahrerlaubnis der Klassen B mit Unterklassen. Eine Fahrt mit einem Kraftfahrzeug nach Konsum von Cannabis am 7. März 2018 ahndete das Bayerische Polizeiverwaltungsamt, Zentrale Bußgeldstelle, am 26. April 2018 als Ordnungswidrigkeit nach § 24a Abs. 2 StVG. Im Zusammenhang mit der Abklärung ihrer Fahreignung übersandte die Antragstellerin dem Landratsamt A.-S. zunächst ein ärztliches Attest vom 21. März 2019, wonach sie wegen einer chronischen Schmerzstörung, einer massiven Streckfehlhaltung der Halswirbelsäule und eines generalisierten Schmerzsyndroms bei Fibromyalgie und Tendomyopathie mit medizinischem Cannabis therapiert werde (Blüten der Sorte Bedrocan, Tagesdosis 0,5 bis 1,0 Gramm). Auf Aufforderung des Landratsamts brachte die Antragstellerin dann ein ärztliches Fahreignungsgutachten (Untersuchungsdatum 18.7.2019) bei. Gegenüber der Gutachterin hatte sie angegeben, 1998 zum ersten Mal einen Joint geraucht und danach sporadisch konsumiert zu haben. Ab ihrem 25. Lebensjahr habe sie täglich Joints und auch Bongs konsumiert. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis, die untersuchten verkehrsbedeutsamen Leistungsfunktionen seien ausreichend. Unter den gegebenen Umständen sei die ärztliche Verordnung und Anwendung von Medizinalcannabis trotz des zuvor illegalen Cannabiskonsums gerechtfertigt. Daraufhin verpflichtete das Landratsamt die Antragstellerin, regelmäßig nachzuweisen, dass das für Medizinalcannabis ausgestellte Privatrezept tatsächlich eingelöst werde, bis die Krankenkasse die Kostenübernahme erkläre. In der Folgezeit legte die Antragstellerin die geforderten Rezepte für Cannabisblüten zur Inhalation für die Zeit ab 16. Januar 2019 vor (Tagesdosis zunächst 1 Gramm, ab Mai 2021 erhöht auf 2 Gramm, ab Januar 2023 wieder reduziert auf 1 Gramm).
3
Durch Mitteilung der Polizeiinspektion A. erhielt das Landratsamt Kenntnis von einer Durchsuchung der Wohnung der Antragstellerin und ihres Lebensgefährten am 19. Oktober 2022, bei der unter anderem 121,2 Gramm getrocknete Marihuana-Blattmasse, 1,28 Gramm Haschisch, 0,45 Gramm Marihuana-Tabakgemisch und zwei Grinder mit Cannabisrückständen gefunden wurden. Mit Verfügung vom 16. Februar 2023 stellte die Staatsanwaltschaft A. das Ermittlungsverfahren gegen die Antragstellerin wegen Handels mit oder Herstellens von oder Abgabe bzw. Besitz von nicht geringen Mengen Betäubungsmitteln gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein.
4
Am 18. Februar 2023 wurde die Antragstellerin um 19:30 Uhr von der Polizei als Führerin eines Kraftfahrzeugs kontrolliert. Gegenüber den Polizeibediensteten gab sie an, sie habe zuletzt gegen 17:30 Uhr zwei Joints in der Wohnung geraucht. Die ihr um 20:30 Uhr entnommene Blutprobe ergab folgende Werte: THC: 104 ng/ml, 11-Hydroxy-THC: 27 ng/ml, THC-Carbonsäure: 422 ng/ml.
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Nach Anhörung entzog das Landratsamt Sch., das die Bearbeitung übernommen hatte, der Antragstellerin mit Bescheid vom 4. September 2023 unter Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis und verpflichtete sie zur Abgabe des Führerscheins. Die Nichteignung stehe zur Überzeugung des Landratsamts fest. Die nachgewiesenen Wirkstoffkonzentrationen lägen um ein Vielfaches höher als bei bestimmungsgemäßer Einnahme von medizinischem Cannabis anzunehmen wäre. Außerdem habe die Antragstellerin eingeräumt, zwei Joints geraucht zu haben, obwohl ihr die Cannabisblüten zur Inhalation verordnet worden seien.
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Am 18. September 2023 ging der Führerschein der Antragstellerin beim Landratsamt ein.
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Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 15. September 2023 ließ die Antragstellerin beim Verwaltungsgericht Regensburg Klage gegen den Bescheid erheben, über die das Gericht noch nicht entschieden hat. Den ebenfalls am 15. September 2023 eingereichten Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 19. Dezember 2023 abgelehnt. Der bei der am 18. Februar 2023 entnommenen Blutprobe festgestellte THC-Carbonsäurewert von 422 ng/ml sei nur bei regelmäßigem Cannabiskonsum zu erreichen. Eine eindeutige ärztliche Verordnung im Hinblick auf Gebrauch und Dosierung liege nicht vor, weshalb die Antragstellerin sich nicht auf das Arzneimittelprivileg berufen könne. Belege für eine regelmäßige ärztliche Überwachung der Medikamenteneinnahme lägen ebenfalls nicht vor. Die Tagesdosierungen und die Cannabissorten in den vorgelegten Rezepten variierten stark und stimmten weder mit den Angaben der Antragstellerin noch mit dem Attest vom 21. März 2019 überein. Da die Antragstellerin angegeben habe, am Tag der Verkehrskontrolle zwei Joints geraucht zu haben, liege auch keine zuverlässige, der ärztlichen Verordnung der Cannabisblüten zur Inhalation entsprechende Einnahme vor.
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Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der der Antragsgegner entgegentritt, lässt die Antragstellerin ausführen, das Landratsamt Sc.habe die Zuständigkeit aus welchen Gründen auch immer an sich gerissen. Sie habe niemals im Zuständigkeitsbereich dieses Landratsamts gewohnt. Die Einnahme von Medizinalcannabis sei indiziert und ärztlich verordnet worden. Das zuständige Landratsamt A.-S. habe die Antragstellerin auf der Grundlage des damals eingeholten Fahreignungsgutachtens sogar verpflichtet, Cannabis zu konsumieren, weil sie nur unter Cannabiseinfluss in der Lage sei, sicher am Straßenverkehr teilzunehmen. Sie habe die Rezepte regelmäßig vorgelegt. Dass sie zusätzlich Cannabis konsumiert habe, sei eine nicht bewiesene Spekulation. Mit den in ihrer Wohnung aufgefundenen Drogen und Utensilien habe sie nichts zu tun. Das gegen sie nach der Hausdurchsuchung eingeleitete Strafverfahren sei gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt und der seinerzeit mit ihr zusammen lebende Lebensgefährte weiterverfolgt worden. Im Bußgeldverfahren wegen Genusses berauschender Mittel habe das Amtsgericht Amberg die Antragstellerin freigesprochen und ihr die Cannabisfahrt vom 18. Februar 2023 nicht zum Vorwurf gemacht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.
10
Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern oder aufzuheben wäre. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist und die Klage der Antragstellerin keine Aussicht auf Erfolg hat, weshalb auch die Interessenabwägung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu ihren Ungunsten ausfällt.
11
1. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis ist der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, hier also der Bescheiderlass am 4. September 2023, maßgeblich (vgl. BVerwG, U.v. 7.4.2022 – 3 C 9.21 – BVerwGE 175, 206 Rn. 13; U.v. 4.12.2020 – 3 C 5.20 – BVerwGE 171, 1 Rn. 12; U.v. 11.4.2019 – 3 C 14.17 – BVerwGE 165, 215 Rn. 11).
12
a) Zwar dürfte – jedenfalls nach Aktenlage – das Landratsamt Sc.für die Entziehung der Fahrerlaubnis örtlich nicht zuständig gewesen sein. Die Antragstellerin kann jedoch allein deshalb nicht die Aufhebung des Bescheids verlangen, weil offensichtlich ist, dass die Verletzung der Zuständigkeitsvorschriften die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
13
aa) Bei natürlichen Personen richtet sich die örtliche Zuständigkeit gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), vor Bescheiderlass zuletzt geändert durch Verordnung vom 20. Juli 2023 (BGBl I Nr. 199), vorbehaltlich einer abweichenden Regelung nach dem Ort, in dem der Antragsteller oder Betroffene seine Wohnung – bei mehreren Wohnungen seine Hauptwohnung – hat, mangels einer solchen nach dem Aufenthaltsort. Als Hauptwohnung definiert § 21 Abs. 2 des Bundesmeldegesetzes (BMG), auf den § 73 Abs. 2 Satz 1 FeV ausdrücklich verweist, die vorwiegend benutzte Wohnung. Zur Bestimmung einer Wohnung als Hauptwohnung gemäß § 21 Abs. 2 BMG ist auf eine quantitative Beurteilung der Aufenthaltszeiten des Bewohners und nicht auf die Eintragung im Melderegister abzustellen (vgl. BayVGH, B.v. 14.11.2022 – 5 ZB 21.2538 – juris Rn. 13; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Auflage 2023, § 73 FeV Rn. 6; Geiger in Münchener Kommentar zum Straßenverkehrsrecht, Band 1, 1. Auflage 2016, § 73 FeV Rn. 3).
14
Soweit ersichtlich wohnt die Antragstellerin seit Jahren und wohnte sie auch bei Erlass des angefochtenen Bescheids durchgehend und ausschließlich in S. (Landkreis Amberg-Sulzbach). Örtlich zuständig wäre damit das Landratsamt A.-S. und nicht das Landratsamt S. gewesen. Die irrtümliche Annahme eines Wohnsitzwechsels nach W. (Landkreis Schwandorf) und damit der örtlichen Zuständigkeit des Landratsamts S. beruht nach Aktenlage (Mitteilung der Polizeiinspektion N. vom 28.6.2023) darauf, dass die Antragstellerin sich offenbar am 12. September 2022 in W. angemeldet hatte, um dort einen Schul- oder Kindergartenplatz zu bekommen. Auch die Polizei geht jedoch davon aus, dass sie dort tatsächlich zu keinem Zeitpunkt gewohnt hat, was die Antragstellerin ebenfalls geltend macht. Damit war die örtliche Zuständigkeit des Landratsamts S. nicht gegeben. Sie ergibt sich auch nicht aus der vom Landratsamt A.-S. mit Schreiben vom 5. Juli 2023 erteilten „Zustimmung gemäß § 73 Abs. 2 FeV“. Nach § 73 Abs. 2 Satz 2 FeV können Anträge mit Zustimmung der örtlich zuständigen Behörde von einer gleichgeordneten auswärtigen Behörde behandelt und erledigt werden. Maßnahmen der Eingriffsverwaltung – hier die Entziehung der Fahrerlaubnis – fallen nicht unter diese Regelung (BayVGH, U.v. 12.3.2012 – 11 B 10.955 – juris Rn. 50; B.v. 20.2.2007 – 11 CS 06.2029 – juris Rn. 18).
15
Die örtliche Zuständigkeit des Landratsamts S. kann auch nicht aus der neben § 73 Abs. 2 Satz 2 FeV anwendbaren Vorschrift des Art. 3 Abs. 3 BayVwVfG hergeleitet werden, die grundsätzlich auch bei irriger behördlicher Annahme der Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 Satz 2 FeV in Betracht kommt (vgl. BayVGH, B.v. 20.2.2007 a.a.O. Rn. 19 f.). Danach kann bei einer Änderung der die Zuständigkeit begründenden Umstände im Lauf des Verwaltungsverfahrens die bisher zuständige Behörde das Verwaltungsverfahren fortführen, wenn dies unter Wahrung der Interessen der Beteiligten der einfachen und zweckmäßigen Durchführung des Verfahrens dient und die nunmehr zuständige Behörde zustimmt. Eine solche Konstellation durch Umzug der Antragstellerin im Laufe des Verfahrens liegt hier jedoch nicht vor. Vielmehr war die örtliche Zuständigkeit des Landratsamts S. zu keinem Zeitpunkt gegeben.
16
bb) Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt, kann die Antragstellerin die Aufhebung des Bescheids jedoch nicht allein wegen dieses Zuständigkeitsverstoßes verlangen. Nach Art. 46 BayVwVfG kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts, der nicht nach Art. 44 nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
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So liegt es hier. Die Entziehung der Fahrerlaubnis war nicht nach Art. 44 BayVwVfG nichtig. Sie leidet trotz der örtlichen Unzuständigkeit des Landratsamts S. nicht an einem besonders schwerwiegenden Fehler, der bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist (Art. 44 Abs. 1 BayVwVfG). Ein Verwaltungsakt ist nicht schon deshalb nichtig, weil Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit nicht eingehalten worden sind, außer wenn ihn eine Behörde in Bezug auf unbewegliches Vermögen außerhalb ihres Bezirks oder in Bezug auf ein Recht oder Rechtsverhältnis, das an einen Ort außerhalb ihres Bezirks gebunden ist, erlassen hat, ohne dazu ermächtigt zu sein (Art. 44 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. Abs. 3 Nr. 1 BayVwVfG). Eine solche Fallgestaltung liegt hier aber nicht vor.
18
Dass der Zuständigkeitsfehler die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat, ist offensichtlich. Die Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Wegfalls der Fahreignung ist eine gebundene Entscheidung. Erweist sich der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes – StVG – vom 5.3.2003 [BGBl I S. 310, 319], im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch das am 1.7.2023 in Kraft getretene Gesetz vom 12.7.2021 [BGBl I S. 3091], § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV). Dies gilt insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist (§ 46 Abs. 1 Satz 2 FeV). Die Fahrerlaubnisbehörde hat bei feststehender Fahrungeeignetheit, wovon aus den nachstehend dargelegten Gründen hier auszugehen ist, keinen Ermessensspielraum. Dies hat zur Folge, dass die Antragstellerin die Aufhebung des Bescheids gemäß Art. 46 BayVwVfG nicht beanspruchen kann (vgl. BayVGH, B.v. 9.9.2022 – 11 CS 22.1504 – juris Rn. 25; B.v. 20.9.2022 – 11 ZB 22.1446 – juris Rn. 18).
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b) Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist materiellrechtlich offensichtlich rechtmäßig. Die Ungeeignetheit der Antragstellerin zum Führen von Kraftfahrzeugen steht mit hinreichender Gewissheit fest, ohne dass es der gutachterlichen Abklärung bedurft hätte (§ 11 Abs. 7 FeV).
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aa) Die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bei ärztlich verordneter Einnahme von Medizinalcannabis richtet sich nach Nr. 9 der Anlage 4 zur FeV. Danach entfällt bei Einnahme von ärztlich verordnetem Cannabis die Fahreignung grundsätzlich nicht schon wegen regelmäßigen Cannabiskonsums (Nr. 9.2.1 der Anlage 4 zur FeV), wenn es sich um die bestimmungsgemäße Einnahme eines für einen konkreten Krankheitsfall verschriebenen Arzneimittels im Sinne von Nr. 3.14.2 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (Vkbl S. 110) in der Fassung vom 17. Februar 2021 (Vkbl S. 198) handelt. Insoweit definieren Nr. 9.4 und Nr. 9.6 der Anlage 4 zur FeV speziellere Anforderungen für Eignungsmängel, die aus dem Gebrauch psychoaktiver Arzneimittel resultieren (vgl. BayVGH, B.v. 29.4.2019 – 11 B 18.2482 – BayVBl 2020, 419 Rn. 23 m.w.N.). Soll eine Dauerbehandlung mit Medizinalcannabis nicht zum Verlust der Fahreignung führen, setzt dies voraus, dass die Einnahme von Cannabis indiziert und ärztlich verordnet ist, das medizinische Cannabis zuverlässig nur nach der ärztlichen Verordnung eingenommen wird, keine dauerhaften Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen sind, die Grunderkrankung bzw. die vorliegende Symptomatik keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung aufweist, die eine sichere Verkehrsteilnahme beeinträchtigt, und nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene in Situationen, in denen seine Fahrsicherheit durch Auswirkungen der Erkrankung oder der Medikation beeinträchtigt ist, am Straßenverkehr teilnehmen wird (vgl. Handlungsempfehlung der Ständigen Arbeitsgruppe Beurteilungskriterien [StAB] zur Fahreignungsbegutachtung bei Cannabismedikation, aktualisierte Fassung vom August 2018 [https://dgvm-verkehrsmedizin.de/wp-content/uploads/2019/10/Handlungsempfehlung-_Cannabismedikation_v2_Stand-15.08.2018.pdf]; BayVGH, B.v. 5.1.2024 – 11 CS 23.1818 – juris Rn. 11; B.v. 31.5.2023 – 11 ZB 23.152 – juris Rn. 16; B.v. 2.5.2023 – 11 CS 23.78 – juris Rn. 15; VGH BW, U.v. 27.9.2023 – 13 S 517/23 – DAR 2024, 38 Rn. 29 f.; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, § 2 StVG Rn. 62a). Eine missbräuchliche Einnahme, die z.B. bei einer Einnahme des Medikaments in zu hoher Dosis oder entgegen der ärztlichen Verschreibung angenommen werden kann, beurteilt sich nach Nr. 9.4 der Anlage 4 zur FeV und schließt danach die Fahreignung aus (BayVGH, B.v. 3.7.2023 – 11 C 23.363 – juris Rn. 20).
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bb) Von einer solchen missbräuchlichen Einnahme, die die Annahme fehlender Fahreignung gemäß § 11 Abs. 7 FeV rechtfertigt, ist das Landratsamt hier zutreffend ausgegangen.
22
Eine Stunde nach der Fahrt am 18. Februar 2023 und drei Stunden nach dem von der Antragstellerin eingeräumten Cannabiskonsum durch zwei Joints in der Wohnung wurde ihr eine Blutprobe entnommen, bei der außerordentlich hohe Werte festgestellt wurden, die durch die Einnahme des ihr ärztlich verordneten Medizinalcannabis nicht zu erklären sind. Dem ärztlichen Attest vom 21. März 2019 zufolge sollte die Tagesdosierung 0,5 bis 1 Gramm betragen. Den vorgelegten Rezepten ist zu entnehmen, dass die Dosis zwischenzeitlich auf 2 Gramm pro Tag erhöht, dann jedoch zuletzt wieder auf 1 Gramm reduziert wurde. Ein dem zugrundeliegendes aktuelles ärztliches Attest bzw. ein Betäubungsmittelrezept auf dem amtlichen Formblatt mit den erforderlichen Angaben (vgl. §§ 8, 9 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung – BtMVV – vom 20.1.1998 [BGBl I S. 74, 80], zuletzt geändert durch Gesetz vom 19.7.2023 [BGBl I Nr. 197]), liegt der Fahrerlaubnisbehörde nach Aktenlage nicht vor. Allerdings wurde die Antragstellerin hierzu, soweit ersichtlich, bisher auch nicht aufgefordert. Jedenfalls haben, worauf das Landratsamt zutreffend hinweist, Fallstudien ergeben, dass bei gesichert bestimmungsgemäßer Einnahme ein THC-Mittelwert im Blut von 1,6 ± 2,2 ng/ml, ein 11-Hydroxy-THC Mittelwert von 1,0 ± 1,5 ng/ml und ein THC-Carbonsäure-Mittelwert von 23,9 ± 28,4 ng/ml zu erwarten wäre (vgl. Geile/Graw/Maas/Doberentz/Madea, Medizinisches Cannabis im Straßenverkehr, Blutalkohol 58/2021, S. 1 ff./6, Tab. 2). Bei nicht bestimmungsgemäßer Einnahme ergaben sich Mittelwerte von 9,6 ± 10,1 ng THC/ml Blutserum, 5,1 ± 5,6 11-Hydroxy-THC ng/ml Blutserum und 135,3 ± 184,2 ng THC-Carbonsäure/ml Blutserum (Geile/Graw/Maas/Doberentz/Madea, a.a.O.; vgl. auch BayVGH, B.v. 3.7.2023 a.a.O. Rn. 19, 21; VGH BW, U.v. 27.9.2023 a.a.O. Rn. 51). Die bei der Antragstellerin mehrere Stunden nach dem letzten Konsum festgestellten Werte von 104 ng THC/ml Blutserum, 27 ng 11-Hydroxy-THC/ml Blutserum und 422 ng THC-Carbonsäure/ml Blutserum liegen damit im gesicherten Bereich einer nicht bestimmungsgemäßen Einnahme des verordneten Medizinalcannabis. Auch die eingeräumte Konsumform durch Rauchen von Joints entspricht nicht der ärztlichen Verordnung des Konsums durch Inhalation.
23
Damit kommt der Antragstellerin das Arzneimittelprivileg nicht zugute. Ohnehin kann nicht davon ausgegangen werden, dass Cannabiskonsumenten bei ärztlicher Verordnung die Sicherheit des Straßenverkehrs nicht gefährden (vgl. Wagner/Brenner-Hartmann/Kirsten/Löhr Schwab, Patienten unter Cannabistherapie als Verkehrsteilnehmende, Blutalkohol 59/2022, S. 412 ff./422). Studien zur Unfallursachenforschung haben ergeben, dass das Risiko eines Verkehrsunfalls mit Todesfolge bei THCpositiven Fahrern bei einer THC-Konzentration im Serum von 10 ng/ml oder mehr auf das nahezu Siebenfache steigt (Möller in Hettenbach/Kalus/Möller/Pießkalla/Uhle, Drogen und Straßenverkehr, 3. Auflage 2016, S. 399 Rn. 122). Auch wenn Cannabiskonsumenten oder -patienten mit häufigerem Konsum im Vergleich zu nur gelegentlichen Konsumenten aufgrund der Ausbildung einer Cannabistoleranz möglicherweise geringere Leistungseinbußen zeigen, bedeutet dies nicht, dass der regelmäßige Konsum ohne Auswirkungen auf das Leistungsbild bliebe. Dies bedürfte, wie im Fall der Antragstellerin 2019 angeordnet und geschehen, einer gutachterlichen Abklärung, die nach mehrjährigem Konsum ggf. zu wiederholen wäre.
24
Unabhängig von den auf eine nicht bestimmungsgemäße Einnahme hinweisenden Blutwerten kann auch keine Rede davon sein, dass das Landratsamt A.-S. die Antragstellerin zum Konsum von Medizinalcannabis oder gar zur Teilnahme am Straßenverkehr ausschließlich nach einem solchen Konsum verpflichtet hätte. Abgesehen davon, dass hierfür keine Rechtsgrundlage bestünde, beschränkte sich die vom Landratsamt im September 2019 ausgesprochene und von der Antragstellerin akzeptierte Verpflichtung auf den regelmäßigen Nachweis, dass das für Medizinalcannabis ausgestellte Privatrezept bis zur Kostenübernahme durch die Krankenkasse tatsächlich eingelöst wird. Grund hierfür waren die im ärztlichen Fahreignungsgutachten vom 15. August 2019 (Versandtag) zum Ausdruck gebrachten Zweifel, ob es der Antragstellerin ohne Kostenübernahme der Krankenkasse auf Dauer und ohne Einschränkung möglich sein werde, die Beträge für das verordnete Medizinalcannabis aufzubringen.
25
Ebenfalls ohne Bedeutung sind die Einstellung des staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahrens wegen Handels mit oder Herstellens von oder Abgabe bzw. Besitz von nicht geringen Mengen Betäubungsmitteln gemäß § 170 Abs. 2 StPO nach der Wohnungsdurchsuchung und der Freispruch durch Urteil des Amtsgerichts Amberg vom 24. November 2023 im Bußgeldverfahren wegen Genusses berauschender Mittel. Dies ändert nichts an der feststehenden, nicht bestimmungsgemäßen Einnahme von Cannabis.
26
c) Die Antragstellerin ist daher darauf zu verweisen, ihre Kraftfahreignung in einem etwaigen Wiedererteilungsverfahren im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Untersuchung nach § 14 Abs. 2 Nr. 1 FeV zu belegen. Dabei wird auch der Frage nachzugehen sein, ob sie zusätzlich zur Medikation (weiterhin) unerlaubt THChaltige Stoffe konsumiert und ob eine etwaige Verhaltensänderung als stabil einzustufen ist. Ferner wird aufgrund der Fahrt unter Cannabiseinfluss am 18. Februar 2023 auch das Trennungsverhalten der Antragstellerin bezüglich der Teilnahme am Straßenverkehr nach Konsum von Cannabis abzuklären sein.
27
d) Die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins, der die Antragstellerin bereits Folge geleistet hat, ergibt sich aus § 47 Abs. 1 FeV.
28
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 47, § 52 Abs. 1 i.V.m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG und den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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3. Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).