Titel:
Erfolglose Beschwerde gegen eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz: Abstandsflächen und Befreiung von Baugrenzen im Hinblick auf das Rücksichtnahmegebot
Normenketten:
BauGB § 31 Abs. 2
BayBO Art. 6
Leitsätze:
1. Werden die Abstandsflächen auch unter Berücksichtigung des Unterschieds im Gelände eingehalten, führt das regelmäßig dazu, dass aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt sein wird. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit dem Vortrag, dass die Befreiung von den Baugrenzen gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme verstoße, wird eine Verletzung des Nachbarn in eigenen Rechten nicht aufgezeigt. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Gebot der Rücksichtnahme, erdrückende Wirkung (verneint), Befreiung von Baugrenzen für Terrasse u.a., Befreiung von Baugrenzen für Terrasse, Rücksichtnahmegebot, Baugrenze, Befreiung, Terrasse, Abstandsfläche, Abstandsflächenrecht
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 12.12.2023 – M 9 SN 23.4031
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6188
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 3.750 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Errichtung eines Einfamilienhauses auf dem Grundstück FlNr. …7, Gemarkung S. … Das Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans Nr. 17 „An der F. … Straße“ in M. …, 2. Änderung. Die Baugenehmigung enthält Befreiungen zur Überschreitung der im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen für das Wohngebäude, einen Lichtschacht sowie für einen Pool und eine Terrasse. Ein zusätzlicher Kellerraum und ein Lichtschacht wurden mit Tekturbescheid genehmigt.
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Der Antragsteller ist Eigentümer des südöstlich an das Vorhabengrundstück angrenzenden unbebauten Grundstücks FlNr. …8 sowie des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks FlNr. …9, das südöstlich an das vorgenannte Grundstück angrenzt.
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Der Antragsteller erhob gegen die Baugenehmigung und die Tekturgenehmigung Klage und stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage, den das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt hat. Die Baugenehmigung verletze den Antragsteller – auch bei unterstellter Unwirksamkeit des Bebauungsplans – nicht in seinen Rechten. Die Abstandsflächen seien eingehalten, von dem Vorhaben gehe keine erdrückende Wirkung aus. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot sei nicht gegeben. Die Befreiung von den Baugrenzen begegne keinen Bedenken. Eine drittschützende Wirkung der festgesetzten Baugrenzen liege nicht vor.
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Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Rechtsschutzziel weiter.
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Der Antragsgegner sowie die Beigeladenen treten der Beschwerde entgegen.
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Ergänzend wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht ist nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung zu Recht davon ausgegangen, dass die Nachbarklage des Antragstellers im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos bleiben wird, sodass das Interesse an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegenüber dem Vollzugsinteresse des Beigeladenen nachrangig ist.
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1. Das Beschwerdevorbringen legt einen Verstoß gegen das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot (§ 15 Abs. 1 Satz 2 BauGB) nicht dar. Dem Rücksichtnahmegebot kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem gegenüber Rücksicht genommen werden muss, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücknahmebegünstigten und andererseits dem Rücknahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 2.11.2022 – 15 CS 22.2024 – juris Rn. 14).
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1.1. Eine Rücksichtslosigkeit aufgrund einer vom Baukörper ausgehenden „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung in Folge des Nutzungsmaßes eines Bauvorhabens kann als unzumutbare Beeinträchtigung nach der Gesamtschau der Umstände des konkreten Einzelfalls nur bei nach Höhe und Volumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht kommen (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – DVBl, 1981, 928; BVerwG, U.v. 23.5.1986 – 4 C 34.85 – DVBl, 1986, 1271). Sofern die Abstandsflächen eingehalten sind, kommt regelmäßig ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot in Form einer erdrückenden Wirkung aus tatsächlichen Gründen nicht in Betracht (vgl. zur Indizwirkung: BayVGH, B.v. 4.10.2022 – 1 CS 22.1871 – juris Rn. 10; U.v. 25.2.2022 – 15 N 21.2219 – juris Rn. 20; B.v. 18.2.2020 – 15 CS 20.57 – BayVBl. 2020, 340).
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Das Verwaltungsgericht hat die notwendige Gesamtschau vorgenommen und die konkrete Grundstückssituation einschließlich der Lage, der Höhe und Abstände der Baukörper sowie der bestehenden Hanglage bewertet. Die Abstandsflächen zum (allein maßgeblichen) südöstlich angrenzenden unbebauten Grundstück des Antragstellers werden – auch unter Berücksichtigung des Unterschieds im Gelände (vgl. BayVGH, B.v. 9.10.2012 – 15 CS 12.1852 – juris Rn. 10) – eingehalten. Dies führt regelmäßig dazu, dass aus tatsächlichen Gründen das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt sein wird. Das entsprechend den Festsetzungen der 2. Änderung des Bebauungsplans unveränderte natürliche Gelände auf dem Vorhabengrundstück wird zum Grundstück des Antragstellers lediglich im Bereich der Terrasse und des Pools um bis zu ca. 1,60 m erhöht. Der vom Beschwerdevorbringen angeführte unzumutbare maximale Höhenunterschied von bis zu 2 m betrifft allein diese Nebenanlagen, die sich im rückwärtigen Grundstücksteil in einer Entfernung von ca. 10 m bis 16 m von der Grundstücksgrenze befinden. Mit dem nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts bestehenden maximalen Höhenunterschied zwischen dem Standort des Hauptbaukörpers des Bauvorhabens und dem Grundstück des Antragstellers von etwas über 1 m ist die Zumutbarkeitsschwelle nicht überschritten. Die erkennbare gewisse Verschärfung der Situation, die durch den topographisch bedingten Niveauunterschied bedingt ist, ist angesichts der vorliegenden großzügigen Abstände nicht unzumutbar. Dass ein hangseitiger Baukörper auf einem tiefer liegenden Grundstück immer relativ höher erscheint, liegt von vornherein in der Natur der Sache.
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Eine andere Beurteilung ist auch nicht im Hinblick auf den geltend gemachten Vertrauensschutz bezüglich der Festsetzungen des ursprünglichen Bebauungsplans veranlasst, die – anders als die 2. Änderung – einen Geländeabtrag erfordert haben. Denn ein solches Vertrauen in nicht mehr geltende Festsetzungen ist nicht schutzwürdig. Ein nach § 30 Abs. 1 BauGB zu beurteilendes Vorhaben ist bauplanungsrechtlich zulässig, wenn es den im Zeitpunkt der Genehmigung maßgeblichen Festsetzungen entspricht, und die Erschließung gesichert ist; auf ursprüngliche Festsetzungen, die außer Kraft gesetzt wurden, muss der Bauherr keine Rücksicht nehmen. Im Übrigen bleibt es dem Antragsteller unbenommen, das Grundstück bei einer potentiellen Bebauung wieder an die ursprüngliche Geländehöhe anzupassen.
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Soweit die Unwirksamkeit der 2. Änderung des Bebauungsplans geltend gemacht wird, fehlen Ausführungen dazu, welche Auswirkungen dies auf das vorliegende Verfahren haben soll.
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1.2. Auch eine unzumutbare Einsichtsmöglichkeit auf das angrenzende Grundstück des Antragstellers liegt nicht vor. Dafür ist auf eine Beeinträchtigung der potentiellen Bebauung abzustellen, für die der Bebauungsplan ein im Verhältnis zum Vorhabengrundstück weiter nach Osten ausgerichtetes Baufenster vorsieht. Denn Rücksicht zu nehmen ist nur auf solche Interessen des Nachbarn, die wehrfähig sind, weil sie nach der gesetzgeberischen Wertung, die im materiellen Recht ihren Niederschlag gefunden hat, schützenswert sind (vgl. BVerwG, U.v. 28.10.1993 – 4 C 5.93 – BauR 1994, 354). Das Gebot der Rücksichtnahme vermittelt keinen generellen Schutz vor unerwünschten Einblicken. Vielmehr sind Einsichtsmöglichkeiten in bebauten innerörtlichen Bereichen grundsätzlich als sozialadäquat hinzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 9.1.2024 – 1 CS 23.2032 u.a. – juris Rn. 20; B.v. 25.2.2022 – 15 N 21.2219 – juris Rn. 21). Soweit der Antragsteller beanstandet, dass ein wirkungsvoller Sichtschutz im Freibereich aufgrund der Vorgaben im Bebauungsplan und den Vorschriften des AGBGB insbesondere aufgrund der erhöht liegenden Terrasse und des Pools nicht erzielt werden könne, weisen die Beteiligten zu Recht auf die an der Grundstücksgrenze zum Vorhabengrundstück bereits angepflanzten Bäume hin, die – neben Sträuchern – als geeignete Sichtschutzmaßnahmen in Betracht kommen. Aufgrund des großzügigen Abstands der Nebenanlagen von der Grundstücksgrenze sowie eines Mindestabstands von 5 m zur Grundstücksgrenze im südöstlichen Bereich ist nicht nachvollziehbar, dass dem Antragsteller, der auch schon bisher mit einer Einsichtnahme infolge einer Bebauung in Hanglage zu rechnen hatte, kein Rückzugsbereich mehr auf seinem Grundstück verbleibt.
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1.3. Der Antragsteller kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Wertminderung in einem über eine situationsbedingte Entwicklung hinausgehenden Höhenunterschied zwischen dem Vorhabengrundstück und seinem Grundstück bestehe, das er entsprechend der Festsetzungen des ursprünglichen Bebauungsplans abgetragen habe. Unter dem Gesichtspunkt der Wertminderung kommt ein nachbarlicher Abwehranspruch nur dann in Betracht, wenn die Wertminderung die Folge einer dem Betroffenen unzumutbaren Beeinträchtigung der Nutzungsmöglichkeiten des Grundstücks ist (vgl. BVerwG, B.v. 13.11.1997 – 4 B 195.97 – NVwZ-RR 1998, 540; B.v. 6.12.1996 – 4 B 215.96 – NVwZ-RR 1997, 516), wofür vorliegend keine Anhaltspunkte bestehen.
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2. Mit dem Vortrag, dass die Befreiung von den Baugrenzen gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme verstoße, wird eine Verletzung des Antragstellers in eigenen Rechten nicht aufgezeigt. Festsetzungen zur überbaubaren Grundstücksfläche sind – wie auch das Beschwerdevorbringen anerkennt – grundsätzlich nicht drittschützend (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 – 4 B 52.95 – NVwZ 1996, 170; BayVGH, B.v. 31.5.2021 – 1 ZB 19.2034 – juris Rn. 5). Ein vom Planungswillen der Gemeinde abhängiger Drittschutz ist nicht ansatzweise dargetan. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass sich ein Nachbar auf eine allein objektiv rechtswidrige Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung des Bebauungsplans nur berufen kann, wenn er durch das Vorhaben infolge der zu Unrecht erteilten Befreiung unzumutbar beeinträchtigt wird (vgl. BVerwG, B.v. 8.7.1998 – 4 B 64.98 – NVwZ-RR 1999, 8; BayVGH, B.v. 31.5.2021 – 1 ZB 19.2034 – juris Rn. 5). Dies ist aus dem vom Verwaltungsgericht dargestellten Gründen, die ebenfalls nicht substantiiert in Zweifel gezogen werden, nicht der Fall.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO VwGO. Es entspricht der Billigkeit, dem Antragsteller auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen nach § 162 Abs. 3 VwGO aufzuerlegen, weil die Beigeladene einen Antrag gestellt und sich damit dem Kostenrisiko des § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt haben.
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Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1, § 52 Abs. 1‚ § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. 1.1.3, 1.5 und 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
18
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).