Titel:
Ausweisung von assoziationsrechtlich privilegierten türkischen Staatsangehörigen
Normenketten:
EMRK Art. 8
ARB 1/80 Art. 7 S. 1, Art. 14
GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 6 Abs. 1, Abs. 2
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, § 55 Abs. 1 Nr. 4
FreizügG/EU § 6
BZRG § 51 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei einer Ausweisung von assoziationsrechtlich privilegierten türkischen Staatsangehörigen ist die Ausweisungsverfügung ebenfalls am Maßstab von § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG zu messen, da § 53 Abs. 3 AufenthG exakt die Voraussetzungen wiedergibt, die nach ständiger Rechtsprechung für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen gem. Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein mussten (stRspr, vgl. zB VGH München BeckRS 2023, 13690; vgl. auch BVerwG BeckRS 2022, 10733). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts bei der Entscheidung über die Strafrestaussetzung rechtlich nicht gebunden. Allerdings kommt diesen tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu, weshalb es für eine abweichende Einschätzung der Wiederholungsgefahr einer substantiierten, eigenständigen Begründung bedarf. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (stRspr, vgl. VGH München BeckRS 2015, 43077; zum Begriff des faktischen Inländers vgl. zB VGH München BeckRS 2023, 37892 mwN). (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ablehnung der Verlängerung des Aufenthaltstitels, assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger, Inzidentprüfung der Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung, rechtlicher Maßstab der Ausweisungsverfügung, Gefahrenprognose, Wiederholungsgefahr der Begehung weiterer Betäubungsmitteldelikte, Strafrestaussetzung zur Bewährung, Interessenabwägung, faktischer Inländer, familiäre Beziehungen zu Ehefrau und Sohn, bevorstehende Geburt eines weiteren Kindes, Verlängerung des Aufenthaltstitels, Inzidentprüfung, Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung, Wiederholungsgefahr, Betäubungsmitteldelikte
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 08.01.2024 – M 12 S 23.4914
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6185
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.
Gründe
1
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein in erster Instanz erfolgloses Eilrechtsschutzbegehren weiter, mit dem er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Ablehnung seiner Anträge auf Erteilung bzw. Verlängerung des Aufenthaltstitels, das – infolge der gleichzeitig ergangenen Ausweisung – sofort vollziehbar verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie die Abschiebungsandrohung in die Türkei mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 11. August 2023 begehrt.
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Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren, auf dessen Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt keine Abänderung des angegriffenen Beschlusses.
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Das Verwaltungsgericht hat die Ablehnung der Verlängerung des Aufenthaltstitels des Antragstellers, die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sowie die Abschiebungsandrohung als voraussichtlich rechtmäßig erachtet und bei seiner Prüfung inzident (auch) die Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung (als Grundlage des Einreise- und Aufenthaltsverbots) bejaht, weil das persönliche Verhalten des assoziationsberechtigten Antragstellers gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich sei (§ 53 Abs. 3 AufenthG).
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Die dagegen mit der Beschwerde erhobenen Rügen des Antragstellers greifen nicht durch.
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Mit dem unter Verweis auf Kommentarliteratur erhobenen Einwand, die Ausweisung von assoziationsrechtlich privilegierten türkischen Staatsangehörigen könne nicht allein auf § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG gestützt werden, sondern unterliege den zusätzlichen Anforderungen des Assoziationsrechts, über Art. 14 ARB 1/80 seien die europarechtlich determinierten Maßstäbe des § 6 FreizügG/EU entsprechend zu berücksichtigen, wird nicht aufgezeigt, dass das Verwaltungsgericht, das ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht des Antragstellers nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 angenommen hat, der Prüfung der Ausweisung einen falschen Maßstab zugrunde gelegt hat. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht die angefochtene Ausweisungsverfügung zurecht am Maßstab von § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG gemessen, da § 53 Abs. 3 AufenthG exakt die Voraussetzungen wiedergibt, die nach ständiger Rechtsprechung für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen gemäß Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein mussten (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 6.6.2023 – 19 ZB 22.1978 – juris Rn. 10 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, U.v. 16.2.2022 – 1 C 6.21 – juris Rn. 25 und 27; so im Übrigen auch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand November 2023, § 53 Rn. 186 a.E.).
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Soweit der Antragsteller gegen die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts weiter einwendet, es seien aktuell keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass er erneut mit hinreichender Wahrscheinlichkeit straffällig werde, die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe (von vier Jahren und fünf Monaten) wegen der Anlasstat reiche dafür nicht aus, das Strafgericht habe in seinem Fall eine positive Entscheidung über die Strafrestaussetzung zur Bewährung getroffen und er habe nun bereits fast die Hälfte der Bewährungsdauer unter Beweis gestellt, dass er ein straffreies und betäubungsmittelfreies Leben führen könne, greift dies nicht durch.
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Das Verwaltungsgericht hat in der angegriffenen Entscheidung festgestellt, dass vom mit Urteil des Landgerichts München I vom 28. März 2022 u.a. wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und fünf Monaten verurteilten Antragsteller zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine erhebliche Wiederholungsgefahr der Begehung weiterer Straftaten insbesondere im Bereich der Betäubungsmitteldelikte ausgehe und sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln und deren Einfuhr gehe eine schwerwiegende Gefahr aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit nähmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang ein. An die Wahrscheinlichkeit einer erneuten Straffälligkeit des Antragstellers seien deshalb keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Dieser habe offensichtlich tiefgreifende Kontakte zum internationalen Drogenhandel gepflegt. Auch die bei den einzelnen Tatkomplexen festgestellte große Menge an Marihuana und die vom Antragsteller gezeigte erhebliche kriminelle Energie ließen seine Taten als schwerwiegend erscheinen. Zudem sei gegen den Antragsteller bereits im Jahr 2010 ein Ausweisungsverfahren betrieben worden, das im Ergebnis aber nicht zu einer bestandskräftigen Ausweisung geführt habe. Gleichwohl habe sich der Antragsteller dieses Verfahren nicht zur Warnung dienen lassen, sondern sei im Jahr 2018 dem Motorradclub „Hells Angels“ beigetreten und habe die anlassgebenden massiven Straftaten begangen. Auch in der Haft habe er sich nicht beanstandungsfrei geführt und sei dreimal disziplinarisch in Erscheinung getreten. Dies zeige deutlich, dass der Antragsteller trotz seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht gewillt sei, sich an Recht und Gesetz zu halten. Es bestehe daher die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass er auch in Zukunft, insbesondere im Fall einer schlechten finanziellen Lage, seine Kontakte ins Drogenmilieu oder zu den „Hells Angels“ wiederaufleben lassen werde.
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Diese Erwägungen des Erstgerichts vermögen auch angesichts der Entscheidung des Landgerichts München I vom 13. September 2023 über die Strafrestaussetzung (noch zu verbüßender Strafrest: 412 Tage) beim Antragsteller zur Bewährung (Bewährungszeit drei Jahre) und seiner Entwicklung seit der Haftentlassung im Dezember 2022 die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr im Sinne von § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG (noch) zu tragen.
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Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts bei der Entscheidung über die Strafrestaussetzung rechtlich nicht gebunden. Allerdings kommt diesen tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu, weshalb es für eine abweichende Einschätzung der Wiederholungsgefahr einer substantiierten, eigenständigen Begründung bedarf (stRspr des BVerfG, vgl. zuletzt B.v. 6.12.2021 – 2 BvR 860/21 – juris Rn. 19 m.w.N.). Das Verwaltungsgericht hat insoweit zutreffend nicht nur auf besondere Umstände der anlassgebenden Betäubungsmittelstraftaten des Antragstellers wie die betroffenen großen Mengen an Betäubungsmitteln (Marihuana), die hochprofessionelle Vorgehensweise des Antragstellers und seine offensichtlich tiefgreifenden Kontakte zum internationalen Drogenhandel abgestellt und trotz des Handels mit der „weichen“ Droge Marihuana eine erhebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, insbesondere der höchstrangingen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit von Drogenkonsumenten mit einem aus diesem Grund abgesenkten Wahrscheinlichkeitsmaßstab, angenommen. Es hat darüber hinaus bei seiner Einschätzung auch berücksichtigt, dass der Antragsteller sich ein bereits im Jahr 2010 eingeleitetes Ausweisungsverfahren, das allerdings aufgrund des Urteils des Verwaltungsgerichtshofs vom 5. März 2013 (10 B 12.2219) mit der Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und Aufhebung des Ausweisungsbescheids vom 25. November 2010 endete, nicht hat zur Warnung dienen lassen, sondern vielmehr im Jahr 2018 dem aufgrund seiner Nähe zur organisierten Kriminalität vom Verfassungsschutz beobachteten Club „Hells Angels“ beigetreten ist und die anlassgebenden massiven Betäubungsmittelstraftaten begangen hat. Weiter hat das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt, dass sich der Antragsteller auch in der Haft nicht beanstandungsfrei geführt hat und dort dreimal disziplinarisch geahndet werden musste. Schließlich hat das Erstgericht die Gefahr der Wiederherstellung der Kontakte des Antragstellers ins Drogenmilieu bzw. zu den „Hells Angels“ insbesondere in einer schlechten finanziellen Lage aufgrund bestimmter (vom Landgericht München I in dessen Beschluss zur Fortdauer der Untersuchungshaft vom 20.7.2020 angeführter) Anhaltspunkte für einen nicht dauerhaften Ausstieg aus der Gruppierung bejaht.
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Dem hält die Beschwerde entgegen, die positive Prognose des Strafgerichts habe sich insoweit bestätigt, als fast die Hälfte der Bewährungszeit abgelaufen und der Antragsteller in dieser Zeit – wie bereits zuvor – unter Beweis gestellt habe, dass er in der Lage sei, ein straffreies und betäubungsmittelfreies Leben zu führen. Die erstmalige Verurteilung des Antragstellers, der zudem erstmals eine Hafterfahrung erlitten habe, sei nicht ausreichend, um eine konkrete Wiederholungsgefahr zu begründen. Vielmehr sei zu erwarten, dass seine Erfahrung als Erstverbüßer mit besonderer Haftempfindlichkeit ausreichend sei, um ihn künftig von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Dass der Antragsteller dazu in der Lage und gewillt sei, habe er seit der Haftentlassung unter Beweis gestellt.
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Zwar trifft zu, dass der Antragsteller mit den Anlasstaten erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, da alle der im gerichtlichen Verfahren aufgehobenen Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin vom 25. November 2010 zugrundeliegenden Verurteilungen im Bundeszentralregister getilgt sind. Nichtzutreffend ist jedoch die Behauptung des Antragstellers, er habe erstmals eine Hafterfahrung erlitten, weshalb bei ihm – wie regelmäßig – von einer besonderen Haftempfindlichkeit und letztlich einer günstigen Legalprognose auszugehen sei. Denn der Antragsteller befand sich – auch ausweislich der Feststellungen im Strafurteil des Landgerichts München I (Feststellungen zur Person, S. 3 des Strafurteils, Bl. 837 der Behördenakte) – bereits als Jugendlicher bzw. Heranwachsender längere Zeit (mehr als zwei Jahre) in Haft. Diese Erfahrung hat ihn offensichtlich nicht davon abgehalten, Jahre später die anlassgebenden massiven Betäubungsmittelstraftaten zu begehen. Entgegen der Auffassung des Antragstellers verstößt es auch nicht gegen das Verwertungsverbot gemäß § 51 Abs. 1 BZRG, dass das Verwaltungsgericht das mit dem Ausweisungsbescheid vom 25. November 2010 eingeleitete, aber letztlich nicht bestandskräftig abgeschlossene Ausweisungsverfahren und dessen Warnfunktion im Hinblick auf die die Vernichtung der Legalität des Aufenthalts des Ausländers und die drohende Beendigung seines Aufenthalts (vgl. dazu Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, Vorbem. §§ 53-56 – Ausweisung, Rn. 21) im Rahmen seiner Einschätzung der Wiederholungsgefahr mit herangezogen hat. Ebenso wenig steht dem entgegen, dass der Verwaltungsgerichtshof in dem bereits angeführten Urteil vom 5. März 2013 (10 B 12.2219) die Ausweisungsverfügung vom 25. November 2010 unter Würdigung der schützenswerten Belange des Antragstellers als jedenfalls nicht unerlässlich und damit ermessensfehlerhaft bewertet und demgemäß aufgehoben hat (UA Rn. 36). Denn dadurch werden frühere Strafverfahren des Antragstellers nicht zur Entscheidungsgrundlage bezüglich der streitbefangenen Ausweisung gemacht. Schließlich liegt der Einwand der (bevorstehenden) Legalisierung des Erwerbs und des Besitzes von Marihuana zum Eigenkonsum, der auch eine Neubewertung der Gefahrenprognose im Hinblick auf das Handeltreiben bedingen würde, ersichtlich neben der Sache.
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Ebenfalls unzutreffend ist die Einlassung, dass der Antragsteller anhand mehrerer Abstinenznachweise belegt habe, keine Betäubungsmittel mehr zu konsumieren. Dazu hat bereits das Landgericht München I in seiner Entscheidung vom 13. September 2023 über die Strafrestaussetzung ausgeführt, dass der Antragsteller bis dahin keinen einzigen vollständigen Nachweis eines Drogenscreenings vorgelegt habe. Auch die beiden mit der Beschwerdebegründung vorgelegten Befundmitteilungen vom 10. März 2023 und 19. Juni 2023 über Urinuntersuchungen des Forensisch-Toxikologischen Zentrums M. auf ausgewählte Substanzen sind zum einen unvollständig und damit nicht aussagekräftig und zum anderen auch nicht mehr hinreichend aktuell. Die Justizvollzugsanstalt München hat im Verfahren über die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung diese Maßnahme (nur) unter der Voraussetzung befürwortet, dass der Antragsteller nachweislich eine ambulante Therapie absolviert und ein negatives Drogenscreening vorlegen kann. Dem ist das Strafgericht allerdings unter Hinweis darauf, dass es im Strafurteil einen Hang im Sinne des § 64 StGB beim Antragsteller verneint und zudem festgestellt habe, dass kein Zusammenhang zwischen den abgeurteilten Taten und dem moderaten Rauschgiftkonsum des Antragstellers bestehe, nicht gefolgt.
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Dass der Antragsteller nach seinem Vortrag inzwischen sein soziales Umfeld geändert, sich insbesondere von den „Hells Angels“ losgesagt hat, in den letzten Monaten einen positiven Lebenswandel vollzogen und sich ausschließlich auf seine Familie konzentriert hat, ist mit Blick auf die noch länger laufende Bewährungszeit, insbesondere aber auch seine Vorgeschichte im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats noch nicht ausreichend, eine Wiederholungsgefahr bei ihm zu verneinen.
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Soweit der Antragsteller die erstinstanzliche Interessenabwägung beanstandet, greifen seine Rügen ebenfalls nicht durch.
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Das Verwaltungsgericht hat das im Fall des Antragstellers gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1b AufenthG indizierte besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse als gegenüber dem (ebenfalls) besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG auch unter Berücksichtigung der sonstigen in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände überwiegend angesehen und die Ausweisung angesichts dessen auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK als nicht unverhältnismäßig erachtet. Der Antragsteller habe sich während seines Aufenthalts im Bundesgebiet nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass ihm ein Leben in seinem Herkunftsland (Türkei) unzumutbar wäre. Von einer Entwurzelung von seinem Heimatland könne nicht ausgegangen werden. Er sei ein erwerbsfähiger erwachsener Mann, der auch in sprachlicher und kultureller Hinsicht in der Lage sein werde, sich in der Türkei eine neue Existenzgrundlage aufzubauen. Das Verlöbnis mit einer deutschen Staatsangehörigen unterfalle noch nicht dem Schutzbereich des Art. 6 GG. Hinsichtlich der Beziehung zu seinem im April 2017 geborenen deutschen Sohn sei festzustellen, dass sich die Trennung vom Vater für diesen nicht als eine völlig neue Situation, sondern vielmehr bereits seit Jahren gelebte Realität darstelle, und es sich auch nicht mehr um ein Kleinkind handle, das den vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen könne.
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Hiergegen wendet die Beschwerde ein, der Antragssteller sei zweifelsohne faktischer Inländer und habe zu seinem Herkunftsland keinen näheren Bezug. Seine Eltern, seine deutsche Ehefrau (Eheschließung am 27.10.2023) und seine Kinder (Niederkunft des zweiten gemeinsamen Kindes im Juli 2024) lebten im Bundesgebiet. Zu seinen in der Türkei noch lebenden Familienangehörigen habe er keinen Kontakt. Die türkische Sprache beherrsche er nicht einwandfrei. Die Ausweisung greife massiv in das Grundrecht auf Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 6 GG ein. Mit der inzwischen erfolgten Eheschließung sei dessen Schutzbereich auch hinsichtlich seiner Ehefrau eröffnet, deren Interessen schutzwürdig seien, da das Verlöbnis bereits vor der erfolgten Ausweisung eingegangen und ein gemeinsames Kind geboren worden sei. Seine deutsche Ehefrau habe ebenso wenig wie seine Kinder einen Bezug zur Türkei. Eine Trennung von sechs Jahren (Sperrfrist) bedeute für die Beziehung zu seinem 2017 geborenen Sohn einen gravierenden und nicht reversiblen Einschnitt, weil das Kind die sehr prägende Zeit fast bis zur Pubertät ohne Vater zurechtkommen müsse. Bisher bestehe eine sehr intensive Vater-Kind-Beziehung. Die Geburt des zweiten Kindes würde der Antragsteller im Falle seiner Ausreise nicht miterleben. Auch würde diesem Kind die Möglichkeit genommen, seinen Vater kennenzulernen und eine Beziehung zu ihm aufzubauen. Die Ehefrau sei infolge der fortschreitenden Schwangerschaft auf seine Anwesenheit im Bundesgebiet angewiesen; die drohende Ausreise belaste sie schwer. Ohne die Möglichkeit einer Unterstützung durch die Großeltern sei die familiäre Situation mit einem sechsjährigen betreuungsbedürftigen Kind und der Schwangerschaft kaum zu bewältigen. Nach alledem überwiege das Bleibeinteresse des Antragstellers.
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Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (stRspr, vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 77; B.v. 6.6.2023 – 19 ZB 22.1978 – juris Rn. 11 jew. m.w.N.). Dabei hat das Verwaltungsgericht den Begriff des faktischen Inländers (vgl. z.B. BayVGH, U.v. 4.12.2023 – 10 B 23.963 – juris Rn. 40 m.w.N.) nicht verkannt und die diesbezüglichen Vorgaben der EMRK in rechtlich nicht zu beanstandender Weise berücksichtigt. Auch für faktische Inländer besteht kein generelles Ausweisungsverbot. Allerdings ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen (stRspr des BVerfG, vgl. z.B. B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24 m.w.N.).
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Das Verwaltungsgericht hat bezüglich der „Verwurzelung“ des Antragstellers zu Recht darauf hingewiesen, dass die neben der persönlichen und sozialen (auch) zu bewertende wirtschaftliche Integration im Bundesgebiet beim Antragsteller mangels Schul- und Ausbildungsabschluss und lediglich unqualifizierten Beschäftigungsverhältnissen nicht bzw. wenig gelungen ist. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht auch davon ausgegangen, dass beim Antragsteller von einer vollständigen „Entwurzelung“ deshalb nicht ausgegangen werden kann, weil er über ausreichende, erforderlichenfalls ausbaufähige, türkische Sprachkenntnisse und Verwandte in der Türkei als erste Anlaufstelle verfügt. Dazu hat die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung unwidersprochen darauf verwiesen, dass sich der Antragsteller in der Vergangenheit mehrfach, einmal auch für längere Zeit, in der Türkei aufgehalten habe und dort inzwischen insbesondere seine beiden ebenfalls ausgewiesenen bzw. abgeschobenen Brüder Ce. und Ci. lebten. Die Folgerung des Erstgerichts, auch unter Berücksichtigung der besonderen Härte der angefochtenen Ausweisung für den Antragsteller sei diesem die Integration in der Türkei sowohl sprachlich, kulturell, aber auch wirtschaftlich möglich und zumutbar, ist vor diesem Hintergrund rechtlich nicht zu beanstanden.
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Auch bezüglich der familiären Bindungen (Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) des Antragstellers werden mit der Beschwerde Fehler des Verwaltungsgerichts bei der Gewichtung der einzelnen Belange und vor allem der Gesamtabwägung nicht aufgezeigt.
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Die Beziehung des Antragstellers zu seiner Ehefrau (Eheschließung vor dem Standesamt München am 27.10.2023) wird, worauf die Beschwerde zu Recht hinweist, nunmehr durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützt. Insoweit ist allerdings auch zu berücksichtigen, dass die Ehe zu einem Zeitpunkt geschlossen wurde, als sich der Antragsteller bereits aufgrund des streitbefangenen Bescheids in einer ausländerrechtlich prekären Lage befand und er und seine frühere Verlobte nicht damit rechnen konnten, die Beziehung ohne weiteres im Bundesgebiet fortführen zu können, was die Schutzwürdigkeit dieser ehelichen Beziehung mindert (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, U.v. 22.5.2023 – 10 B 23.99 – juris Rn. 43 m.w.N.).
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Die Beziehung des Antragstellers zu seinem am 6. April 2017 geborenen Sohn, der deutscher Staatsangehöriger ist und mit dem er nach seiner Haftentlassung im Dezember 2022 wieder in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, hat das Verwaltungsgericht rechtsfehlerfrei gewürdigt. Hierbei hat es zutreffend berücksichtigt, dass es sich nicht mehr um ein Kleinkind handelt, das eine zeitweise Trennung vom Antragsteller als dauerhaft begreifen würde, und dass ein auf Besuche bzw. Fernkommunikationsmittel beschränkter Kontakt mit seinem Vater im Zeitraum September 2019 bis Dezember 2022 für das Kind bereits gelebte Realität gewesen ist. Schließlich hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass der Antragsteller den Kontakt mit seinem Sohn durch die verschiedenartigen Formen moderner Kommunikation und auch die mögliche Erteilung von Betretenserlaubnisse (§ 11 Abs. 8 AufenthG) aufrechterhalten kann. Dem tritt die Beschwerde nicht substantiiert entgegen. Vor diesem Hintergrund wird mit der Rüge, eine Trennung von sechs Jahren (Sperrfrist) sei ein gravierender und nicht reversibler Einschnitt für die Vater-Kind-Beziehung und bedeute eine erhebliche Belastung für das Kind, die erstgerichtliche Würdigung der familiären Bindung des Antragstellers zu seinem Sohn nicht durchgreifend erschüttert, zumal sich die Beschwerde zur Angemessenheit der festgesetzten Sperrfrist nach § 11 Abs. 3 AufenthG und die diesbezüglichen Erwägungen des Verwaltungsgerichts nicht verhält. Das Beschwerdevorbringen zeigt insbesondere nicht auf, dass diese Trennung gleichwohl zu einer Gefährdung des Kindeswohls führen könnte.
22
Ein anderes Abwägungsergebnis ist auch nicht unter dem Gesichtspunkt der für Ende Juli 2024 erwarteten Geburt eines weiteren Kindes des Antragstellers und seiner Ehefrau geboten. Die Vaterschaft eines hier lebenden Ausländers für ein noch ungeborenes Kind stellt einen Umstand dar, der unter dem Gesichtspunkt des Schutzes der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG und der Pflicht des Staates, sich gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 1, Art. 1 Abs. 1 GG schützend und fördernd vor das ungeborene Kind zu stellen, aufenthaltsrechtliche Vorwirkungen im Sinne eines Abschiebungshindernisses entfalten kann (BayVGH, B.v. 12.8.2022 – 10 ZB 22.1511 – juris Rn. 19 m.w.N.). Angesichts der beim Antragsteller noch bestehenden erheblichen Wiederholungsgefahr der Begehung weiterer Straftaten insbesondere im Bereich der Betäubungsmitteldelikte (s. oben) und der dadurch bedrohten höchstrangingen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit von Drogenkonsumenten führt auch das Interesse dieses Kindes, eine Beziehung zu seinem Vater aufzubauen, nicht zu einem Überwiegen des Bleibeinteresses des Antragstellers und der Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung.
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Soweit die Beschwerde schließlich geltend macht, die Ehefrau sei bei fortschreitender Schwangerschaft durch die drohende Ausreise des Antragstellers schwer belastet und auf die psychische und physische Unterstützung durch den Antragsteller insbesondere auch bei der Betreuung des sechsjährigen Sohnes angewiesen, wird dies durch die dazu vorgelegte handschriftliche Erklärung der Mutter der Ehefrau und die ärztliche Bescheinigung zur Vorlage bei der Ausländerbehörde der Frauenärztin Dr. A. K. jeweils vom 8. Februar 2024 nicht hinreichend belegt. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Sohn bereits das Schulalter aufweist und die Ehefrau offensichtlich auch im (Haft-)Zeitraum September 2019 bis Dezember 2022 ohne die Unterstützung des Antragstellers ausgekommen ist.
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Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
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Die Streitwertfestsetzung beruht aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 39 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 2 GKG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).