Titel:
Eilverfahren gegen Baugenehmigung für Mehrfamilienhäuser
Normenketten:
BayBO Art. 45
BImSchG § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 22 Abs. 1 Nr. 1
TA Lärm Nr. 2.3
Leitsätze:
1. Eine heranrückende Wohnbebauung verletzt gegenüber einem bestehenden emittierenden Betrieb das Gebot der Rücksichtnahme, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Geltungsbereich der TA Lärm besteht grundsätzlich die Möglichkeit der Anordnung von nicht öffenbaren Fenstern, die dann keine relevanten Messpunkte iSv Nr. 2.3 TA Lärm iVm Nr. A.1.3 Anh. TA Lärm darstellen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gebot der Rücksichtnahme, Kein Immissionsort bei festverglasten Elementen, einstweiliger Rechtsschutz, Nachbarantrag, heranrückende Wohnbebauung, Supermarkt
Vorinstanz:
VG München, Beschluss vom 20.12.2023 – M 1 SN 22.5762
Fundstelle:
BeckRS 2024, 6181
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
III. Der Streitwert wird auf 7.500 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen die der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung zur Errichtung von zwei Mehrfamilienhäusern auf den Grundstücken FlNr. … und …51, Gemarkung G.
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Der Antragsteller ist Eigentümer des westlich an die Vorhabengrundstücke angrenzenden Grundstücks FlNr. …6, das im Geltungsbereichs eines Bebauungsplans liegt, der als Art der Nutzung ein Mischgebiet festsetzt. Das Grundstück ist mit einem Lebensmitteldiscounter bebaut. Die hierzu ergangene Baugenehmigung vom 22. Januar 2007 enthält insbesondere Lärmschutzauflagen für die umliegende Wohnbebauung.
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Das Landratsamt erteilte der Beigeladenen am 3. August 2022 die Baugenehmigung unter den Nebenbestimmungen, dass im Dachgeschoss des Hauses 1 das westliche Fenster des Kinderzimmers und im Haus 2 das westliche Fenster des Kinderzimmers und die südliche Doppeltür des Standgiebels im Wohnzimmer festverglast auszuführen sind. Die Nebenbestimmungen beruhen auf einem von der Beigeladenen eingeholten schalltechnischen Gutachten, das zum Bestandteil der Baugenehmigung erklärt wurde.
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Der Antragsteller erhob gegen die Baugenehmigung Klage und stellte einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage, den das Verwaltungsgericht mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt hat. Die Baugenehmigung verletze den Antragsteller voraussichtlich nicht in seinen Rechten, insbesondere verstoße die Baugenehmigung gegenüber dem Antragsteller nicht gegen das bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme. Durch das Vorhaben ständen keine unzumutbaren Einschränkungen für den Supermarkt zu befürchten. Die beauflagten Schallschutzmaßnahmen in der angegriffenen Baugenehmigung stellten sicher, dass das Vorhaben keinen schädlichen Lärmimmissionen ausgesetzt werde.
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Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller sein Rechtsschutzbegehren weiter. Die Beigeladene sowie der Antragsgegner traten der Beschwerde entgegen.
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Die zulässige Beschwerde hat keinen Erfolg. Die dargelegten Gründe (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung. Das Verwaltungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Nachbarklage des Antragstellers im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos bleiben wird, sodass das Interesse an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegenüber dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen nachrangig ist.
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Die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung verstößt voraussichtlich nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme.
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Dem Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – BVerwGE 148, 290). Es wird zulasten des Nachbarn verletzt, wenn durch das geplante Vorhaben die Nutzung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt wird, also unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit der Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen überschritten wird, was der Nachbar billigerweise hinnehmen muss (vgl. BVerwG, B.v. 10.1.2013 – 4 B 48.12 – BauR 2013, 934; BayVGH, B.v. 29.1.2016 – 15 ZB 13.1759 – juris Rn. 21). Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Zur Bestimmung der Grenze der Zumutbarkeit von Umwelteinwirkungen ist grundsätzlich auf die Begriffsbestimmungen des Immissionsschutzrechts (§ 3 Abs. 1 BImSchG) und auf dessen materiell-rechtliche Maßstäbe (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG) zurückzugreifen (vgl. BVerwG, U.v. 23.9.1999 – 4 C 6.98 – BVerwGE 109, 314). Eine heranrückende Wohnbebauung verletzt gegenüber einem bestehenden emittierenden Betrieb das Gebot der Rücksichtnahme, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betrieb durch die hinzutretende Bebauung mit nachträglichen Auflagen rechnen muss (vgl. BayVGH, B.v. 9.6.2020 – 15 CS 20.901 – juris Rn. 27).
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1. Das Wohnbauvorhaben des Beigeladenen setzt sich voraussichtlich nicht unzumutbaren Lärmbelastungen aus, sodass der Betrieb auf dem Grundstück des Antragstellers keine Einschränkungen zu befürchten hat. Die Baugenehmigung für den Supermarkt auf dem Grundstück des Antragstellers enthält Lärmschutzauflagen für die in der Umgebung bereits vorhandene Wohnbebauung. Die darin festgesetzten Immissionswerte sind für den Betrieb des Supermarkts bindend, auch wenn der Baugenehmigung für den Supermarkt keine Betriebsbeschreibung zu Grunde lag. Der Betrieb ist an die in der Genehmigung festgesetzten Werte auszurichten. Das schallschutztechnische Gutachten für das streitgegenständliche Vorhaben hat die in diesen Auflagen festgesetzten Werte seiner Beurteilung zu Grunde gelegt und ist dabei im Sinn einer worst-case Betrachtung zu Gunsten des Antragstellers davon ausgegangen, dass der Betrieb des Supermarkts die festgelegten Immissionswerte voll ausschöpft. Auch bei Ausschöpfung der Immissionswerte werden nach den Ausführungen in dem schalltechnischen Gutachten, die das Beschwerdevorbringen nicht substantiiert in Frage stellt, an den Immissionsorten des Vorhabens die Immissionswerte eines allgemeinen Wohngebiets von 55 dB(A) tags und 40 dB(A) nachts unter Berücksichtigung der Vorbelastung durch die umliegenden Märkte (insbesondere der Nahversorger NKD und EDEKA) eingehalten. Da bereits das Schutzniveau eines allgemeinen Wohngebiets eingehalten wird, konnte das Verwaltungsgericht die Frage offenlassen, ob das Vorhaben nur das Schutzniveau eines Mischgebiets oder eines wegen einer Gemengelage zu bildenden, gegenüber einem allgemeinen Wohngebiet reduzierten Zwischenwerts beanspruchen könnte.
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2. Die vom Antragsteller beanstandeten Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach der Betrieb des Supermarkts über die im Genehmigungsbescheid für den Supermarkt festgesetzten Immissionswerte hinaus auch in Bezug auf noch nicht bebaute Flächen nach Nr. A.1.3 Buchst. b TA Lärm die Immissionswerte einzuhalten habe, sind nicht entscheidungserheblich. Denn es sind hier bereits unter Berücksichtigung der im Genehmigungsbescheid für den Supermarkt festgesetzten Immissionswerte keine schädlichen Umwelteinwirkungen für das Bauvorhaben zu erwarten. Auch soweit das Beschwerdevorbringen sich gegen die Ausführungen des Verwaltungsgerichts wendet, dass die für den Supermarkt erteilte Baugenehmigung mangels Baubeschreibung unbestimmt sei, sodass eine geschützte Rechtsposition des Antragstellers hinsichtlich konkreter Betriebsabläufe nicht bestehe, werden keine Gründe aufgezeigt, die eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung gebieten würden. Denn das schalltechnische Gutachten hat für die Berechnungen nicht nur Erfahrungssätze für die Betriebsabläufe zugrunde gelegt, die auch vom Antragsteller grundsätzlich anerkannt werden, sondern es hat auch für eine worst-case-Betrachtung die Lärmschutzauflagen für den Supermarkt zurückgerechnet und die ermittelten Werte damit erhöht. Die Ausführungen des Verwaltungsgerichts zur fehlenden Betriebsbeschreibung sind daher nicht entscheidungserheblich. Selbiges gilt hinsichtlich des Beschwerdevorbringens zu den Zweifeln des Verwaltungsgerichts hinsichtlich eines Bestandsschutzes der stationären technischen Anlagen an der Südostecke des Supermarktes. Unabhängig davon, dass das dort im Bestand vorhandene Rückkühlgerät in den genehmigten Plänen des Supermarkts nicht dargestellt ist und daher vom Genehmigungsumfang nicht umfasst sein dürfte, hat das schalltechnische Gutachten auch die hiervon ausgehenden Geräusche mitberücksichtigt, sodass die Frage des Bestandsschutzes für diese technische Einrichtung ebenfalls nicht entscheidungserheblich ist.
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3. Das Beschwerdevorbringen zeigt auch keine Zweifel an der Richtigkeit der Annahme des Verwaltungsgerichts auf, wonach die Teile der West- und Südfassaden des Vorhabens, für die die Nebenbestimmungen der angegriffenen Baugenehmigung den Einbau von festverglasten, nicht zu öffnenden Fenstern beauflagt haben, nicht als Immissionsorte zu berücksichtigen sind.
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In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass im Geltungsbereich der TA Lärm grundsätzlich die Möglichkeit der Anordnung von nicht öffenbaren Fenstern besteht, die dann keine relevanten Messpunkte im Sinne von Nr. 2.3 der TA Lärm i.V.m. Nr. A.1.3 ihres Anhangs darstellen. Denn aus der Maßgeblichkeit der Außenimmissionsrichtwerte nach Nr. 6.1 TA Lärm und der Definition des maßgeblichen Immissionsorts in A 1.3 des Anhangs der TA Lärm – bei bebauten Flächen 0,5 m außerhalb vor der Mitte des geöffneten Fensters des vom Geräusch am stärksten betroffenen schutzbedürftigen Raums – ergibt sich, dass diese Regelung keine Anwendung findet, wenn die Fenster nicht zu öffnen sind (BVerwG, U.v. 29.11.2012 – 4 C 8.11 – BVerwGE 145, 145). Festverglaste Elemente stellen damit schon nach der Definition der TA Lärm keinen Immissionsort dar. Es handelt sich hierbei – anders als der Antragsteller meint – nicht um eine Maßnahme des passiven Schallschutzes. Er missversteht insoweit die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts in der von ihm zitierten – oben angeführten – Entscheidung vom 29. November 2012. Soweit der Antragsteller weiter ausführt, dass die Auflage von nicht zu öffnenden Fenstern grundsätzlich kein Wohnen auf Dauer im Rahmen eines Lebensmittelpunktes in einem kleinstädtischen Bereich ermögliche und daher die Auflagen nicht geeignet seien, den Lärmkonflikt sachgerecht zu lösen, lässt er unberücksichtigt, dass sämtliche Aufenthaltsräume im Dachgeschoss trotz der Auflagen über (natürliche) Lüftungsmöglichkeiten verfügen. Die Situation ist daher nicht mit der von ihm zitierten Entscheidung des Verwaltungsgerichts München vom 31.1.2022 (Az. 9 SN 22.167) vergleichbar, unabhängig davon, dass die vom Antragsteller zitierten Ausführungen im Rahmen der Inzidentprüfung eines Bebauungsplans erfolgten. Im Übrigen lässt es Art. 45 Abs. 2 BayBO offen, auf welche Art und Weise eine ausreichende Belüftung hergestellt wird. Ob eine ausreichende Belüftung besteht, ist eine Frage des konkreten Einzelfalls, insbesondere der konkreten Art und Weise der Nutzung des Aufenthaltsraums, seiner Größe und Lage, weshalb der Gesetzgeber mit der BayBO 2008 insoweit auf detailliertere Regelungen verzichtet hat; dabei hat er die Regelung des Art. 45 Abs. 3 Satz 2 BayBO a.F., wonach geneigte Fenster zur Sicherstellung der Anforderungen an einen Aufenthaltsraum nur ausnahmsweise ausreichend sind, bei der Novelle bewusst nicht übernommen (vgl. LT-Drucks 15/7161, S. 55). Witterungsbedingte Einschränkungen der Lüftungsmöglichkeiten bei geneigten Fenstern stehen daher einer ausreichenden Belüftung nicht entgegen, zumal moderne Dachflächenfenster auch bei widrigen Witterungsbedingungen eine Lüftung ermöglichen. Soweit der Antragsteller moniert, dass durch die 3 m breiten und 5,50 m hohen gläsernen Schallschutzohren in Verlängerung der westlichen Giebelseite der Häuser auf Dauer ein gesundes Wohnen im Rahmen eines Lebensmittelpunkts in einer ländlich geprägten Marktgemeinde nicht ermöglicht werde, zeigt er ebenfalls keinen Verstoß der Baugenehmigung gegen das Rücksichtnahmegebot auf. Die „Schallschutzohren“ mögen zwar architektonisch wenig reizvoll erscheinen, sie erfüllen aber nach den nicht substantiiert in Zweifel gezogenen Ausführungen des schalltechnischen Gutachtens ihren Zweck der Reduzierung des Lärms an den maßgeblichen Immissionsorten des Vorhabens, insbesondere auch an den Immissionsorten vor den Terrassentüren im Erdgeschoss. Im Übrigen weiß derjenige, der eine mit passivem Schallschutz „belastete“ Wohnung beziehen will, von vornherein, mit welchen Einschränkungen er zu rechnen hat, sodass ihm diese grundsätzlich zumutbar sind (vgl. BVerwG, B.v. 7.6.2012 – 4 BN 6.12 – BauR 2012, 1611).
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4. Mit dem Vortrag, das Verwaltungsgericht habe nur den gegenwärtigen Bestand der Gewerbebebauung und nicht die künftig mögliche Entwicklung der Gewerbebetriebe, die sich in einem durch Bebauungsplan festgesetzten Mischgebiet befänden, berücksichtigt, wird ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nicht dargetan. Der Antragsteller lässt dabei unberücksichtigt, dass er durch die beauflagten Immissionswerte bereits auf Grund der vorhandenen Vorbelastungen sowie der vorhandenen Umgebungsbebauung beschränkt ist. Eine Verschlechterung der Situation durch das angegriffene Vorhaben ist nicht dargetan, ebenso wenig wie konkrete Erweiterungsmöglichkeiten für sein Grundstück. Sein Vortrag, dass das Vorhaben auch an andere benachbarte Gewerbebetriebe, insbesondere den E. Markt sowie den N.-Markt heranrücke, zeigt keine Verletzung in eigenen Rechten auf. Im Übrigen haben diese Gewerbebetriebe und die von ihnen ausgehenden Einwirkungen auf das Vorhaben Berücksichtigung im schalltechnischen Gutachten gefunden.
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Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen, da sein Rechtsmittel erfolglos geblieben ist (§ 154 Abs. 2 VwGO). Es entspricht der Billigkeit, ihm auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen nach § 162 Abs. 3 VwGO aufzuerlegen, weil die Beigeladene einen Antrag gestellt und sich damit dem Kostenrisiko des § 154 Abs. 3 VwGO ausgesetzt hat. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1‚ § 52 Abs. 1‚ § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG und entspricht dem vom Verwaltungsgericht festgesetzten Betrag.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).