Titel:
Vorbehaltsurteil, Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts, Eingegangene Schriftsätze, Gegenforderung, Kaufpreisforderungen, Aufrechnungsforderung, Basiszinssatz, Weiterlieferung, Aufrechnungserklärung, Widerklage und Aufrechnung, Teilurteil, Schadensersatzforderung, Prozeßbevollmächtigter, Leistungsverweigerungsrecht, Werklohnansprüche, Entscheidungsreife, Teilklagerücknahme, Landgerichte, Mängelbeseitigungskosten, Entgangener Gewinn
Schlagworte:
Kaufpreisansprüche, Rügeobliegenheit, Zurückbehaltungsrecht, Schadensersatzansprüche, Arglistiges Handeln, Rechtsmissbrauch, Vorbehaltsurteil, Teilklagerücknahme, Aufrechnungsforderungen, Entscheidungsreife, Teilurteil, Widerspruch gegen Klagerücknahme
Vorinstanz:
LG München I vom 23.05.2022 – 14 HK O 11255/21
Fundstelle:
BeckRS 2024, 581
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten und nach Teilklagerücknahme wird das Teil- und Vorbehaltsurteil des Landgerichts München I vom 23.05.2022, Az. 14 HK O 11255/21, in Ziffer I. sechster Unterpunkt seines Tenors dahingehend abgeändert, dass die Beklagte nicht zur Zahlung von 31.674,03 €, sondern von 22.245,00 € verurteilt wird.
2. Des Weiteren wird das in Ziffer 1 bezeichnete Teil- und Vorbehaltsurteil des Landgerichts München I in Ziffer III. seines Tenors dahingehend abgeändert, dass neben der Entscheidung über die Aufrechnungsforderung der Beklagten in Höhe von 24.867,21 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. S. 25 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022) auch die Entscheidung über die weiteren Aufrechnungsforderungen der Beklagten in Höhe von 864,76 € (vgl. S. 8 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 47 d.A.), 3.844,39 € (vgl. S. 12 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 51 d.A.), 117,82 € (vgl. S. 15 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 54 d.A.), 25.213,49 € (vgl. S. 20 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 59 d.A.) und 43.250,66 € (vgl. S. 22 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 61 d.A.) wegen der angeblichen Schadensersatzforderungen der Beklagten gegen die Klägerin vorbehalten bleibt.
3. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
4. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 26%, die Beklagte 74%.
5. Dieses Urteil sowie das in Ziffer 1 des Tenors bezeichnete Teil- und Vorbehaltsurteil des Landgerichts München I, soweit es noch Bestand hat, sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung der Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, falls nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Klägerin kann die Vollstreckung der Beklagten durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrages abwenden, falls nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
6. Die Revision gegen dieses Urteil wird nicht zugelassen.
Entscheidungsgründe
1
Die Parteien streiten um die Bezahlung elektronischer Bauteile.
2
Am 12.04.2021 lieferte die Klägerin der Beklagten elektronische Bauteile zum Preis von 258,59 €, am 20.05.2021 zum Preis von 4.302,21 €, am 21.05.2021 zum Preis von 605,00 €, am 25.05.2021 zum Gesamtpreis von 12.108,75 €, am 26.05.2021 zum Gesamtpreis von 12.805,21 €, am 01.06.2021 zum Gesamtpreis von 22.245,00 €, am 02.06.2021 zum Preis von 59,50 €, am 08.06.2021 zum Gesamtpreis von 3.495,24 €, am 10.06.2021 zum Gesamtpreis von 6.205,66 €, am 14.06.2021 zum Gesamtpreis von 895,52 €, am 15.06.2021 zum Preis von 4.879,00 €, am 17.06.2021 zum Gesamtpreis von 624,75 €, am 21.06.2021 zum Gesamtpreis von 7.550,91 €, am 22.06.2021 zum Preis von 178,50 € (unter Berücksichtigung einer Gutschrift von 178,50 €), am 24.06.2021 zum Gesamtpreis von 2.258,60 €, am 29.06.2021 zum Preis von 13.580,28 €, am 30.06.2021 zum Gesamtpreis von 298,72 €, am 02.07.2021 zum Gesamtpreis von 83,30 € sowie am 06.07.2021 zum Gesamtpreis von 5.381,74 €.
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Der Gesamtkaufpreis für diese 19 Lieferungen (im Folgenden als „klagegegenständliche Lieferungen“ bezeichnet) bildet den Gegenstand der Klage.
4
In allen Fällen wurde der Kaufpreis 30 Tage nach Lieferung zur Zahlung fällig.
5
Mit Schreiben des Klägervertreters vom 03.08.2021 laut Anl. K 2 mahnte die Klägerin bei der Beklagten die Zahlung des Gesamtkaufpreises von 92.776.79 € für die Lieferungen vom 12.05.2021 bis einschließlich 02.07.2021 an. Dadurch entstanden der Klägerin außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.049,30 € netto.
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Mit weiterem Schreiben des Klägervertreters vom 11.08.2021 laut Anl. K 3 mahnte die Klägerin gegenüber der Beklagten die Zahlung des Kaufpreises von 5.381,74 € aus der Lieferung vom 06.07.2021 an. Dadurch entstanden der Klägerin weitere außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 122, 20 € netto.
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Neben den klagegegenständlichen Lieferungen erfolgten noch weitere Lieferungen elektronischer Bauteile, deren Mangelbehaftetheit zwischen den Parteien streitig ist, durch die Klägerin an die Beklagte (im Folgenden als „weitere Lieferungen“ bezeichnet).
8
So lieferte die Klägerin am 04.11.2020 der Beklagten 50 DC/DC-Wandler 20 W 12 V 1 mit der Artikelnummer … (vgl. Lieferschein laut Anl. B 13), am 01.03.2021 u.a. 170 integrierte Schaltkreise IC SWITCH QUAD SPDT 20SSOP mit der Artikelnummer … (vgl. Lieferschein laut Anl. B 19), am 29.03.2021 elektronische Bauteile mit der Artikelnummer … sowie am 17.03.2021, 28.04.2021 und 12.05.2021 jeweils 200 integrierte Schaltkreise IC OPAMP GP 1 CIRCUIT 8DIP mit der Artikelnummer … (vgl. Lieferscheine laut Anl. B 23).
9
Bezüglich der am 04.11.2020 von der Klägerin gelieferten DC/DC-Wandler 20 W 12 V 1 übermittelte die Beklagte der Klägerin am 18.11.2020, 9:58 Uhr mit Email laut Anl. B 16 kommentarlos ein Bild eines Bauteils. Am 28.05.2021 rügte die Beklagte gegenüber der Klägerin, dass bei 127 der am 29.03.2021 gelieferten Bauteile mit der Artikelnummer … die Gehäuse beschädigt seien (vgl. Anl. B 8). Mit Email vom 06.07.2021, 16:57 Uhr übermittelte die Beklagte der Klägerin die Email laut Anl. B 28, die wie folgt lautete: „Wie heute besprochen die Anzeige des Schadens, welcher sich nach erster Einschätzung zwischen 40.000 € und 80.000 € bewegen kann. Betroffen ist das Bauteil „LMC6001AIN“ welches über die components bezogen wurde. Bitte teilt uns mit wie euer Prozess bezüglich der Abwicklung solcher Reklamationen ist.“
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Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 11.04.2022 (Bl. 40/62 d.A.) rechnete die Beklagte gegen die Kaufpreisforderungen der Klägerin aus den klagegegenständlichen Lieferungen mit von ihr behaupteten Schadensersatzforderungen aus den Kaufverträgen mit der Klägerin über die weiteren Lieferungen in Höhe 864,76 € (S. 8 des Schriftsatzes vom 11.04.2022, Bl. 47 d.A.), 3.844,39 € (S. 12 des Schriftsatzes vom 11.04.2022, Bl. 51 d.A.), 117,82 € (S. 15 des Schriftsatzes vom 11.04.2022, Bl. 54 d.A.), 25.123,49 € (S. 20 des Schriftsatzes vom 11.04.2022, Bl. 59 d.A.), 43.250,66 € (S. 22 des Schriftsatzes vom 11.04.2022, Bl. 61 d.A.) und 24.867,21 € (S. 25 des Schriftsatzes vom 11.04.2022, Bl. 64 d. A.) und damit mit Gegenforderungen in Höhe von insgesamt 98.068,33 € auf.
11
Die Klägerin beantragte,
I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin
258,59 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.05.2021;
4.644,26 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20.06.2021;
605,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 21.06.2021;
12.108,75 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.06.2021;
12.805,21 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 26.06.2021;
31.674,03 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.07.2021;
59,50 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 03.07.2021;
3.495,24 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 09.07.2021;
6.205,66 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 11.07.2021;
895,52 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.07.2021;
4.879,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 16.07.2021;
624,75 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 18.07.2021;
7.550,91 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 22.07.2021;
178,50 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 23.07.2021;
2.258,60 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 25.07.2021;
13.580,28 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 30.07.2021;
298,72 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 31.07.2021;
83,80 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 02.08.2021;
5381,74 Euro nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.08.2021;
II. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin die nicht festsetzbaren außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 2.171,50 Euro netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.08.2021 zu bezahlen.
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Die Beklagte beantragte,
13
Sie beantragte darüber hinaus widerklagend:
I. Die Klägerin wird verurteilt, an die Beklagte einen Betrag in Höhe von 57.757,65 € nebst Zinsen in Höhe von 9 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
II. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, sämtliche Schäden in Zusammenhang mit der mangelhaften Lieferung vom 29.03.2021 der Bauteile Art. …, der mangelhaften Lieferung vom 04.11.2020 der Bauteile Art. Nr. …, der mangelhaften Lieferung vom 01.03.2021 der Bauteile Art. … sowie der mangelhaften Lieferung vom 17.03.2021, 28.04.2021 und 12.05.2021 der Bauteile Art. Nr. … zu ersetzen.
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Die Beklagte erwiderte, dass es sich den Bauteilen aus den weiteren Lieferungen der Klägerin um fehlerhafte und zum Teil auch funktionslose Bauteile (sogenannte „fake parts“) gehandelt habe, was darauf zurückzuführen sei, dass die Klägerin die Bauteile aus zweifelhaften Quellen (“Graumärkten“) erworben und an die Beklagte weiterveräußert habe, ohne – wozu Distributoren wie die Klägerin in solchen Fällen verpflichtet seien – die Funktionsfähigkeit der Bauteile vorher überprüft zu haben. Obwohl die Beklagte die Bauteile unmittelbar nach dem jeweiligen Wareneingang stichprobenartig einer Sichtprüfung unterzogen und dabei auch das Marking auf den Bauteilen überprüft habe, seien die Mängel an den Bauteilen für sie nicht erkennbar gewesen. Eine Funktionsprüfung durch die Beklagte (die unstreitig nicht durchgeführt wurde) sei nicht möglich gewesen, dazu hätte es einer mit erheblichen Kosten verbundenen Prüfung durch ein Testlabor bedurft. Unmittelbar nach Kenntniserlangung von den Mängeln durch die Beklagte habe diese die Mängel gegenüber der Klägerin gerügt.
15
Ausweislich der Anl. B 42 habe die Beklagte hinsichtlich der am 01.03.2021 gelieferten 170 integrierten Schaltkreise IC SWITCH QUAD SPDT 20SSOP mit der Artikelnummer …33ACAP gegenüber der Klägerin am 06.08.2021 die Mangelhaftigkeit mit den Worten „Wir haben bei dem Artikel …33ACAP+ Qualitätsmängel festgestellt. Wir lassen Ihnen zwei ausgelötete Bauteile Analyse zukommen“ (vgl. Anl. K 7) gerügt.
16
Im Übrigen könne sich die Klägerin gemäß § 377 Abs. 5 HGB ohnehin nicht auf die Genehmigungsfiktion des § 377 Abs. 2 und 3 HGB berufen, da sie arglistig gehandelt habe. Bereits die Herkunft von elektronischen Bauteilen aus unverlässlichen Märkten, auf denen Fake-Parts gehandelt würden, begründe nämlich einen Sachmangel, da es sich dabei um wertbildende Beschaffenheitsmerkmale handle. Diesen Mangel habe die Klägerin auch gekannt und gegenüber der Beklagten verschwiegen, da sie ihre Bezugsquellen gekannt haben müsse (vgl. Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, S. 28).
17
Die mangelhaften Teile aus den weiteren Lieferungen der Klägerin seien von der Beklagten in von ihr produzierten und an ihre Kunden verkauften elektronische Komponenten verbaut worden. Bei den Kunden sei es sodann beim Einsatz der von der Beklagten hergestellten Komponenten aufgrund der Mangelhaftigkeit der darin verbauten, von der Klägerin gelieferten Bauteile zu Funktionsstörungen gekommen.
18
Durch die von der Klägerin gelieferten mangelhaften Bauteile seien der Beklagten Personal-, Material- und Testkosten in Höhe von 29.950,46 € entstanden. Eine Nachlieferung von Bauteilen durch die Klägerin sei der Beklagten nicht zumutbar gewesen, da durch die wiederholte Lieferung funktionsloser Teile das Vertrauen in die Verlässlichkeit der Klägerin erschüttert sei.
19
Darüber hinaus sei infolge der Verwendung der von der Klägerin gelieferten mangelhaften Bauteilen in von der Beklagten damit produzierten Komponenten das Geschäft der Beklagten mit ihrem Kunden S. GmbH um 64% zurückgegangen, während im Geschäft mit vergleichbaren Bestandskunden eine Umsatzsteigerung um 22% zu verzeichnen gewesen sei. Insoweit mache die Beklagte entgangenen Gewinn in Höhe von 43.250,66 € geltend.
20
Darüber hinaus wäre – wie ein Vergleich mit nicht von mangelhaften Lieferungen betroffenen Kunden der Beklagten zeige – das Geschäft der Beklagten mit der S. GmbH ohne die mangelhafte Lieferung nicht nur nicht zurückgegangen, sondern sogar noch gewachsen. Ohne den Schadensfall wäre auch das Geschäft mit den ebenfalls davon betroffenen Kunden P. GmbH & Co KG und D. S. GmbH stärker gewachsen. Dieses nicht realisierte Umsatzwachstum habe bei der Beklagten zu einem weiteren entgangenen Gewinn in Höhe von 82.083,31 € geführt.
21
Durch die Aufrechnungen der Beklagten mit ihren dergestalt bestehenden Schadensersatzansprüchen in Höhe von insgesamt 98.068,33 € gegen die Kaufpreisforderungen der Beklagten aus den streitgegenständlichen Lieferungen seien alle klagegegenständlichen Forderungen nach § 362 BGB erloschen.
22
Soweit die Schadensersatzansprüche der Beklagten die klagegegenständlichen Forderungen der Klägerin überstiegen, seien sie Gegenstand der Widerklage.
23
Da somit die mangelhaften Bauteile aus den weiteren Lieferungen der Klägerin bereits zu erheblichen Schäden geführt hätten und weitere Schäden zu befürchten seien, da davon auszugehen sei, dass auch weitere von der Klägerin gelieferte Bauteile mangelhaft seien, habe die Beklagte im Hinblick auf die Kaufpreisforderungen aus den klagegegenständlichen Lieferungen ein Zurückbehaltungsrecht.
24
Die Klägerin beantragte,
Abweisung der Widerklage.
25
Sie trug vor, dass die Beklagte ihr Rügeobliegenheit nach § 377 HGB verletzt habe. Die Klägerin habe bezüglich der Herkunft der gelieferten Bauteile auch nicht arglistig gehandelt, sodass die Regelung des § 377 Abs. 5 HGB nicht zum Tragen komme. Denn die Beklagte habe gewusst, dass die Klägerin keine autorisierte, sondern eine freie Händlerin sei. Die Existenz eines freien Marktes sei der Beklagten auch bekannt gewesen, da sie vor ihrer Geschäftsbeziehung mit der Klägerin selbst umfangreich Bauteile von freien Händlern auf dem asiatischen Markt bezogen habe.
26
Mit Teil- und Vorbehaltsurteil vom 23.05.2022, Az. 14 HK O 11255/21, das den Prozessbevollmächtigten am 14.07.2022 zugestellt wurde, verurteilte das Landgericht München I die Beklagte antragsgemäß vorbehaltlich der Entscheidung über die Aufrechnungsforderung der Beklagten in Höhe von € 24.867,21 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. Bl. 25 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022), der Entscheidung über die Widerklage und der Kostenentscheidung.
27
Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Landgericht u.a. aus, dass die Klage entscheidungsreif iSd. § 302 ZPO sei, während die Gegenforderungen der Beklagten noch weiter zu substanziieren seien und dann gegebenenfalls weiterer prozessualer Aufklärung bedürften.
28
Der Klägerin stünden gemäß § 433 Abs. 2 BGB aus den zwischen den Parteien geschlossenen Kaufverträgen Kaufpreisansprüche in der beantragten Höhe zu, nachdem sie die Bauteile an die Beklagte geliefert habe. Die Beklagte habe insoweit kein Zurückbehaltungsrecht.
29
Ein Zurückbehaltungsrecht der Beklagten aus § 320 BGB bestehe auch dann nicht, wenn zu Gunsten der Beklagten unterstellt werde, dass die von der Klägerin am 04.11.2020, 01.03.2021, 17.03.2021, 29.03.2021, 28.04.2021 und 12.05.2021 gelieferten Bauteile mangelhaft gewesen sein sollten, da die streitgegenständlichen Kaufpreisforderungen der Klägerin nicht aus den behauptetermaßen mangelhaften Lieferungen stammten. Somit fehle es an dem von § 320 Abs. 1 BGB vorausgesetzten Synallagma (LGU S. 8 unter I c).
30
Es bestehe aber auch kein Zurückbehaltungsrecht aus § 273 Abs. 1 BGB, selbst wenn zu Gunsten der Beklagten davon ausgegangen werden sollte, dass die von der Klägerin am 04.11.2020, 01.03.2021, 17.03.2021, 29.03.2021, 28.04.2021 und 12.05.2021 gelieferten Bauteile mangelhaft gewesen sein sollten und die Beklagte diesbezüglich ihre Rügepflicht nach § 377 HGB erfüllt haben sollte. Denn nach § 242 BGB sei es der Beklagten verwehrt, sich auf ein Zurückbehaltungsrecht zu berufen, da ihr widerklägerisches Vorbringen erwarten lasse, dass die Klärung des Bestehens oder Nichtbestehens der von ihr geltend gemachten Ansprüche derart schwierig und zeitraubend ist, dass die Durchsetzung der von der Klägerin geltend gemachten Forderungen auf unabsehbare Zeit verhindert werden würde (LGU S. 8 und 9 unter I d 1).
31
Im Übrigen sei die Geltendmachung des Zurückbehaltungsrechts nach § 273 Abs. 1 BGB rechtsmissbräuchlich, da die Beklagte – auch auf Nachfrage der Klägerin – über einen Zeitraum von mehreren Monaten keine detaillierten und nachprüfbaren Angaben zu Grund und Höhe der von ihr behaupteten Schadensersatzansprüche gemacht, sondern es bei weiter nicht nachprüfbaren Behauptungen belassen habe. Gestatte man in solch einem Fall der Beklagten, die Einrede aus § 273 Abs. 1 BGB zu erheben, würde jede bloße Behauptung eines vermeintlich zustehenden Anspruchs genügen, um einen Zahlungsanspruch zu blockieren (LGU S. 9 unter I d 2).
32
Die Frage der Mangelhaftigkeit der Lieferungen vom 04.11.2020, 01.03.2021, 17.03.2021, 29.03.2021, 28.04.2021 und 12.05.2021, des bei der Beklagten entstandenen Schadens sowie der Erfüllung der Rügeverpflichtung aus § 377 HGB müsse deshalb dem Nachverfahren vorbehalten bleiben (LGU S. 9 unter I e).
33
Da die Beklagte mit der Begleichung der Kaufpreisforderungen zum Zeitpunkt der Beauftragung des anwaltlichen Aufforderungsschreibens vom 03.08.2021 bereits in Schuldnerverzug mit allen klagegegenständlichen Kaufpreiszahlungen gewesen sei, könne sie auch ihre vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten erstattet verlangen (LGU S. 9 und 10 unter II).
34
Im Übrigen wird gemäß § 540 Abs. 1 ZPO auf den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des landgerichtlichen Urteils Bezug genommen.
35
Mit am 19.07.2022 beim Landgericht München I eingegangenen Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 19.07.2022 (Bl. 103/109 d.A.) beantragte die Beklagte das Teil- und Vorbehaltsurteil des Landgerichts vom 23.05.2022 gemäß § 321 ZPO wie folgt zu ergänzen:
36
Die Entscheidung über die Aufrechnungsforderung der Beklagten in Höhe von
- 864,76 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. Bl. 8 des Schriftsatzes vom 11.04.2022)
- 3.844,39 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. Bl. 12 des Schriftsatzes vom 11.04.2022)
- 117,82 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. Bl. 15 des Schriftsatzes vom 11.04.2022)
- 25.213,49 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. Bl. 20 des Schriftsatzes vom 11.04.2022)
- 43.250,66 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. Bl. 20 des Schriftsatzes vom 11.04.2022)
- 24.867,21 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. Bl. 25 des Schriftsatzes vom 11.04.2022) bleibt vorbehalten.
37
Mit Beschluss vom 14.09.2022 (Anl. BK 3) wies das Landgericht München I den Antrag der Beklagten auf Ergänzung des Teil- und Vorbehaltsurteils vom 23.05.2022 zurück, da kein Antrag der Beklagten übergangen worden sei. Auf ausdrückliche Frage des Vorsitzenden nach Umfang von Widerklage und Aufrechnungen habe der Beklagtenvertreter nämlich auf Seite 25 seines Schriftsatzes vom 11.04.2022 verwiesen, wonach die Aufrechnung in Höhe von rund 25.000,00 € erklärt werde, der Rest werde widerklagend geltend gemacht.
38
Mit Schriftsatz des Klägervertreters vom 20.12.2023 (Bl. 187/189 d.A.) nahm die Klägerin die Klage nach entsprechendem Hinweis des Senats vom 01.12.2023 insoweit zurück, als sie in Bezug auf die am 01.06.2021 erfolgte Lieferung von elektronischen Bauteilen an die Klägerin nunmehr nur noch Zahlung von 22.245,00 € statt bislang 31.674,03 € verlangt. Der Schriftsatz des Klägervertreters vom 20.12.2023 wurde dem Beklagtenvertreter mit Verfügung vom 21.12.2023 (Bl. 190 d.A.), die einen Hinweis gemäß § 269 Abs. 2 S. 4 ZPO enthielt, am selben Tag zugestellt. Ein Widerspruch der Beklagten gegen die Klagerücknahme erfolgte nicht.
39
Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagten ihr erstinstanzliches Klageabweisungsziel vollumfänglich weiter.
40
Sie rügt, dass das Landgericht von insgesamt sechs von der Beklagten im Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022 erklärten Aufrechnungen fünf ignoriert habe. Hätte das Landgericht die von ihm übergangenen weiteren fünf Aufrechnungen berücksichtigt, wäre es zu dem Ergebnis gekommen, dass die Forderungen der Klägerin erloschen sind. Der Beklagtenvertreter habe auch in der mündlichen Verhandlung vom 23.05.2022 unterstrichen, dass an den Aufrechnungserklärungen aus dem Schriftsatz vom 11.04.2022 festgehalten werde. Die Wahrnehmung des Landgerichts, es solle nur noch mit einer Schadensersatzforderung über 24.867,65 € aufgerechnet werden, sei nicht nachvollziehbar. Sollte das Landgericht tatsächlich im Unklaren über die Aufrechterhaltung der Aufrechnungen gewesen sein, so hätte es die Beklagte gemäß § 139 ZPO darauf hinweisen müssen. Im Wege der Berufung sei daher die unvollständige Berücksichtigung der fünf übergangenen Aufrechnungsforderungen wiederherzustellen. Diesbezüglich seien auch sämtliche Beweisangebote übergangen worden.
41
Höchstvorsorglich macht die Berufung noch geltend, dass ein Zurückbehaltungsrecht auch dann geltend gemacht werden könne, wenn ein Gegenrecht erst nach der Hauptforderung entstanden sei. Dem stehe entgegen der Ansicht des Landgerichts auch § 242 BGB nicht entgegen.
42
Die Beklagte beantragt daher:
1. Das Urteil des Landgerichts München I vom 23.05.2022 wird aufgehoben.
2. Die Klage wird abgewiesen.
43
Die Klägerin beantragt,
Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
44
Sie verteidigt das landgerichtliche Urteil.
45
Der Senat hat einen Hinweis erteilt und am 17.01.2024 mündlich verhandelt. Auf den Hinweis vom 01.12.2023 (Bl. 178/179 d.A.), das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17.01.2024, die zwischen den Prozessbevollmächtigten gewechselten Schriftsätze und den übrigen Akteninhalt wird Bezug genommen.
46
Die zulässige Berufung der Beklagten ist nach der Teilklagerücknahme vom 20.12.2023 nur insoweit begründet, als die Beklagte nur zur Zahlung von insgesamt 98.158,53 € zu verurteilen und darüber hinaus die Entscheidung über weitere fünf vom Landgericht übergangene Aufrechnungsforderungen der Beklagten vorzubehalten war. Im Übrigen (Aufhebung des landgerichtlichen Urteils und Klageabweisung) bleibt die Berufung der Beklagten ohne Erfolg.
47
1. Das Landgericht hat jedenfalls dem Grunde nach zutreffend hinsichtlich der Klageforderungen ein Vorbehaltsurteil erlassen, da die Voraussetzungen des § 302 Abs. 1 ZPO vorliegen. Demnach müssen die Klageforderungen entscheidungsreif sein und muss die Beklagte dagegen mit einer nicht entscheidungsreifen Gegenforderung aufgerechnet haben.
48
a. Die Klageforderungen sind entscheidungsreif, da ihr Bestehen zwischen den Parteien unstreitig ist. Die Gegenforderungen der Beklagten resultieren nämlich unstreitig nicht aus den klagegegenständlichen Lieferungen der Klägerin, sondern aus den weiteren Lieferungen, denen jeweils gesonderte Kaufverträge zugrunde liegen.
49
b. Die Gegenforderungen der Beklagten sind dagegen noch nicht entscheidungsreif, da insoweit jedenfalls noch zu klären ist, ob – wie die Klägerin behauptet – und inwieweit die Bauteile aus den weiteren Lieferungen der Klägerin gemäß § 377 Abs. 2 und 3 HGB als genehmigt gelten und insoweit die Geltendmachung von Mängelrechten der Beklagten ausgeschlossen ist. Dazu ist es erforderlich – gegebenenfalls durch Erhebung der insoweit von den Parteien angebotenen Beweise – festzustellen, wie weit die Untersuchungspflicht der Beklagten reichte, ob sie dieser nachkam und ob für jede der sechs weiteren Lieferungen eine rechtzeitige und hinreichende Rüge der Beklagten vorliegt. Falls keine rechtzeitige und hinreichende Rüge der Beklagten vorliegen sollte, ist dem Einwand der Beklagten nachzugehen, die Klägerin sei gemäß § 377 Abs. 5 HGB an einer Berufung auf die Genehmigungsfiktion nach § 377 Abs. 2 und 3 HGB gehindert. Falls sich dagegen eine rechtzeitige und hinreichende Rüge ergeben sollte, ist zu klären, ob die Bauteile aus den weiteren Lieferungen überhaupt mangelhaft waren und ob sie zu dem von der Beklagten behaupteten Schäden führten.
50
c. Dass die Beklagte im Hinblick auf die von ihr behaupteten Gegenforderungen aufgrund von Schadensersatzansprüchen gegen die Klägerin ein Zurückbehaltungsrecht geltend macht, steht dem Erlass des Vorbehaltsurteils nicht per se entgegen. Denn nachdem der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen vom 30.03.2000 (BGBl. I 330) die bis dahin in § 302 Abs. 1 ZPO enthaltene weitere Voraussetzung für den Erlass eines Vorbehaltsurteil, dass die Gegenforderung mit der in der Klage geltend gemachten Forderung nicht in rechtlichem Zusammenhang stehen dürfe, gestrichen hat, um unter anderem dem Missstand zu begegnen, dass ein Besteller mit unberechtigten Gegenforderungen die frühzeitige Titulierung einer Forderung verhindert (vgl. BT-Drs. 14/2752, S. 14 f.), hindert ein Zurückbehaltungsrecht des Schuldners hinsichtlich der Klageforderung den Erlass eines Vorbehaltsurteils grundsätzlich nicht mehr.
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d. Die Frage des rechtlichen Zusammenhangs und damit auch des Zurückbehaltungsrechts ist deshalb seitdem nur noch für die Ausübung des dem Richter in § 302 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessens, ob er ein Teilurteil erlässt, von Relevanz.
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aa. Insoweit hat der BGH für Fälle, in denen der Besteller gegen den Werklohnanspruch des Unternehmers mit einem Schadensersatzanspruch in Form von Mängelbeseitigungskosten aufrechnet, entschieden, dass es grundsätzlich ein nicht hinnehmbares Ergebnis sei, dass trotz einer aus dem Leistungsverweigerungsrecht erwachsenen, auf Zahlung gerichteten Gegenforderung des Bestellers der Werklohnanspruch des Unternehmers – wenn auch nur vorübergehend – durchsetzbar wäre. Der Unternehmer würde nämlich in diesem Fall von einer doppelten Vertragswidrigkeit profitieren. Er erhielte ein vollstreckbares Urteil über seine Werklohnforderung, obwohl er den Vertrag nicht erfüllt habe und zudem der Aufforderung, die Erfüllungshandlung innerhalb einer Frist vorzunehmen, nicht nachgekommen sei. Es sei aber grundsätzlich nicht interessengerecht, dem Unternehmer die Möglichkeit zu verschaffen, eine Werklohnforderung ohne Erbringung der Gegenleistung durchzusetzen (vgl. BGH, Urteil vom 24.11.2005 – VII ZR 304/04, Rdnr. 14). Daraus folge, dass § 302 Abs. 1 ZPO nur wenige Ausnahmefälle zulasse, in denen der Richter die Grenzen seines Ermessens nicht überschreite, wenn er trotz Aufrechnung mit Ansprüchen auf Ersatz von Mängelbeseitigungskosten und Fertigstellungsmehrkosten über den Werklohnanspruch durch Vorbehaltsurteil entscheide (vgl. BGH, aaO, Rdnr. 16). Nicht schon von vorneherein ermessensfehlerhaft sei der Erlass eines Vorbehaltsurteils dagegen, wenn gegen die Werklohnforderung des Unternehmers mit einem Verzugsschadensersatzanspruch oder mit einem Schadensersatzanspruch des Bestellers gegen den Unternehmer aus einem anderen Vertragsverhältnis aufgerechnet werde, da es dann an der erforderlichen Verknüpfung von Forderung und Gegenforderung fehle (BGH, aaO, Rdnr. 17; ebenso BGH, Urteil vom 28.10.2021 – VII ZR 44/18, Rdnr. 20). Dies bedeutet, dass der Erlass des Vorbehaltsurteils grundsätzlich dann ermessensfehlerhaft ist, wenn dem Aufrechnenden ein Zurückbehaltungsrecht aus § 320 Abs. 1 S. 1 BGB zusteht, nicht aber wenn er nur ein Zurückbehaltungsrecht aus § 273 Abs. 1 BGB geltend machen kann.
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Auf die klagegegenständlichen Kaufverträge übertragen führt dies dazu, dass der Erlass des Vorbehaltsurteils jedenfalls nicht schon wegen des rechtlichen Zusammenhangs von Klage- und Gegenforderung ermessensfehlerhaft war, da zwischen den klagegegenständlichen Kaufpreisforderungen der Klägerin und den Schadensersatzforderungen der Beklagten kein Synallagma iSd. § 320 Abs. 1 S. 1 BGB besteht. Denn die klagegegenständlichen Kaufpreisforderungen resultieren – wie das Landgericht zutreffend festgestellt hat (vgl. LGU S. 8 unter I c) – allesamt aus anderen Kaufverträgen als die Schadensersatzforderungen der Beklagten. Das von der Beklagten geltend gemachte Zurückbehaltungsrecht beruht damit nur auf § 273 Abs. 1 BGB.
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bb. Der Erlass des Vorbehaltsurteils war auch ansonsten nicht ermessensfehlerhaft. Im Hinblick auf den bereits oben unter aa. dargelegten Zweck des Vorbehaltsurteils, einer Verzögerung der Titulierung einer Forderung durch die Behauptung unberechtigter Gegenforderungen entgegenzuwirken, war in die Ermessensausübung einzubeziehen, dass infolge der bezüglich der Gegenforderungen der Beklagten noch erforderlichen Feststellungen bis zu einer Entscheidung über die Aufrechnungen noch eine geraume Zeit vergehen dürfte, das Schicksal der Gegenforderungen sowohl im Hinblick auf Inhalt und Umfang der Untersuchungsobliegenheit, auf die Rechtzeitigkeit und Bestimmtheit der Rügen der Beklagten dem Grunde nach als auch bezüglich der Höhe – insbesondere hinsichtlich des geltend gemachten entgangenen Gewinns aufgrund der insoweit angebotenen Beweise, die sich nicht auf die Willensbildung auf Seiten der jeweiligen Geschäftspartner beziehen – jedenfalls nach derzeitigem Sachstand zumindest unsicher ist, gleichzeitig die klagegegenständlichen Kaufpreisforderungen aber zwischen den Parteien unstreitig sind und schließlich die Klägerin nach ihrem unbestrittenem Vortrag (vgl. Schriftsatz des Klägervertreters vom 13.12.2021, S. 2 vierter Absatz, Bl. 21 d.A.) hinsichtlich von Schäden durch etwaig mangelhafte Bauteile auch versichert ist, sodass die Beklagte insoweit abgesichert ist.
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2. Das Landgericht konnte zulässigerweise auch ein Teilurteil erlassen.
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a. Ein Teilurteil darf grundsätzlich gemäß § 301 Abs. 1 Satz 2 ZPO nur ergehen, wenn die Gefahr ausgeschlossen ist, dass es in dem Teilurteil und in nachfolgenden Urteilen zu widersprüchlichen Entscheidungen – und sei es auch nur zu Widersprüchen bei der Beurteilung von entscheidungserheblichen Vorfragen – kommt (vgl. Feskorn in Zöller, ZPO, 35. Auflage, Köln 2024, Rdnr. 12 zu § 301 ZPO). Dabei ist der Erlass eines Teilurteils bereits dann unzulässig, wenn sich die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen durch die abweichende Beurteilung eines Rechtsmittelgerichts im Instanzenzug ergeben kann (vgl. BGH, Urteil vom 24.02.1999 – XII ZR 155/97, Rdnr. 17). Für die Unzulässigkeit des Erlasses eines Teilurteils reicht es grundsätzlich auch bereits aus, dass durch die Teilentscheidung die bloße Möglichkeit sich widersprechender Urteile eröffnet wird (vgl. BGH, aaO., Rdnr. 20).
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Dieses nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich geltende Verbot eines Teilurteils bei der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen gilt jedoch nicht uneingeschränkt. So steht einem Teilurteil im Falle des Erlasses eines Vorbehaltsurteils nicht entgegen, dass sich theoretisch im weiteren Verlauf des Verfahrens Vorfragen ergeben können, die abweichend von der Verurteilung durch das (Teil-)Vorbehaltsurteil entschieden werden könnten (BGH, Urteil vom 28.10.2021 – VII ZR 44/18, Rdnr. 25). Dies gilt auch dann, wenn eine beklagte Partei eine Gegenforderung geltend macht, die in der Höhe die Klageforderung übersteigt und die Partei den überschießenden Teil mit einer Widerklage verfolgt (vgl. BGH, aaO, Rdnr. 28).
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b. aa. Demnach käme es im streitgegenständlichen Fall eines Teil- und Vorbehaltsurteils auf eine etwaige Möglichkeit widersprüchlicher Entscheidungen gar nicht an.
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bb. Solche zumindest möglichen Widersprüche drohen im streitgegenständlichen Fall jedoch schon gar nicht, da die Klageforderung, über die im landgerichtlichen Teil- und Vorbehaltsurteil entschieden wurde, einerseits und die noch in erster Instanz verbliebene Widerklage andererseits, aus unterschiedlichen Kaufverträgen resultieren. Auch bezüglich der außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten als Nebenkosten besteht keine Widerspruchsgefahr, da die Beklagte – wie das Landgericht richtig festgestellt hat (vgl. LGU S. 9 und 10 unter Punkt II a und b) – zum Zeitpunkt der Beauftragung des Klägervertreters mit der Zahlung auf die klagegegenständlichen Kaufpreisforderungen unstreitig in Schuldnerverzug war. Die erst später erklärten Aufrechnungen und die ebenfalls erst später erhobene Widerklage können unabhängig von der noch ausstehenden Entscheidung hierüber daran nichts mehr ändern, da sie den einmal entstandenen Verzugsschadensersatzanspruch nicht nachträglich zum Wegfall bringen können.
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3. Auch wenn demnach der Erlass des Teil- und Vorbehaltsurteils nach §§ 301, 302 Abs. 2 ZPO dem Grunde nach zulässig war, ist das landgerichtliche Teil- und Vorbehaltsurteil jedoch auf die Berufung der Beklagten in zwei Punkten abzuändern.
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a. Zum einen war nach der Teilklagerücknahme vom 20.12.2023 (Bl. 187/189 d.A.) das landgerichtliche Teil- und Vorbehaltsurteil in Ziffer I sechster Unterpunkt seines Tenors dahingehend abzuändern, dass die Beklagte wegen der Lieferung vom 01.06.2021 nicht zur Zahlung von 31.674,03 €, sondern von 22.245,00 € verurteilt wird.
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b. Zum anderen ist das landgerichtliche Teil- und Vorbehaltsurteil dahingehend zu ergänzen, dass neben der Entscheidung über die Aufrechnungsforderung der Beklagten in Höhe von 24.867,21 € wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin (vgl. S. 25 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022) auch die Entscheidung über die weiteren Aufrechnungsforderungen der Beklagten in Höhe von 864,76 € (vgl. S. 8 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 47 d.A.), 3.844,39 € (vgl. S. 12 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 51 d.A.), 117,82 € (vgl. S. 15 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 54 d.A.), 25.213,49 € (vgl. S. 20 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 59 d.A.) und 43.250,66 € (vgl. S. 22 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022, Bl. 61 d.A.) wegen der angeblichen Schadensersatzforderung der Beklagten gegen die Klägerin vorbehalten bleibt. Denn das Landgericht hat diese mit Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 11.04.2022 erklärten Aufrechnungen in seinem Teil- und Vorbehaltsurteil rechtsfehlerhaft übergangen.
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Dafür dass die Beklagte – wie das Landgericht ausweislich seines Berichtigungsbeschlusses vom 23.05.2021 laut Anl. BK 1 offensichtlich meint – in der mündlichen Verhandlung vom 23.05.2022 von allen im Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 11.04.2021 geltend gemachten Schadensersatzforderungen von insgesamt 155.915,98 € (davon entfallend 98.158,33 € auf Aufrechnungsforderungen und 57.757,65 auf die Widerklage) nur noch 82.624,86 € (Aufrechnungsforderung 24.867,21 €, Widerklage 57.757,65 €), das heißt etwas mehr als die Hälfte, zur Entscheidung gestellt haben wollte, gibt es keine Anhaltspunkte. So heißt es im Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 23.05.2022 ausdrücklich, dass sich die im Telefonat des Beklagtenvertreters mit dem Vorsitzenden in der Woche vor der Verhandlung „angesprochenen Aufrechnungserklärungen (…) auf die im Schriftsatz vom 11.04.2022 benannten Aufrechnungen“ bezögen (vgl. S. 2 dritter Absatz des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 23.05.2022, Bl. 72 d.A.), woraus zu schließen ist, dass der Beklagtenvertreter weiterhin alle sechs in seinem Schriftsatz vom 11.04.2022 erklärten Aufrechnungen behandelt haben wollte. Im weiteren Verlauf der Verhandlung erklärte der Beklagtenvertreter sodann ausweislich des Protokolls konsequent, dass „wegen eigener Schadenspositionen“ aufgerechnet werde (vgl. S. 2 drittletzter Absatz des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 23.05.2022, Bl. 72 d.A.). Aus der Verwendung des Wortes „Schadenspositionen“ im Plural ergibt sich jedenfalls, dass nicht nur – wie das Landgericht annahm – eine Schadensposition (nämlich die wegen entgangenen Gewinns in Höhe von 82.083,31 € ausweislich S. 25 des Schriftsatzes des Beklagtenvertreters vom 11.04.2021, bezüglich derer die Aufrechnung in Höhe von 24.867,21 € erklärt und in überschießender Höhe Widerklage erhoben wurde), sondern auch alle weiteren Schadensposten geltend gemacht werden sollten. Schließlich hätte die Auslegung, die das Landgericht der Erklärung des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung gab, wirtschaftlich zur Folge, dass die Beklagte auf 73.291,12 € an behaupteten Gegenforderungen verzichtet hätte. Die Annahme eines derart weitreichenden Verzichts setzt jedoch – wie bei einem Erlassvertrag iSd. § 397 BGB – einen unmissverständlichen rechtsgeschäftlichen Willen voraus, wobei an die Feststellung eines solchen Willens strenge Anforderungen zu stellen sind und es einen Erfahrungssatz gibt, dass ein Erlass nicht zu vermuten ist (vgl. Grüneberg in ders., BGB, 83. Auflage, München 2024, Rdnr. 6 zu § 397 BGB). Ein solcher unmissverständlicher Wille lässt sich dem Protokoll jedoch nicht entnehmen. Dafür wäre auch durch den Verlauf der mündlichen Verhandlung kein Grund gegeben, da dort ausweislich des Protokolls keine Hinweise gegeben wurden, dass die fünf weiteren Aufrechnungsforderungen bereits jetzt offensichtlich erfolglos seien.
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Nach alledem war das landgerichtliche Teil- und Vorbehaltsurteil um einen Vorbehalt bezüglich der fünf übergangenen Aufrechnungsforderungen zu ergänzen (vgl. Feskorn in Zöller, ZPO, 35. Auflage, Köln 2024, Rdnr. 6a zu § 302 ZPO aE). Dies konnte auch nachdem das Landgericht den diesbezüglichen Ergänzungsantrag der Beklagten nach § 321 ZPO rechtsfehlerhaft zurückgewiesen hatte, im Berufungsverfahren geschehen.
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Im Übrigen war die Berufung zurückzuweisen.
66
I. Entschieden werden konnte nur über die Kosten des Berufungsverfahrens, wobei der sich Ausspruch zu den Kosten nach dem jeweiligen Obsiegen und Unterligen der Parteien im Berufungsverfahren und dem Umfang der Teilklagerücknahme richten. Bei einer Verurteilung der Beklagten durch das Landgericht zur Zahlung von insgesamt 107.587,56 € obsiegte die Beklagte mit 9.429,03 € sowie mit dem Vorbehalt von Aufrechnungen über 73.291,12 €, wobei der Senat bezüglich letzterer Position einen Bruchteil der Aufrechnungsforderungen (25%) ansetzt, und sich damit ein Obsiegen der Beklagten in Höhe von insgesamt 27.751,81 € ergibt. Dies entspricht gerundet einer Obsiegensquote von 26%. Im Übrigen unterlag sie.
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II. Die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
68
III. Die Revision gegen dieses Urteil war nicht zuzulassen, da ein Revisionsgrund nicht besteht.