Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 26.02.2024 – Au 9 K 23.31087
Titel:

Erfolgreiche Klage auf Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots hinsichtlich Irak

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2c S. 2, S. 3
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Für ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot kommt es auf die an sich im Zielstaat vorhandenen und grundsätzlich zugänglichen Behandlungsmöglichkeiten dann nicht an, wenn diese - wegen der insbes. bei Vorliegen einer PTBS bzw. schwergradigen depressiven Episode - im Herkunftsland wegen zu erwartenden Retraumatisierung auf Grund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind. (Rn. 29 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Irak, teilweise Klagerücknahme, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot ausgesundheitlichen Gründen (bejaht), fachärztlich nachgewiesene psychische Erkrankung, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Anforderungen an ärztliche Atteste, Asylklageverfahren, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, konkrete Gefahr, Leib, Leben, Gesundheit, humanitären Bedingungen, Gesundheitszustand, psychische Erkrankung, Ärztattest, nationales Abshiebungsverbot
Fundstelle:
BeckRS 2024, 5289

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
II. Im Übrigen wird der Bescheid des Bundesamts für ... vom 8. November 2023 (Gz.: ...) in Nrn. 2 bis 4 aufgehoben.
III. Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.IV. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt mit seiner Klage zuletzt die Feststellung eines nationalen zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots bzw. inlandsbezogenen Abschiebungsverbots hinsichtlich des Iraks.
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Der am ... in ... (Irak) geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger mit kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimisch-sunnitischem Glauben.
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Seinen Angaben zufolge reiste der Kläger am 24. September 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo er unter dem 22. November 2022 Asylantrag stellte.
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Nach Aktenlage hat der Kläger bereits in Griechenland einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.
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Gegenüber dem Bundesamt teilte Griechenland mit, dass das Verfahren des Klägers zur Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz am 7. Juni 2022 erfolglos abgeschlossen worden sei.
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Die persönliche Anhörung des Klägers beim Bundesamt für ... (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte am 9. August 2023. Der Kläger trug hierbei u.a. vor, dass er den Irak am 7. Oktober 2018 verlassen habe. Er habe sich zunächst mit seiner Familie in der Türkei aufgehalten. In der Türkei sei die Familie bis zum 24. Oktober 2018 verblieben. Danach sei die Weiterreise nach Griechenland erfolgt. In Griechenland habe er sich etwa für die Dauer von vier Jahren aufgehalten. Die Einreise nach Deutschland sei mit dem Zug erfolgt. Er habe in Griechenland einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt worden sei. Die Weiterreise nach Deutschland sei erfolgt, weil er befürchtet habe, nach Ablehnung seines Asylantrags in Griechenland in den Irak abgeschoben zu werden. Bei seiner Anhörung trug der Kläger vor, dass er in der Bundesrepublik Deutschland dieselben Fluchtgründe geltend mache wie in Griechenland. Für den weiteren Vortrag des Klägers wird auf die über die persönliche Anhörung gefertigte Niederschrift des Bundesamts Bezug genommen.
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Mit Bescheid des Bundesamtes vom 8. November 2023 (Gz.: ...) wurde der in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt (Nr. 1 des Bescheids 1). Nummer 2 des Bescheids stellt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen. In Nr. 3 des Bescheids wird der Kläger aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde dem Kläger die Abschiebung in den Irak bzw. einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nummer 4 ordnet das Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristet es auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt aus, dass der in der Bundesrepublik Deutschland gestellte Asylantrag unzulässig sei, da die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorlägen. Ein Asylantrag sei unzulässig, wenn im Falle eines Zweitantrags nach § 71a Asylgesetz (AsylG) ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen sei (§ 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Ein weiteres Asylverfahren sei nur dann durchzuführen, wenn die Voraussetzung des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) erfüllt seien, folglich zugunsten des Klägers Wiederaufgreifensgründe vorlägen. Eine nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG erforderliche Änderung der Sach- und Rechtslage sei nicht ersichtlich. Der Kläger habe dem Bundesamt keine neuen Beweismittel vorgelegt, die ein Wiederaufgreifen des Verfahrens geboten hätten. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Eine Abschiebung sei gem. § 60 Abs. 5 AufenthG unzulässig, wenn sich dies aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergebe. Nach dem Sachvortrag des Klägers drohe diesem keine durch einen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur verursachte Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Auch unter nochmaliger Berücksichtigung der bereits vorgebrachten Gründe sei der Vortrag des Klägers nicht geeignet, eine andere Entscheidung als im griechischen Asylverfahren zu begründen. Dem Kläger drohe auch keine Gefahr aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Irak. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Der Kläger sei ein erwachsener und arbeitsfähiger Mann ohne Unterhaltspflichten. Auch die Verletzungen anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Die Abschiebungsandrohung sei gem. § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG und § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 1 AsylG. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot werde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und nach § 11 Abs. 2 AufenthG auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Diese Befristung sei vorliegend angemessen.
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Auf den weiteren Inhalt des Bescheids des Bundesamts vom 8. November 2023 wird ergänzend verwiesen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde dem Kläger mit Postzustellungsurkunde am 10. November 2023 bekanntgegeben.
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Der Kläger hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 17. November 2023 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und zuletzt beantragt,
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Der Bescheid des Bundesamts für ... vom 8. November 2023 (Gz.: ...) wird in den Nrn. 2 bis 4 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, zugunsten des Klägers ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot auf der Grundlage des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG bzw. hilfsweise ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot hinsichtlich des Iraks festzustellen.
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In Bezug auf die ebenfalls zunächst mit der Klage angegriffene Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids – Ablehnung des Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland als unzulässig – wurde die zunächst erhobene Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.
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Zur Begründung der Klage wurde ausgeführt, dass der Kläger schwer traumatisiert sei. Bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland sei das Boot gesunken und seine Ehefrau und seine Kinder seien ertrunken. Lediglich der Kläger und eine weitere Person hätten das Unglück überlebt. Der Kläger benötige dringend fachärztliche Behandlung, welche im Irak nicht möglich sei.
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Ergänzend wurde mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2023 vorgetragen, dass sich der Kläger wegen einer schweren depressiven Episode sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung in stationärer Behandlung im Bezirkskrankenhaus ... befinde. Ein Entlasstermin sei derzeit noch nicht absehbar. Die Behandlung müsse dringend kontinuierlich durchgeführt werden. Eine Unterbrechung der psychiatrisch-medikamentösen Behandlung sowie eine möglicherweise nicht adäquate Behandlung im Irak wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers mit erneuten Suizidgedanken verursachen. Bei einer Abschiebung könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger einen akut psychischen Zusammenbruch mit einem Suizidversuch erleide. Auch wenn im Irak die Erkrankung des Klägers grundsätzlich behandelt werden könnte, sei eine solche Behandlung dem Kläger in finanzieller Hinsicht nicht möglich. Hinzu komme, dass der Kläger im Irak nur noch weitschichtig Verwandte habe. Seine Eltern und zwei seiner Brüder seien bereits verstorben. Ein weiterer Bruder lebe in .... Es wird Bezug genommen auf die vorgelegte fachärztliche Stellungnahme der Bezirkskliniken ... vom 15. Dezember 2023.
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Mit Schriftsatz vom 6. Februar 2024 wurde dem Gericht der vorläufige Arztbrief des Bezirkskrankenhauses ... vom 30. Januar 2024, ein aktueller Medikamentenplan, drei Überweisungsscheine, eine Terminbestätigung bei der Psychotherapeutin sowie eine Terminbestätigung des Ärztehauses ... vorgelegt. Der Kläger habe neben seinen psychischen Erkrankungen auch körperliche Erkrankungen wie beispielsweise Nierenprobleme. Eine Nierenarterienstenose sei geplant. Eine Behandlung des Klägers sei im Irak nicht möglich. Auch wäre der Kläger jedenfalls in finanzieller Hinsicht nicht in der Lage, für seine ärztliche Behandlung aufzukommen. Auf die mit Schriftsatz vom 6. Februar 2024 vorgelegten ärztlichen Unterlagen wird ergänzend verwiesen.
17
Ein vom Kläger zunächst gestellter Antrag vorläufigen Rechtschutzes blieb mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 23. November 2023 ohne Erfolg (Az.: Au 9 S 23.31088). Auf die Gründe dieser Entscheidung wird verwiesen.
18
Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 20. Dezember 2023 (Az. Au 9 S 23.31193) wurde der vorbezeichnete Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 23. November 2023 nach Vorlage qualifizierter ärztlicher Atteste dahingehend abgeändert, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts vom 8. November 2023 enthaltene Abschiebungsandrohung angeordnet wurde. Auf die Gründe dieser Entscheidung wird verwiesen.
19
Das Bundesamt ist für die Beklagte der Klage mit Schriftsatz vom 21. November 2023 entgegengetreten und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
21
Zur Begründung wurde auf die mit der Klage angegriffene Entscheidung Bezug genommen.
22
Mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 20. November 2023 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
23
Am 26. Februar 2024 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der der Kläger informatorisch angehört wurde, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
24
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und auf die von der Beklagten vorgelegte Verfahrensakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 26. Februar 2024 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung vom 26. Februar 2024 form- und fristgerecht geladen worden.
26
1. Soweit die Klage in der mündlichen Verhandlung vom 26. Februar 2024 teilweise zurückgenommen wurde, war das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen. Nach teilweiser Klagerücknahme verbliebener Gegenstand des Verfahrens ist damit nurmehr der Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG bzw. hilfsweise auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf der Grundlage von Art. 5 Halbs. 1 Buchst. c) RL 2008/115/EG.
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2. Soweit der Kläger seine Klage in der mündlichen Verhandlung noch aufrechterhalten hat, ist sie zulässig und begründet.
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Der Bescheid des Bundesamts vom 8. November 2023 (Gz.: ...) ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) in Nrn. 2 bis 4 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, als dieser einen Anspruch auf Feststellung eines (nationalen) Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Irak hat, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen, wie sie der Kläger hier ausschließlich geltend macht, liegt nach Satz 2 der Regelung nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch eine Abschiebung wesentlich verschlechtern, also zu außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden führen würden, wobei die wesentliche Verschlechterung alsbald nach der Rückkehr in den Zielstaat eintreten müsste (vgl. VG München, B.v. 26.4.2016 – M 16 S7 16.30786 –, juris Rn. 16). Dass die medizinische Versorgung im Zielstaat (Irak) mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig oder überall gewährleistet ist, ist hierbei nicht erforderlich, § 60 Abs. 7 Satz 4 und 5 AufenthG.
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Allerdings kann es auf die an sich im Zielstaat vorhandenen und grundsätzlich zugänglichen Behandlungsmöglichkeiten dann nicht ankommen, wenn diese wegen der insbesondere bei Vorliegen einer PTBS bzw. schwergradigen depressiven Episode im Herkunftsland zu erwartenden Retraumatisierung auf Grund der Konfrontation mit den Ursachen des Traumas für den Betroffenen nicht erfolgversprechend sind (vgl. Nds OVG, U.v. 28.6.2011 – 8 LB 221/09 – juris Rn. 29; VG München, B.v. 26.4.2016 – a.a.O., juris Rn. 19).
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Der sich auf eine seiner Abschiebung entgegenstehende Erkrankung berufende Ausländer muss diese durch eine qualifizierte, gewissen Mindestanforderungen genügende ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG). Aus dem vorgelegten Attest muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen ärztlichen Befunde bestätigt werden. Zudem sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben.
32
Es entspricht inzwischen gefestigter Rechtsprechung (vgl. BayVGH, B.v. 9.11.2017 – 21 ZB 17.30468 – juris Rn. 4; B.v. 10.1.2018 – 10 ZB 16.30735 – juris Rn. 8; OVG NRW, B.v. 9.10.2017 – 13 A 1807/17A – juris Rn. 19 ff; OVG LSA, B.v. 28.9.2017 – 2 L 85/17 – juris Rn. 2 ff), dass die Anforderungen an ein ärztliches Attest gemäß § 60a Abs. 2c AufenthG auf die Substantiierung der Voraussetzungen eines krankheitsbedingten Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu übertragen sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2018 – 10 ZB 18.30105 – juris Rn. 7).
33
Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze hat der Kläger hier das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinreichend glaubhaft gemacht. Ausweislich der vom Kläger bzw. dessen Bevollmächtigter vorgelegten fachärztliche Bescheinigung der Bezirkskliniken ... – Bezirkskrankenhaus ... – zuletzt vom 30. Januar 2024 (Gerichtsakte Bl. 70 bis 73) leidet der Kläger unter einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome (ICD10: F32.2) sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD10: F43.1). Im ärztlichen Befundbericht ist ausreichend dargelegt, dass die dem Kläger attestierten psychischen Erkrankungen mit den Umständen seiner Flucht aus dem Irak in Zusammenhang stünden. Bei der Flucht aus dem Irak über das Meer seien seine Familienmitglieder sämtlich ertrunken. Der Kläger leide seither an Flashbacks und Alpträumen. Er schlafe nachts nur wenige Stunden. Der Kläger habe Suizidgedanken. Im Januar 2024 sei es zu einem abgebrochenen Suizidversuch gekommen. Beim Kläger liege ein behandlungsbedürftiges depressiv-suizidales Syndrom vor. Der Kläger habe im psychopathologischen Befund über eine gedrückte Stimmung, einen reduzierten Antrieb sowie einen Interessenverlust berichtet, zudem sei es in den letzten Wochen immer wieder zu drängenden Suizidgedanken gekommen. Der Kläger habe Flashbacks mit dem Inhalt der Flucht aus dem Irak geschildert. Psychopharmakologisch wurde beim Kläger eine antidepressive Medikation mit Mirtazapin begonnen und diese bis zu einer Tagesdosis von 45 mg gesteigert. Weiter wird beim Kläger das Antipsychotikum Pipamperon eingesetzt. Beim Kläger konnten alle drei Hauptsymptome sowie Nebensymptome einer rezidivierenden depressiven Störung festgestellt werden. Außerdem habe sich aus der Anamnese des Klägers eine Posttraumatische Belastungsstörung ableiten lassen. Der Kläger sei auf die Antidepressiva Mirtazapin und Clonidin eingestellt worden. Die behandelnden Ärzte gehen beim Kläger aufgrund seiner psychiatrischen Erkrankung mit immer wiederkehrenden Suizidgedanken davon aus, dass eine mehrjährige Langzeitbehandlung der rezidivierenden depressiven Störung sowie der Posttraumatischen Belastungsstörung angezeigt ist. Eine Unterbrechung der adäquaten Behandlung würde die Wahrscheinlichkeit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers mit erneuten Suizidgedanken verursachen. Bei dem psychisch und physisch wiederkehrend instabilen Zustand des Klägers könne bei einer Abschiebung nicht ausgeschlossen werden, dass dieser einen akut psychischen Zusammenbruch mit einem Suizidversuch bis hin zum Tod erleide (vgl. Gerichtsakte Bl. 73).
34
Das Gericht hat an den der psychischen Erkrankung des Klägers zugrundeliegenden Umständen seiner Flucht aus dem Irak und den hierbei erlebten tragischen Umständen keinen Zweifel. Der Sachvortrag des Klägers ist insoweit vollständig glaubwürdig.
35
Auf der Grundlage der im Verfahren vorgelegten fachärztlichen psychologischen Stellungnahmen, die auch die erforderliche Aktualität aufweisen, ist nach Überzeugung des Einzelrichters im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung davon auszugehen, dass dem Kläger ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis auf der Grundlage des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zur Seite steht. Selbst wenn es für den Kläger bei einer Rückkehr in den Irak überhaupt möglich wäre, eine adäquate ärztliche Behandlung – eine solche dürfte allenfalls in den Großstädten im Nordirak überhaupt vorhanden sein – so wäre diese für den Kläger aufgrund des bei ihm vorliegenden psychischen Zustandes wohl nicht erreichbar bzw. jedenfalls nicht finanzierbar. Der Kläger verfügt nach seinem glaubhaften Vortrag in der mündlichen Verhandlung nicht über entsprechende verwandtschaftliche Beziehungen, die ihn bei einer Rückkehr in den Irak bei der Erlangung der für ihn erforderlichen ärztlichen Therapie unterstützen könnten. Ausgehend von den vom Kläger geschilderten Umständen wäre der Kläger jedenfalls nicht in der Lage in seinem Heimatland eine adäquate medizinische Behandlung zu erlangen. Auch dürfte das beim Kläger vorliegende multiple Krankheitsbild der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit dauerhaft entgegenstehen. Hierbei ist auch das Alter des Klägers zu berücksichtigen.
36
Weiter ist zur Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass sich die beim Kläger vorhandenen psychischen Erkrankungen ohne entsprechende adäquate Behandlung nach einer Rückkehr in den Irak alsbald und wesentlich verschlimmern würden. Gemessen an den mehrfach erfolgten fachärztlichen Einschätzungen der Bezirkskliniken ... – Bezirkskrankenhaus, an denen das Gericht keine Zweifel hat, ist festzustellen, dass sich die psychische Erkrankung des Klägers bei einer Rückkehr in den Irak mit hinreichender Wahrscheinlichkeit deutlich verschlechtern würde.
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3. Nach allem ist auf der Grundlage der vorgelegten fachärztlichen psychologischen Stellungnahmen, die auch die erforderliche Aktualität aufweisen, nach Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass dem Kläger ein Schutzanspruch im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zusteht, nicht in den Irak abgeschoben zu werden. Ob zugunsten des Klägers aufgrund des bei ihm vorliegenden Krankheitsbildes zusätzlich ein inlandsbezogenes Abschiebungsverbot auf der Grundlage des Art. 5 Halbs. 1 Buchst c) RL 2008/115/EG vorliegt, bedurfte daher keiner Entscheidung. Nrn. 2, 3 und 4 des Bescheids des Bundesamts vom 8. November 2023, die dieser Feststellung entgegenstehen, waren daher antragsgemäß aufzuheben.
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4. Die Kostenentscheidung in dem nach § 83b AsylG gerichtskostenfreien Verfahren beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, wobei das Gericht zugrunde gelegt hat, dass die erklärte Klagerücknahme des Klägers betreffend die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland die Hälfte des ursprünglichen Streitgegenstandes betrifft, während der Kläger hinsichtlich der weiter aufrechterhaltenen Klage betreffend die Feststellung von Abschiebungsverboten vollständig obsiegt.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).