Titel:
Verkehrsunfall, Schadensersatz, Krankenversicherung, Haftpflichtversicherer, Unfall, Haftpflichtversicherung, Rechtsanwaltskosten, Unfallhergang, Mitverschulden, Kollision, Zufahrt, Geschwindigkeit, Vorfahrt, Kostenentscheidung, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, kein Anspruch, Rechtsprechung des BGH
Schlagworte:
Verkehrsunfall, Schadensersatz, Krankenversicherung, Haftpflichtversicherer, Unfall, Haftpflichtversicherung, Rechtsanwaltskosten, Unfallhergang, Mitverschulden, Kollision, Zufahrt, Geschwindigkeit, Vorfahrt, Kostenentscheidung, vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten, kein Anspruch, Rechtsprechung des BGH
Fundstelle:
BeckRS 2024, 51306
Tenor
1. Der Anspruch der Klägerin gegen den Beklagten auf Ersatz des Schadens infolge des Unfalls vom 15.10.2018 in ..., Höhe … ist dem Grunde nach seit 27.03.2019 zu 100% gerechtfertigt.
2. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den zukünftigen materiellen und immateriellen Schaden, welcher der Klägerin aus dem Verkehrsunfall vom 15.10.2018 in ..., Höhe …, entstehen wird, zu 100% zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
3. Die Widerklage wird abgewiesen.
4. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 15.10.2018 gegen 18:07 Uhr in ..., Höhe ..., ereignete.
2
Die Klagepartei macht Schmerzensgeldansprüche, materielle Ansprüche, Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten und einen Feststellungsantrag geltend, der Beklagte macht widerklagend Schmerzensgeldansprüche geltend.
3
Die Klagepartei fuhr am 15.10.2018 gegen 18:07 Uhr als Fahrradfahrerin mit ihrem Fahrrad KTM den … in südlicher Fahrtrichtung, aus ihrer Sicht von rechts mündet eine „Straße“, deren rechtliche Bewertung zwischen den Parteien streitig ist.
4
An der Einmündung dieser Straße befindet sich eine Reihe von Pflastersteinen, diese Straße führt zu den Grundstücken ... und endet in einem Wendehammer. In der Lichtbildtafel der PI Poing (K 1) befindet sich eine Luftaufnahme (DIN A4-Bild). Die Einmündung zu den Grundstücken ... ist eine verkehrsberuhigte Zone, an der Ecke befindet sich ein Verkehrsspiegel, zwischen den Parteien des Rechtsstreits ist streitig, ob dieser für die Richtung, aus welcher der Beklagte kam oder für die klägerische Fahrtrichtung maßgeblich sein soll.
5
Die Klägerin fuhr den … in südlicher Richtung, der Beklagte kam aus ihrer Sicht von rechts, im Bereich der Kreuzung kam es zur Kollision zwischen den Parteien des Rechtsstreits. Der genaue Unfallhergang ist zwischen den Parteien streitig, jedenfalls kamen beide Parteien zu Fall.
6
Die Klagepartei zog sich durch den Sturz eine Weber-C-Fraktur rechts (Unterschenkelfraktur) und eine OSG-Luxationsfraktur rechts – Trimalleolar (Sprunggelenksfraktur) zu, die Frakturen mussten operativ versorgt werden, zwei Stellschrauben und eine LCP-Platte mussten u. a. eingebracht werden und letztlich durch eine weitere Operation am 23.10.2018 wieder entfernt werden.
7
Die Klagepartei hat mit Schreiben vom 18.02.2019 vom Beklagten die Information angefordert, ob ein Haftpflichtversicherer vorhanden sei.
8
Mit weiterem Einwurf-Einschreiben vom 19.03.2019 (K 6) wurde ein Vorschuss auf den Personenschaden von 4.000,00 Euro bis 03.04.2019 angefordert.
9
Mit Schreiben vom 26.03.2019 teilte die Beklagtenseite mit, eine Haftpflichtversicherung bestehe nicht und verwies auf die Einstellung des Strafverfahrens (K 7).
10
Die Klagepartei trägt vor, die „Straße“, aus welcher der Beklagte von rechts kam, sei eine Grundstücksausfahrt, so dass die Regel „rechts vor links“ hier nicht gelte.
11
Die Klagepartei habe sich der Einmündung genähert und habe, da sie das Herannahmen des Beklagten bemerkt habe, angehalten. Der Beklagte sei mit ziemlich hoher Geschwindigkeit ungebremst gegen die Klägerin und ihr Fahrrad gestoßen. Sie habe keinerlei Tragetaschen am Lenker gehabt, lediglich in ihrem Fahrradkorb auf dem Gepäckträger seien zwei Flaschen Wein, zwei Dosen Bier und ihre schwarze Tasche gewesen.
12
Die Verletzungen habe sie sich bei dem Sturz zugezogen, sie sei beim Aufstehen nicht auf eine Bierdose getreten und umgeknickt. Der Beklagte sei mit seinem Fahrrad gegen das Vorderrad der stehenden Klägerin (beide Füße hätten sich bereits auf der Straße befunden) gestoßen, dadurch sei der Lenker nach links gedreht worden und die Klägerin sei nach rechts gestürzt.
13
Bestritten wird, dass sich der Beklagte äußert rechts gehalten habe, vielmehr sei er in der Mitte seiner Straße gefahren.
14
Hinsichtlich der Folge der beiden Frakturen und der dadurch erforderlichen ärztlichen und physiotherapeutischen Behandlung wird auf die Klageschrift und die dort befindlichen Bescheinigungen Bezug genommen.
15
Die Klägerin trägt vor, seit dem Verkehrsunfall sei die Belastbarkeit des rechten Fußes nicht mehr vollständig vorhanden, sie habe 40% ihrer Lebensqualität eingebüßt, ein Dauerschaden würde verbleiben.
16
Die Klagepartei hält ein Schmerzensgeld von mindestens 12.500,00 Euro für angemessen.
17
Die Klägerin trägt weiter vor, sie sei in ihrer Haushaltsführung ab 15.10.2018 bis 13.08.2019 zunächst zu 100% eingeschränkt gewesen, sodann zu 80, 60 und zuletzt 40%.
18
Die Klagepartei errechnet einen Haushaltsführungsschaden von insgesamt 4.675,00 Euro.
19
Weiterhin macht die Klagepartei Zuzahlungen und Heilbehandlungskosten geltend, die ihr durch die Krankenversicherung nicht ersetzt worden seien.
20
Im Übrigen werden Fahrtkosten von 194,15 Euro geltend gemacht.
21
Zudem werden vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 1,3-Gebühr aus einem Gegenstandswert von 4.000,00 Euro geltend gemacht.
22
Hinsichtlich der rechtlichen Würdigung vertritt die Klagepartei die Auffassung, ihr stünde ein Anspruch aus § 823 Abs. 2, §§ 249 ff. in Höhe von 100% zu.
23
Bei der Einmündung, aus welcher der Beklagte gekommen sei, handele es sich um eine Grundstücksausfahrt/Nebenstraße mit der Folge, dass der Beklagte aus § 10 StVO und aus § 1 Abs. 2 StVO sich hätte so verhalten müssen, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei.
24
Der Beklagte habe auch im Straßenspiegel die Klägerin herannahen sehen, ein Mitverschulden scheide aus, da die Klagepartei nach rechts keine Sicht auf den herannahenden Beklagten gehabt habe.
25
Hinsichtlich der Widerklage ist die Klagepartei der Ansicht, dass schon kein Anspruch aufgrund des alleinigen Verschuldens des Beklagten bestehe, im Übrigen werden die Verletzungen und die Arbeitsunfähigkeit bestritten.
26
Die Klagepartei beantragt,
I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens 12.500,00 €, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
II. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin € 5.334,27 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
III. Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin den zukünftigen immateriellen und materiellen Schaden aus dem Verkehrsunfall vom 15.10.2028 in ..., …, Höhe des Anwesens Haus Nr. ... zu ersetzen, soweit die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
IV. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von € 413,64 nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz hieraus seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
27
Der Beklagte beantragt,
Die Klage wird abgewiesen.
28
Widerklagend beantragt der Beklagte,
die Klägerin kostenpflichtig zu verurteilen, an den Beklagten aus dem Unfallereignis vom 15.10.2018 ein Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens aber € 650 nebst Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit.
29
Die Klägerin beantragt,
Die Widerklage wird abgewiesen.
30
Der Beklagte trägt vor, er sei aus einer gleichberechtigten Straße herausgekommen, es handle sich nicht nur um eine „letztlich als Grundstückseinfahrt zu bewertende Einwohnerstraße“.
31
Mithin gelte die Regel „rechts vor links“, so dass der Beklagte Vorfahrt gehabt habe.
32
Die Pflasterungen wären lediglich aus gestalterischen Gründen vorhanden, um den verkehrsberuhigten Bereich, aus welchem der Beklagte herausgefahren ist, zu kennzeichnen. Der Beklagte sei Schrittgeschwindigkeit, allenfalls mit 7 km/h gefahren und hätte sich äußerst rechts gehalten und sei mit hohem Bogen nach links abgebogen.
33
Die Klägerin sei entweder falsch ausgewichen oder habe die Kontrolle über ihr Rad verloren und sei mit dem Vorderrad nach links ausgeschert und gegen den soeben passierenden Beklagten gestoßen. Eine Unfallursache seien jedenfalls schwere Tüten am Lenker des klägerischen Fahrrads gewesen.
34
Würde die Schilderung der Klägerin zutreffen, hätte sie nach links umfallen müssen.
35
Der Beklagte trägt vor, die Klägerin sei wohl beim Aufstehen nach dem Sturz auf eine Bierdose getreten und umgeknickt, dies sei wohl die Ursache der Frakturen.
36
Der Verkehrsspiegel sei im Wesentlichen so eingestellt, dass die Klagepartei diesen habe nutzen müssen. Die Klagepartei habe mithin gegen das Rechtsfahrgebot verstoßen, da sie nicht äußerst rechts gefahren sei und die Vorfahrt „rechts vor links“ nicht eingehalten, im Übrigen habe sie am Lenker entgegen § 23 Abs. 1 S. 1 StVO schwere Lasten gehabt.
37
Die Beklagte bestreitet die Verletzung der Klägerin als solche nicht, jedoch ihren Umfang und ihre Folgen. Ebenso, dass die Klagepartei 40% ihrer Lebensqualität eingebüßt habe und ein Dauerschaden verbleibe. Der Haushaltsführungsschaden wird bestritten, die Höhe der Heilbehandlungs- und Fahrtkosten wird ebenso bestritten.
38
Der Beklagte trägt vor, er habe sich bei dem Unfall eine Prellung an Arm und Schulter zugezogen (B 8), er sei für eine Woche arbeitsunfähig gewesen.
39
Das Gericht hat mehrfach mündlich verhandelt, in der mündlichen Verhandlung vom 23.07.2020 wurden die Parteien des Rechtsstreits angehört. In der mündlichen Verhandlung vom 25.01.2023 wurden die Parteien erneut informatorisch angehört (aufgrund eines mittlerweile eingetretenen Richterwechsels), weiterhin wurden die Zeugen …, ... angehört.
40
In der mündlichen Verhandlung vom 10.03.2023 wurde der Zeuge … angehört.
41
Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörungen wird auf die entsprechenden Protokolle Bezug genommen.
42
Weiterhin hat das Gericht gemäß Beweisbeschluss vom 29.03.2023 ein Sachverständigengutachten eingeholt.
43
Das Gutachten des Sachverständigen ... datiert vom 18.08.2023 und befindet sich auf Bl. 190/238 d. A.
44
Auf das Sachverständigengutachten wird Bezug genommen.
45
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf sämtliche gewechselten Schriftsätze der Parteivertreter nebst Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
46
Ein Zwischenurteil über den Grund, verbunden mit einem Teilendurteil, ist vorliegend zulässig. Ein Grundurteil darf ergehen, wenn ein Anspruch auf Zahlung einer bezifferten Geldschuld oder auf Leistung anderer vertretbarer, der Höhe nach summenmäßig bestimmter Sachen geltend gemacht wird und Grund und Betrag streitig sind (Thomas/Putzo, § 304, Rz. 3 und 2). Bei dem vorliegend von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auf Ersatz des ihr aufgrund des Unfallereignisses entstandenen Schadens handelt es sich um einen Anspruch, der sowohl dem Grunde nach als auch der Höhe nach streitig ist.
47
Der Streit über den Grund ist nach der durchgeführten Beweisaufnahme zum Unfallhergang auch entscheidungsreif.
48
Es genügt, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit der Klageanspruch, wenn er sich aus unselbstständigen Einzelposten als einheitlicher Anspruch zusammensetzt, in irgendeiner Höhe besteht (Thomas/Putzo, § 304, Rz. 4). So liegt der Fall hier. Nach der allgemeinen Lebenserfahrung ist davon auszugehen, dass der Klägerin aufgrund des Unfalls jedenfalls ein materieller Schaden entstanden ist.
49
Zudem hat das Gericht die anspruchsbegründenden Tatsachen festgestellt, so dass eine Entscheidung über den Haftungsgrund möglich ist.
50
Der Erlass eines Grundurteils steht, wenn es zulässig ist, im freien, nicht nachprüfbaren Ermessen des Gerichts (BGH NJW 95, 1093).
51
Hinsichtlich des Feststellungsantrages, den die Klägerin geltend macht, ist nach der ständigen Rechtsprechung des BGH kein Grundurteil möglich (BGH NJW 00, 664 und 1572); hinsichtlich des Feststellungsantrages der Klagepartei war mithin ein Teilendurteil zu erlassen.
52
Hinsichtlich der Widerklage wurde ebenso durch ein Teilendurteil entschieden, da ein Anspruch des Beklagten schon dem Grunde nach nicht besteht.
53
Die zulässige Klage ist dem Grunde nach zu 100% begründet.
54
Der Klägerin steht gegenüber dem Beklagten dem Grunde nach ein Anspruch auf Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB in Höhe von 100% zu.
55
Dem Beklagten ist ein Verkehrsverstoß nach der StVO vorzuwerfen, ein klägerisches Mitverschulden ist nach der Überzeugung des Gerichtes nicht gegeben.
56
Zunächst schließt sich das Gericht der Überzeugung der Klagepartei an, dass es sich bei der „Straße“, aus welcher der Beklagte gefahren kam, um eine Grundstücksausfahrt oder einen anderen Straßenteil im Sinne von § 10 StVO handelt.
57
Die Straße, aus welcher der Beklagte kam, ist eine Zufahrt zu den Grundstücken ... und ist durch eine gepflasterte Rinne optisch abgesetzt.
58
Weiterhin ist unstreitig, dass es sich lediglich um die Zufahrt zu dem ... handelt und die Straße in einem Wendehammer endet. Dies ergibt sich aus den Fotos, die aus der Strafakte, Anlage K 1, zu sehen sind, sowie aus den von der Beklagtenseite vorgelegten Skizzen, z. B. B 11 und B 12. Wie der Sachverständige in seinem Gutachten feststellt, ist im Übrigen die Zufahrt zu ... mit einem Schild „Privatgrund“ ausgewiesen. Unstreitig handelt es sich um den Bereich, aus welchem der Beklagte kam, um einen verkehrsberuhigten Bereich. Auch aus den Bildern des Sachverständigengutachtens, insbesondere Bild 5, Bild 7 und Bild 8 sowie Bild 9 und Bild 10 ist die Straße, wie sie sich für den Beklagten zeigte, deutlich zu sehen.
59
Da es sich mithin nicht um eine Durchgangsstraße, sondern lediglich um eine kleine „Straße“ zu den Grundstücken handelt, geht das Gericht davon aus, dass es sich lediglich um einen anderen Straßenteil im Sinne von § 10 StVO handelt.
60
Es handelt sich mithin nicht um eine kreuzende Fahrbahn, auch nicht um eine Einmündung, da unter einer Einmündung im Sinne von § 8 StVO das Zusammentreffen von Straßen mit einer Fortsetzung verstanden wird und zwei gleichberechtigte, dem fließenden Verkehr dienende Straßen voraussetzt, von denen die eine in die andere einmündet (OLG Köln, Schaden-Praxis 1998, 199 f). Keine Einmündungen hingegen, sondern lediglich andere Straßenteile im Sinne von § 10 StVO sind Flächen, die zwar dem öffentlichen Verkehr, aber nicht dem durchgehenden fließenden Verkehr dienen, mithin Gehwege, Seitenstreifen, Parkplätze und Tankstellen einschließlich ihrer Zu- und Abfahrten (BGH VersR 1985, 835 ff.). Die Beurteilung im Einzelfall richtet sich nach dem äußeren Erscheinungsbild und den jedermann erkennbaren Merkmalen einer Absonderung vom fließenden Verkehr.
61
Weiterhin ist festzustellen, dass der Gesetzgeber die rechtliche Einordnung des Verkehrsweges als Grundstücksausfahrt nicht von dem baulichen Zustand, sondern von dem Zweck und der Bedeutung für den Verkehr abhängig gemacht hat. Es kommt maßgeblich darauf an, ob der Verkehrsweg dem fließenden Verkehr dient oder nur dem Zugang zu einem Grundstück, also auf seine Bedeutung für den Verkehr, die nicht nur auf den Blickwinkel der Verkehrsfrequenz verkürzt werden darf. Dabei muss die Verkehrsbedeutung nach auch außen in Erscheinung treten, dies darf jedoch nicht dahingehend verstanden werden, das damit verbundene Vorfahrtrechte und Wartepflichten nur dann entstehen, wenn jeder Adressat die dafür maßgebenden Merkmale des Verkehrswegs auch erkennen kann. Den Verkehrsteilnehmer trifft eine gesteigerte Sorgfaltspflicht, wenn ihm mangels eindeutiger Kriterien Zweifel kommen müssen, ob ein Verkehrsweg zu der von ihm befahrenen Straße eine vorfahrtsberechtigte Straßeneinmündung oder eine untergeordnete Grundstücksausfahrt ist (vgl. BGH, VI ZR 296/86; NJW-RR 1987, 1237 – 1238).
62
Vorliegend hält das Gericht insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich lediglich um eine Zufahrt zu Grundstücken handelt, die mit einem „Privatgrund“ gekennzeichnet ist und in einem Wendehammer endet, nicht um eine gleichberechtigte Straße, sondern um einen „anderen Straßenteil“ im Sinne von § 10 StVO.
63
Dies hat zur Folge, dass der Beklagte, der aus einer verkehrsberuhigten Zone kam, äußerste Vorsicht hätte walten lassen müssen und ggf. an der Einmündung stehenbleiben müssen und der Klägerin die Vorfahrt gewähren müssen. Die Verkehrsregel „rechts vor links“ ist mithin nicht einzuhalten.
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Unstreitig zwischen den Parteien ist, dass der Beklagte jedenfalls in den Einmündungsbereich eingefahren ist. Streitig ist, ob der Beklagte, so wie er vorträgt, ganz rechts gefahren sei und die Klägerin gestanden habe oder nicht.
65
Hinsichtlich der Frage, ob die Klägerin zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes beide Füße am Boden hatte oder nicht, kann der Sachverständige ... keine Angaben machen. In seinem Gutachten ist nachvollziehbar dargestellt, dass sowohl die Unfallschilderung der Klagepartei, bei der Kollision sei sie gestanden, als auch die Darstellung des Beklagten, die Klägerin sei noch gefahren, als nachvollziehbar erweisen.
66
Bezüglich der Behauptung des Beklagten, er sei ganz rechts gefahren, hat der Sachverständige nachvollziehbar ausgeführt, dass sich aus dem Kollisionsort in unmittelbarer Nähe der unfallbedingten Endlage des Fahrrades der Klägerin die Notwendigkeit ergibt, dass der Beklagte eher mittig aus der Zufahrt zu dem Anwesen nach links gerichtet in die Fortsetzung des ... in Richtung des nördlich davon befindlichen Wendehammers gefahren sei.
67
Mithin ist die Darstellung des Beklagten in seiner informatorischen Anhörung, er sei ganz am rechten Fahrbahnrand gefahren, nicht richtig.
68
Irrelevant ist nach der Überzeugung des Gerichtes, ob die Klägerin zum Zeitpunkt der Kollision stand oder noch in Bewegung war, da die Klägerin Vorfahrt gehabt hat, gerade nicht warten musste.
69
Hinsichtlich der Behauptung des Beklagten, der Sturz könne sich nach der Schilderung der Klagepartei nicht so ereignet haben, dass die Klagepartei nach rechts gestürzt sei, hat der Sachverständige in seinem nachvollziehbaren Gutachten dies widerlegt.
70
Sowohl die Schilderung der Klagepartei, als auch die Sturzrichtung seinen unfallanalytisch und technisch einwandfrei nachvollziehbar.
71
Mithin geht das Gericht jedenfalls davon aus, dass der wartepflichtige Beklagte der Klagepartei die Vorfahrt genommen hat.
72
Ein Mitverschulden der Klagepartei kann das Gericht nicht erkennen, sowohl nach ihrer eigenen Schilderung, als auch nach den Ausführungen des Sachverständigen ... ist die Klägerin eher langsam gefahren. Ob sie zum Stehen kam oder nicht, spielt für ein Mitverschulden nach der Überzeugung des Gerichts keinerlei Rolle.
73
Bezüglich der Behauptung des Beklagten, die Klagepartei habe am Lenker Tüten gehabt und sei somit zum Schlingern gekommen, was ein Mitverschulden der Klagepartei darstellen würde, konnte der darlegungs- und beweispflichtige Beklagte das Gericht davon nicht überzeugen.
74
Die Klägerin hat in ihrer informatorischen Anhörung beteuert, sämtliche eingekauften Gegenstände hätten sich in dem Fahrradkorb auf dem hinteren Gepäckträger befunden. Am Lenker hätte sie überhaupt keine Gegenstände oder Taschen hängen gehabt.
75
Zwar schilderte der Beklagte den Zusammenstoß so, dass die Tüten sich bei der Kollision am Lenker befunden hätten, jedoch folgt das Gericht eher den Angaben der Klagepartei, da der Beklagte sich hinsichtlich der Einschätzung, er habe sich ganz rechts am Fahrbahnrand befunden beim Abbiegen, ebenso nicht richtig erinnern konnte. Eine bewusst wahrheitswidrige Aussage unterstellt das Gericht dem Beklagten nicht, da dieser ebenso wie die Klagepartei einen ehrlichen Eindruck auf das Gericht hinterließen.
76
Die einvernommenen Zeugen konnten zur Problematik, ob die Klagepartei Tüten oder Taschen am Lenkrad hatte, nichts sagen.
77
Ebenso ist das Gericht davon überzeugt, dass sich die Klagepartei bei dem Sturz und nicht bei einem daraufhin folgenden Aufstehen und Treten auf eine am Boden befindliche Bierdose die Frakturen zugezogen hat.
78
Dies beteuerte die Klagepartei in ihrer informatorischen Anhörung.
79
Der Beklagte gab in seiner ersten informatorischen Anhörung vom 23.07.2020 jedenfalls an, er habe den Moment, als die Klagepartei auf die Bierdose gestiegen sein, nicht gesehen.
80
Da die Klagepartei beteuerte, äußerst langsam gefahren zu sein, ist ihr ein Mitverschulden gemäß § 254 BGB nicht anzulasten.
81
Hinsichtlich des Verkehrsspiegels hat der Sachverständige in seinem Gutachten, dort Seite 23, festgestellt, dass sowohl die Klagepartei die Annäherungsrichtung des Beklagten, als auch für den Beklagten die Annäherung der Klagepartei einsehbar waren.
82
Nach den nicht widerlegten Darstellungen der Klagepartei in ihrer informatorischen Anhörung, die nach den Ausführungen des Sachverständigen auch plausibel erscheinen können, hat die Klagepartei auch sofort angehalten und ihre Füße auf den Boden gestellt oder ist zumindest sehr langsam gefahren. Mehr konnte von ihr nicht erwartet werden, so dass der darlegungs- und beweispflichtige Beklagte ein Mitverschulden nach § 254 BGB gerade nicht nachweisen konnte.
83
Hinsichtlich der Ausführungen des Sachverständigen weist das Gericht darauf hin, dass der Sachverständige dem Gericht aus einer Vielzahl von Verfahren als besonders kompetent bekannt ist. Darüber hinaus sind die Darstellungen und Schlussfolgerungen in seinem Gutachten vom 18.08.2023 absolut nachvollziehbar und in sich schlüssig, so dass an dessen Richtigkeit keinerlei Zweifel entstehen.
84
Betreffend den Schmerzensgeldanspruch und den materiellen Schaden hat die Klagepartei daher einen Anspruch auf Ersatz dieser Schäden in Höhe von 100%.
85
Da sowohl die Höhe des Schmerzensgeldes, als auch die Höhe der materiellen Schäden durch weitere Sachverständigengutachten und ggf. weitere Beweiserhebungen festgestellt werden müssen, stehen sie der Höhe nach nicht fest.
86
Hinsichtlich des Feststellungsantrages der Klagepartei hat diese einen Anspruch auf Feststellung, dass der Beklagte zukünftige Schäden ebenfalls zu 100% zu ersetzen hat.
87
Die Rechtsverfolgungskosten stehen betragsmäßig noch nicht fest, daher bleibt eine Entscheidung hierüber dem Schlussurteil vorbehalten.
88
Was die Widerklage angeht, stehen dem Beklagten gegenüber der Klägerin keinerlei Ansprüche aus § 823 Abs. 1, Abs. 2 BGB zu, da ein klägerisches Verschulden gerade nicht vom Beklagten nachgewiesen werden konnte.
89
Insoweit wird auf die obigen Ausführungen Bezug genommen.
90
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten, ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hatte nicht zu ergehen.