Inhalt

OLG München, Endurteil v. 12.12.2024 – 32 U 480/23 e
Titel:

Coronavirus, SARS-CoV-2, Schadensersatz, Baugenehmigung, Nichtzulassung, Berufung, Leistungen, Eintragung, Beschwerde, Mietvertrag, Rechtsanwaltskosten, Revision, Mitverschulden, Bauantrag, Mietsache, Mieter, Die Fortbildung des Rechts, Nichtzulassung der Revision, Treu und Glauben

Leitsätze:
1. Der unterlassene Hinweis des Vermieters auf eine im Grundbuch zu Gunsten des Nachbarn eingetragene Grunddienstbarkeit, welche dem Betrieb des Gewerbes (hier: einer Kinderkrippe) des Mieters entgegensteht, kann eine fristlose Kündigung des Mietverhältnisses nach § 543 Abs. 1 BGB begründen.
2. Dies gilt auch dann, wenn zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung das entgegenstehende Recht des Nachbarn aufgrund einer streitigen Auslegung der Dienstbarkeit nur möglicherweise besteht und erst nach einem jahrelangen Rechtsstreit zwischen Vermieter und Grundstücksnachbar feststeht, dass das eingetragene Recht dem Betrieb des Gewerbes nicht entgegensteht.
Schlagworte:
Coronavirus, SARS-CoV-2, Schadensersatz, Baugenehmigung, Nichtzulassung, Berufung, Leistungen, Eintragung, Beschwerde, Mietvertrag, Rechtsanwaltskosten, Revision, Mitverschulden, Bauantrag, Mietsache, Mieter, Die Fortbildung des Rechts, Nichtzulassung der Revision, Treu und Glauben
Vorinstanz:
LG München I, Urteil vom 10.01.2023 – 23 O 2149/20
Fundstelle:
BeckRS 2024, 51160

Tenor

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts München I vom 10.01.2023, Az. 23 O 2149/20, abgeändert und wie folgt gefasst:
(1) Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin einen Betrag von 309.161,66 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 17.12 2020 zu bezahlen.
(2) Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Im Übrigen wird die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 10.01.2023, Az. 23 O 2149/20, zurückgewiesen.
3. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 10.01.2023, Az. 23 O 2149/20, wird zurückgewiesen.
4. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Zwangsvollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Zwangsvollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Beschluss
Der Streitwert wird für das Berufungsverfahren auf 309.161,68 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

I.
1
Die Klägerin macht nach einer außerordentlichen Kündigung und einer Anfechtung eines Mietvertrags über Kindertagesstättenräume einen Kündigungsschaden in Form des Ersatzes von vergeblichen Aufwendungen geltend.
2
1. Die Gesellschafter der Klägerin betreiben in … mehrere private Kindergärten in der Rechtsform einer GmbH unter der Bezeichnung „…“. Sie beabsichtigten in … mit einer zu gründenden GmbH einen weiteren Standort für eine Kindertagesstätte einzurichten.
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Die Beklagte ist Eigentümerin des Grundstücks … in … mit dem darauf befindlichen Wohn- und Geschäftshaus nebst Garten und Tiefgarage.
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Mit schriftlichem Mietvertrag vom 29.05.2019 vermietete die Beklagte das Grundstück … in … mit Ausnahme einiger Räumlichkeiten, die weiterhin von der Vermieterin genutzt wurden, an eine „… GmbH“ vertreten durch den Geschäftsführer …. Das Mietobjekt wurde zum Zweck der Nutzung als Kindergarten, Kinderkrippe, Kinderhort, Schule, Büroräume, Schulungsräume und Frischküche überlassen. Das Mietverhältnis sollte am 01.06.2019 beginnen und auf die Dauer von 17 Jahren abgeschlossen sein. Der Mieterin stand ein Optionsrecht zu, eine Verlängerung der Mietzeit um zweimal fünf Jahre zu erwirken. Die monatliche Gesamtmiete betrug 17.017,50 €, die ersten acht Monate sollten mietfrei sein. Die Mieterin sollte sich auf eigenes Risiko um alle behördlichen Genehmigungen für den Umbau der Anlage und den Betrieb der Kindertagesstätte kümmern.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Mietvertrags wird auf die Anlage K 1 Bezug genommen.
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2. Die „… GmbH“ befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Gründungsphase; zu einer Gründung der Gesellschaft und einer Eintragung im Handelsregister kam es nicht.
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Auf dem Mietgrundstück lastet zugunsten des Nachbargrundstücks …, … folgende Grunddienstbarkeit (vgl. Grundbuchauszüge Anlagen K 6 und K 7):
„Auf dem Grundstück dürfen weder eine öffentliche Tankstelle, noch eine Gastwirtschaft noch ein sonstiger lärmerregender oder belästigender Betrieb errichtet werden.“
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Über das Bestehen der Dienstbarkeit wurde vor Abschluss des Mietvertrags seitens der Beklagten nicht aufgeklärt.
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3. Die Gesellschafter der Klägerin trafen in der Folgezeit Vorbereitungen für die Einrichtung des Kindertagesstättenbetriebs. Bereits vor Abschluss des Mietvertrags hatten sie mit der Landeshauptstadt … Kontakt aufgenommen wegen der Gewährung von Fördermitteln und Investitionskostenzuschüssen. Weiter hatten sie das Architekturbüro … für die Begleitung des Umbaus und der Nutzungsänderung eingeschaltet. Mit Schreiben vom 17.09.2019 mit diversen Korrekturanmerkungen vom 17.10.2019 reichte das Architekturbüro bei der Landeshauptstadt … -Lokalbaukommissionden Bauantrag für die Nutzungsänderung ein (Anlage K 4).
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Bei einem Gespräch mit dem Sachbearbeiter der Lokalbaukommission im November 2019 erfuhren die Gesellschafter der Klägerin, dass die Eigentümer des benachbarten Grundstücks … (Familie …) öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Einwendungen gegen die Nutzungsänderung erhoben hatten. Diese beriefen sich unter anderem auf die zu ihren Gunsten bestehende Grunddienstbarkeit. Die Gesellschafter der Klägerin nahmen daraufhin Anfang Dezember 2019 Einsicht in das Grundbuch.
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4. Mit Anwaltsschreiben vom 11.12.2019 (Anlage K 10) forderte die Mieterin die Beklagte auf, den aus der Grunddienstbarkeit resultierenden Mangel der Mietsache bis zum 31.12.2019 zu beseitigen. Die Beklagte stellte sich auf den Standpunkt, dass der Betrieb der Kindertagesstätte von der Dienstbarkeit nicht erfasst werde. Daraufhin erklärte die Mieterin mit Schreiben vom 09.01.2020 die Kündigung des Mietverhältnisses aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung und vorsorglich die Anfechtung des Mietvertrags wegen Täuschung und Irrtum (Anlage K 12). Die Kündigung wurde darauf gestützt, dass die Beklagte bei Abschluss des Mietvertrags das Bestehen der Grunddienstbarkeit verschwiegen habe. Die Erklärungen wurden vorsorglich mit Schreiben vom 06.05.2020 wiederholt (Anlage K 19).
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Der Mietvertrag wurde letztlich nicht in Vollzug gesetzt; zu einer Übergabe der Mieträume kam es nicht mehr. Die Klägerin nahm am 09.12.2019 den Bauantrag zurück und kündigte den Architektenvertrag.
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5. Mitte 2022 schloss die Beklagte mit der … GmbH einen neuen Mietvertrag über das Anwesen. In einem Parallelverfahren stritt die Beklagte mit den Nachbarn Familie … über die Auslegung der Grunddienstbarkeit und die Zulässigkeit des Kindertagesstättenbetriebs. Die Rechtsansicht der Beklagten wurde in zwei Instanzen bestätigt (Urteil des Landgerichts München I vom 28.04.2022, Az.: 5 O 730/21; Berufungsurteil des Oberlandesgerichts München vom 04.07.2023, Az.: 5 U 3220/22; vgl. Anlage B 7). Die Beschwerde der Nachbarn gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberlandesgerichts wies der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 09.09.2024 zurück (Anlage B 10).
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6. Die Klägerin forderte in erster Instanz zuletzt die Zahlung eines Betrags von 310.710,37 € nebst Zinsen als Ersatz für vergebliche Aufwendungen für das Mietobjekt.
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Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen:
- Honorar Architekturbüro … für die Leistungsphasen 1-4: 92.149,47 €
- Honorar Architekturbüro … für die Leistungsphasen 5-9: 187.976,51 €
- Kosten Brandschutzkonzept …: 6.961,50 €
- Kosten Tragwerksprüfung Fa. …: 1.813,08 €
- Planungskosten Prüfung Elektroleitungen Fa. …: 1.006,74 €
- Planungskosten für haustechnische Anlagen …: 3.550,58 €
- Kosten für Gebäude- und Grundstücksvermessung Fa. …: 1.166,20 €
- Kosten für Planung Außenanlagen …: 8.278,34 €
- Rechnung … für Nutzungsänderung: 2.117,49 €
- Rechtsanwaltskosten: 5.690,46 €
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Wegen der Einzelheiten wird auf die als Anlagenkonvolut zum klägerischen Schriftsatz vom 18.12.2020 vorgelegten Rechnungen und die Anlagen K 26, K 27, K 28, K 30 und K 31 Bezug genommen.
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7. Die Klägerin trägt zur Begründung im Wesentlichen vor, dass sie als Vorgründungsgesellschaft, die nach den Regeln der Gesellschaft bürgerlichen Rechts zu behandeln sei, zur Geltendmachung der Ansprüche berechtigt sei. Die Kündigung und die Anfechtung des Mietvertrags seien berechtigt gewesen. Die Beklagte habe einen wesentlichen aufklärungspflichtigen Umstand verschwiegen, sie hätte über das Bestehen der Grunddienstbarkeit aufklären müssen. Bei Kenntnis der Umstände hätte die Klägerin den Mietvertrag nicht geschlossen. Der Nutzungsänderung hätten keine planungs- oder baurechtlichen Bestimmungen entgegengestanden. Im Normalfall könne sich der Betreiber einer Kindertagesstätte bei Nachbareinwendungen auf die Privilegierung des § 22 Abs. 1a BImschG berufen. Vorliegend habe jedoch ein dinglich gesicherter Anspruch der Nachbarn bestanden, der ihnen einen vertraglich begründeten Unterlassungsanspruch verliehen habe. Dadurch habe ein erheblich erhöhtes Risiko einer Betriebseinstellung bestanden, der über das übliche Betriebsrisiko hinausgegangen sei. Im Hinblick auf das Investitionsrisiko in Millionenhöhe und das auf lange Zeit angelegte Mietverhältnis sei ein Festhalten am Mietvertrag nicht zumutbar gewesen.
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8. Die Beklagte wendet ein, dass die Aktivlegitimation der Klägerin nicht gegeben sei.
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Die Förderfähigkeit der Kindertagesstätte, die Beauftragung der Architekten und Fachplaner, deren Leistungserbringung sowie die Höhe der Vergütungen würden bestritten.
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Es habe sich ein Mieterrisiko im Zusammenhang mit der Genehmigungserlangung verwirklicht. Nach § 2 des Mietvertrags liege das gesamte, mit der Nutzung verbundene Risiko in der Sphäre der Mieterin. Die Ansprüche seien daher vertraglich ausgeschlossen.
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Der Klägerin sei ein Mitverschulden anzulasten. Sie habe die Aufklärung des Sachverhalts versäumt. Die Zerrüttung des nachbarschaftlichen Verhältnisses sei bei den Vertragsverhandlungen bekannt gewesen. Die Klägerin sei projekterfahren und von Fachleuten beraten worden.
22
Die Grunddienstbarkeit stehe dem Betrieb einer Kindertagesstätte nicht entgegen. Diese sei nicht hinreichend bestimmt. Dem Geschäftsführer der Beklagten sei die Dienstbarkeit zum Zeitpunkt des Mietvertragsabschlusses nicht bekannt gewesen. Ein Mangel der Mietsache habe nicht bestanden. Die Beklagte hätte ihrer Gebrauchsverschaffungspflicht nachkommen können.
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Die Räume hätten auch als Schulungs- oder Büroräumlichkeiten genutzt werden können. Es sei davon auszugehen, dass die Klägerin unabhängig von der Dienstbarkeit kein Interesse an der Fortführung der Kindertagesstätte gehabt habe.
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9. Das Landgericht München I hat Beweis erhoben durch die Vernehmung von fünf Zeugen, die als beteiligte Fachplaner zu der Beauftragung, der Erbringung und der Abrechnung ihrer Leistungen einvernommen wurden. Weiter hat es ein schriftliches Gutachten des Sachverständigen … zu der Erforderlichkeit, der Erbringung und der Abrechnung der Fachplanungsleistungen erholt.
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10. Das Landgericht hat die Beklagte durch Endurteil vom 10.01.2023 zur Zahlung von 108.158,84 € nebst Zinsen verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen.
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Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin als Mieterin Vertragspartei des schriftlichen Mietvertrags vom 29.05.2019 sei. Sie sei als Vorgründungsgesellschaft eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, deren Gesellschafter die Eheleute … seien.
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Die Voraussetzungen für eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung habe die Klägerin nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen. Die Klägerin habe allerdings das Mietverhältnis wirksam nach § 543 Abs. 1 BGB aus wichtigem Grund mit sofortiger Wirkung gekündigt. Das Bestehen der Grunddienstbarkeit und die hierdurch vermittelte Rechtsposition der Nachbarn stelle ein deutlich erhöhtes Risiko dar. Die Entscheidung der Klägerin, das Vorhaben nicht weiter zu verfolgen, beruhe auf nachvollziehbaren wirtschaftlichen Überlegungen. Dabei seien die erheblichen Investitionen für den Umbau, das Risiko der Rückforderung von Fördergeldern, etwaige Ersatzansprüche der Kunden und eine etwaige Mietzahlungspflicht für eine lange Vertragsdauer zu berücksichtigen. Bei der wertenden Betrachtung sei weiter zu sehen, dass die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, die Klägerin über die bestehende Grunddienstbarkeit zu informieren. Es komme nicht darauf an, ob die Dienstbarkeit der Nutzung als Kindertagesstätte tatsächlich entgegenstehe; es sei vielmehr auf die Risikoabwägung und die fehlende Rechtssicherheit für die Klägerin abzustellen. Der Haftungsausschluss aus § 2 des Mietvertrags sei nicht einschlägig; dieser beziehe sich auf öffentlich-rechtliche Anordnungen und Genehmigungen. Eine Frist zur Abhilfe sei gesetzt worden.
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Der Klageanspruch sei nach Auswertung der Beweisaufnahme in Höhe von 108.158.84 € begründet. Die geltend gemachten Aufwendungsforderungen seien mit Ausnahme der Architektenkosten für die Leistungsphasen 5 bis 9 und der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten erstattungsfähig. Eine Mitverantwortung an der Entstehung des Schadens nach § 254 Abs. 1 BGB treffe die Klägerin nicht.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes und der getroffenen Feststellungen wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
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11. Gegen das Urteil wenden sich beide Parteien mit der Berufung.
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Die Klägerin möchte mit ihrer Berufung die Verurteilung zu einer weiteren Zahlung in Höhe von 201.002,84 € nebst Zinsen erreichen.
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Sie trägt zur Begründung vor, dass ein Anspruch auf Erstattung der Architektenkosten für die Leistungsphasen 5 bis 9 in Höhe von 187.976,51 € bestehe. Der Anspruch beruhe auch auf § 536a BGB, da die Mietsache mangelhaft gewesen sei; in diesem Rahmen könne die Klägerin Aufwendungsersatz nach § 284 BGB verlangen. Die Architektenkosten seien Aufwendungen, welche die Klägerin in Erwartung einer vereinbarungsgemäßen Vertragsabwicklung billigerweise tätigen durfte. Die Vergabe der Architektenleistungen bereits vor der Genehmigung der Nutzungsänderung sei dem kurzen Zeitfenster der mietfreien Zeit geschuldet gewesen.
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Die Klägerin habe weiter Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Erstellung des Brandschutzkonzepts (6.961,50 €) sowie der Kosten für die Tragwerksprüfung (1.813,08 €). Das Landgericht habe insoweit die Berechtigung der Schadenspositionen festgestellt, diese dann aber bei der Addition der Rechnungsposten übersehen Die Klägerin habe zuletzt Anspruch auf Erstattung von Rechtsanwaltskosten in Höhe von 4.251,75 €.
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Der Mietvertrag sei entgegen der Auffassung des Landgerichts wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB anfechtbar gewesen.
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12. Die Beklagte möchte mit ihrer Berufung eine vollständig klageabweisende Entscheidung erreichen.
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Sie rügt, dass die Kündigung nach § 543 Abs. 1 BGB nicht berechtigt gewesen sei. Die Klägerin als Betreiberin mehrerer Kindertagesstätten habe Projekterfahrung und Erfahrung mit Nachbareinwendungen aufgewiesen. Sie habe nach § 2 des Mietvertrags das volle Betriebs- und Genehmigungsrisiko übernommen und auch den Vermieter von jeglichem Risiko der Nachbareinwendungen freigestellt. In diesem Rahmen habe sie eine umfassende Informationspflicht getroffen; sie hätte Einsicht in das Grundbuch nehmen und Kontakt mit den Nachbarn aufnehmen müssen. Die Klägerin hätte die Räume als Büro- oder Schulungsräume nutzen können. Die Dienstbarkeit stehe einer Nutzung als Kindertagesstätte nicht entgegen. Die vom Landgericht vorgenommene Risikoabwägung sei fehlerhaft.
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Eine Pflichtverletzung der Beklagten liege nicht vor. Eine Aufklärungspflicht habe nicht bestanden. Die Beklagte sei auch ihrer Darlegungslast nachgekommen, dass sie eine etwaige Pflichtverletzung nicht zu vertreten habe.
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Der Klägerin sei auch kein Schaden entstanden, da keine Vertragsabschlüsse zwischen ihr und den Fachplanern stattgefunden hätten. Die Verträge seien mit der … GmbH geschlossen worden.
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Die Klägerin treffe wegen der Informationspflicht ein Mitverschulden. Dieses führe zum Wegfall der Ersatzpflicht. Die Beklagte habe durch ihren Makler auf die problematische Nachbarbeziehung sowie mit der Verwirklichung der Kindertagesstätte verbundenen Risiken (Nachbareinwendungen und Klagen in jeglicher Form) hingewiesen.
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Für die Nutzungsänderung habe kein gesichertes Baurecht bestanden. Die Genehmigung des Bauantrags sei vollständig offen gewesen. Die Pläne der Architekten seien bei Einreichung nicht genehmigungsfähig gewesen, da kein schlüssiges Konzept für den Hol- und Bringverkehr vorgelegen habe. Die Kosten für die vor Mietvertragsabschluss beauftragten Dienstleiter wären auch angefallen, wenn der Mietvertrag aus anderen Gründen nicht zustande gekommen wäre. Die Klägerin habe nicht alles unternommen, um so schnell als möglich eine Baugenehmigung zu erhalten, da sie die Nachbarn nicht kontaktiert und beteiligt habe.
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Zum Schadensumfang werde vorgetragen, dass keinerlei Veranlassung bestanden habe, den Architekten einen Vollauftrag zu erteilen. Es werde bestritten, dass die Klägerin die Architekten mit den Leistungsphasen 5 – 9 beauftragt habe und dass die Rechnungen hierfür bezahlt worden seien. Ein Vergütungsanspruch bestehe nicht. Des Weiteren habe die Klägerin zu den ersparten Aufwendungen nicht ausreichend vorgetragen. Die Klägerin habe nicht einmal die Namen der angeblich eingeplanten Mitarbeiter benannt. Der Anspruch sei deshalb nach § 648 BGB auf 5% der Auftragssumme begrenzt. Im Übrigen sei keine zutreffende und richtige Rechnung an die Klägerin gestellt worden. Die Architekten seien nicht in der Lage gewesen, eine zeitliche Planung für den eigenen Personaleinsatz aufzustellen. Die Behauptung der Klägerin, es sei im Architekturbüro Personal für die Leistungsphasen 5 – 9 abgestellt und dann nicht beschäftigt worden, sei unglaubwürdig, da die Entwurfsplanung nicht fertiggestellt worden sei, die Baugenehmigung nicht erteilt worden sei und damit keine Werkplanung erstellt werden konnte.
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13. Die Klägerin beantragt in der Berufung:
Unter Aufhebung des die Klage abweisenden Teils des Urteils wird die Beklagte verurteilt, über den erstinstanzlich zuerkannten Betrag hinaus weitere € 201.002,84 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Zustellung des Schriftsatzes der Klägerin vom 25.11.2020 zu bezahlen.
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Die Beklagte beantragt in der Berufung:
Das angefochtene Urteil des Landgericht München I vom 10.01.2023 wird teilweise abgeändert und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.
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Beide Parteien beantragen jeweils die Zurückweisung der Berufung der Gegenseite.
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14. Der Senat hat in der Ladungsverfügung vom 24.07.2023 (Bl. 54/59) Hinweise erteilt und am 12.10.2023 mündlich verhandelt (Bl. 86/88).
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Der Senat hat mit Hinweis- und Beweisbeschluss vom 30.11.2023 die Erholung einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen … angeordnet (Bl. 94/97). Dieser hat das Ergänzungsgutachten am 04.06.2024 erstellt (Bl. 120/129). In der Ladungsverfügung vom 02.10.2024 erteilte der Senat weitere Hinweise (Bl. 153/156). Der Sachverständige wurde in der mündlichen Verhandlung vom 12.12.2024 zur Erläuterung des Ergänzungsgutachtens angehört (Bl.161 ff.).
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbingens in der Berufungsinstanz wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Verhandlungsprotokolle Bezug genommen.
II.
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Die zulässige Berufung der Klägerin ist weitestgehend begründet und führt zu einer Abänderung des angefochtenen Urteils. Die zulässige Berufung der Beklagten ist hingegen in der Sache nicht begründet. Der Klägerin steht ein weitergehender Anspruch auf Erstattung des geltend gemachten Kündigungsschadens zu (§§ 280 Abs. 1, 281 Abs. 1, 284 BGB).
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1. Die Aktivlegitimation der Klägerin als Vorgründungsgesellschaft ist gegeben.
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Der Mietvertrag vom 29.05.2019 führt zwar als Mieterin die … GmbH auf. Zu diesem Zeitpunkt war die GmbH jedoch weder durch die Beurkundung eines Gesellschaftsvertrags errichtet noch durch Eintragung im Handelsregister gegründet. Dem Entwurf einer notariellen Urkunde (Anlage K 18) ist zwar zu entnehmen, dass die Eheleute … beabsichtigten, die … GmbH zu errichten. Gegenstand des Unternehmens sollte u.a. die Anmietung und der Umbau des bebauten Grundstücks … in München zum Betrieb einer Kindertagesstätte sein. Zu einem notariellen Abschluss des Gesellschaftsvertrags und damit zur Errichtung der Projektgesellschaft ist es aber nicht gekommen. Die Gründer haben schon vor der Beurkundung des Gesellschaftsvertrags durch den Abschluss des Mietvertrags und der Werkverträge mit den Fachplanern Vorbereitungen für die künftige Geschäftstätigkeit der GmbH aufgenommen. Derartige Vereinbarungen sind formlos möglich. Durch sie entsteht die Vorgründungsgesellschaft, auf die das Recht der BGB-Gesellschaft anwendbar ist (BeckOK GmbHG/C. Jaeger, 61. Ed. 1.8.2024, GmbHG § 2 Rn. 35 f.). Die GbR ist als teilrechtsfähig anzusehen und kann daher bereits selbst am Rechtsverkehr teilnehmen. Ein Handeln der Gründer im Namen der Vorgründungsgesellschaft ist demnach bereits möglich und führt zu einer Verpflichtung der Vorgründungsgesellschaft selbst. Handeln die Gründer bereits im Vorgründungsstadium für eine „GmbH“ oder eine „GmbH in Gründung“ („GmbH i.Gr.)“, wird weder die künftige GmbH noch die V. GmbH Vertragspartnerin. Vielmehr wird hierdurch nach den Grundsätzen des unternehmensbezogenen Geschäftes die Vorgründungsgesellschaft als GbR oder OHG als wahrer Rechtsträger des Unternehmens verpflichtet. Hier geht es um den häufig auftretenden Fall, dass der Rechtsträger des Unternehmens, für das gehandelt wird, falsch bezeichnet wird. Tatsächlich wird hierdurch die Vorgründungsgesellschaft vertreten (Merkt in Münchener Kommentar GmbHG, 4. Auflage 2022, § 11 GmbHG Rn. 115).
51
Damit ist die Klägerin als Mieterin des Mietvertrags vom 29.05.2019 anzusehen; sie kann die vertragsbezogenen Rechte geltend machen.
52
2. Die Klägerin hat das Mietverhältnis mit Schreiben vom 09.01.2020 (Anlage K 12) wirksam außerordentlich gekündigt (§ 543 Abs. 1 BGB). Die Kündigung erfolgte ausdrücklich im Namen der Vorgründungsgesellschaft. Diese war auch in der angefügten Vollmacht benannt.
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a) Nach § 543 Abs. 1 BGB kann jede Vertragspartei das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
54
Ob ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung nach § 543 Abs. 1 BGB vorliegt, ist auf Grund einer umfassenden Interessenabwägung zu entscheiden. Hierfür sind die Interessen des Kündigenden an der Vertragsbeendigung und die Interessen des Kündigungsgegners an der Fortdauer des Mietverhältnisses zu ermitteln und zu bewerten. Bei der Abwägung ist zu beachten, dass der Pflichtverletzung des Kündigungsgegners ein ähnliches Gewicht zukommen muss wie in den benannten Regelbeispielen, die ihrerseits Anwendungsfälle der Generalklausel des § 543 Abs. 1 BGB sind. Es ist danach davon auszugehen, dass nur eine erhebliche Pflichtverletzung des Kündigungsgegners den Kündigungsgrund des § 543 Abs. 1 BGB begründen kann. Im Übrigen liegt der Kündigungsgrund nach der gesetzlichen Regelung darin, dass die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zur sonstigen – ordentlichen – Beendigung nicht zugemutet werden kann. Daraus folgt, dass die Kündigungsvoraussetzungen umso eher vorliegen, je länger der Zeitraum bis zur ordentlichen Beendigung des Mietverhältnisses, sei es durch Kündigung oder befristetes Vertragsende, ist (Alberts in: Guhling/Günther, Gewerberaummiete, 3. Auflage 2024, § 543 BGB Rn. 7 ff.). Der Kündigungstatbestand ist verschuldensunabhängig, jedoch ist das Verschulden – ebenso wie bei § 569 Abs. 2 BGB – als besonders wichtiges Tatbestandsmerkmal genannt (Streyl in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 16. Auflage 2024, § 543 BGB Rn. 16).
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Es ist demnach zunächst eine erhebliche objektive Pflichtverletzung des Kündigungsgegners festzustellen. Im nächsten Schritt ist aufzuklären, innerhalb welcher Zeitspanne der Mietvertrag ordentlich beendet werden könnte bzw. nach der vertraglichen Regelung endet. Sodann sind die Interessen der Vertragsparteien an der Beendigung bzw. Fortdauer des Mietvertrages zu ermitteln und zu gewichten, wobei auch der bisherige Verlauf des Mietverhältnisses, zurückliegende Pflichtverletzungen und das Verschulden der Vertragsparteien zu beachten sind. Im Ergebnis dieser Bewertung ist zu entscheiden, ob dem Kündigenden die ordentliche Beendigung des Mietverhältnisses nicht (mehr) zuzumuten ist (Alberts in: Guhling/Günther, Gewerberaummiete, 3. Auflage 2024, § 543 BGB Rn. 13). In der Gewerbemiete spielen mehr Erwerbschancen, eingesetztes Vermögen, eben geschäftliche Interessen die entscheidende Rolle (BeckOK MietR/K. Schach, 33. Ed. 1.11.2021, BGB § 543 Rn. 5).
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b) Unter Berücksichtigung dieser Umstände ergibt sich folgende Bewertung:
57
aa) Der Beklagten ist eine erhebliche objektive Pflichtverletzung vorzuwerfen.
58
Die Pflichtverletzung der Beklagten liegt in der unterlassenen Aufklärung über das Bestehen der Grunddienstbarkeit.
59
Nach der Rechtsprechung des BGH obliegt dem Vermieter grundsätzlich eine Aufklärungspflicht gegenüber dem Mieter hinsichtlich derjenigen Umstände und Rechtsverhältnisse mit Bezug auf die Mietsache, die – für den Vermieter erkennbar – von besonderer Bedeutung für den Entschluss des Mieters zur Eingehung des Vertrags sind und deren Mitteilung nach Treu und Glauben erwartet werden kann. Das Bestehen der Aufklärungspflicht richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Person des Mieters und dessen für den Vermieter erkennbarer Geschäftserfahrenheit oder Unerfahrenheit. Allerdings ist der Vermieter nicht gehalten, dem Mieter das Vertragsrisiko abzunehmen und dessen Interessen wahrzunehmen. Der Mieter muss selbst prüfen und entscheiden, ob der beabsichtigte Vertrag für ihn von Vorteil ist oder nicht. Es ist seine Sache, sich umfassend zu informieren und zu klärungsbedürftigen Punkten in den Vertragsverhandlungen Fragen zu stellen (BGH NJW 2006, 2618 Rn. 15; BGH NJW-RR 2007, 298 Rn. 9).
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Nach diesen Grundsätzen oblag der Beklagten eine Aufklärungspflicht. Die Grunddienstbarkeit war für die Abwägung des Betriebsrisikos und die Investitionsentscheidung der Klägerin von erheblicher Bedeutung. Der aufklärungspflichtige Umstand lag in der Sphäre der Beklagten als Grundstückseigentümerin. Selbst wenn man nach § 12 Abs. 1 GBO ein berechtigtes Interesse des Mieters an einer Grundbucheinsicht bejahen würde, bestand für die Klägerin ohne weitere Anhaltspunkte keine Veranlassung, den Umfang des Eigentumsrechts durch nähere Erkundigungen aufzuklären. Das Bestehen und der Inhalt der Grunddienstbarkeit sind ungewöhnliche Umstände, mit denen auch ein projekterfahrener Mieter nicht rechnen musste. Die Darstellung der schwierigen nachbarschaftlichen Beziehung bei den Vertragsverhandlungen löste keine Nachforschungspflicht in Bezug auf dingliche Grundstückslasten aus.
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bb) Der Senat geht auch von einem schuldhaften Verhalten der Beklagten aus. Es ist im Hinblick auf das Geschäftsfeld der Beklagten (laut Handelsregisterauszug u.a. die Haus- und Mietverwaltung) nicht glaubhaft, dass dem Geschäftsführer der Inhalt der Grundbucheintragungen über das Mietobjekt nicht bekannt gewesen sein soll. Der Grundbuchinhalt wurde dem Geschäftsführer der Beklagten bei den Erwerbsvorgängen in den Jahren 1993 und 2008 (Seite 7 des Grundbuchauszugs Anlage K 6) vor Augen geführt. Den Auflassungen vom 11.08.1993 und 08.07.2008 müssen notarielle Beurkundungen zugrunde gelegen haben (§ 311b Abs. 1 BGB). Bei derartigen Beurkundungen wird im Regelfall der Grundbuchinhalt aufgenommen (§ 21 Abs. 1 BeurkG). Jedenfalls liegt insoweit ein fahrlässiges Verhalten vor. Daher spielt es keine Rolle, ob die Nachbarn (Erbengemeinschaft …) in der Vergangenheit auf das Bestehen der Dienstbarkeit hingewiesen haben. Die Einvernahme des hierfür angebotenen Zeugen … war nicht veranlasst. Die Voraussetzungen für eine Parteivernehmung des Geschäftsführers der Beklagten zum Beweis für dessen Unkenntnis waren nicht gegeben. Ein Einverständnis der Klagepartei mit der Vernehmung nach § 447 ZPO liegt nicht vor. Eine Vernehmung von Amts wegen nach § 448 ZPO ist nur dann zulässig und geboten, wenn die Beweisaufnahme nach Ausschöpfung aller Beweismittel nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der umstrittenen Behauptung erbracht hat und das Gericht durch die Parteivernehmung die Ausräumung seiner restlichen Zweifel erwartet (BGH NJW 1994, 320; Thomas/ Putzo/ Seiler, ZPO, 45. Auflage 2024, § 448 ZPO Rn. 2). Diese Voraussetzungen liegen aufgrund der vorgenannten Umstände nicht vor.
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cc) Das Mietverhältnis war auf die Dauer von 17 Jahren geschlossen, wobei der Mieterin ein Optionsrecht zustand, die Verlängerung um zweimal fünf Jahre zu verlangen (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 des Mietvertrags vom 29.05.2019, Anlage K 1). Das Mietverhältnis war demnach auf eine Dauer von bis zu 27 Jahren angelegt. Ein Sonderkündigungsrecht nach § 2 Abs. 6 i.V.m. § 14 Abs. 2 des Mietvertrags bestand nur für den Fall, dass eine behördliche Untersagung des Geschäftsbetriebs erfolgt oder von der Mieterin behördliche Anordnungen, Genehmigungen und Auflagen nicht erfüllt oder aufrechterhalten werden.
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dd) Auf dem Mietgrundstück … in … lastet folgende Grunddienstbarkeit (Anlagen K 6 und K 7):
„Auf dem Grundstück dürfen weder eine öffentliche Tankstelle, noch eine Gastwirtschaft noch ein sonstiger lärmerregender oder belästigender Betrieb errichtet werden.“
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Mietzweck war die Nutzung als Kindergarten, Kinderkrippe, Kinderhort, Schule, Büroräume, Schulungsräume und als Frischküche (§ 2 Ziffer 1 des Mietvertrags vom 29.05.2019, Anlage K 1). Streitig ist unter den Parteien, ob die Kindertagesstätte als „sonstiger lärmerregender oder belästigender Betrieb“ in diesem Sinne zu verstehen ist und damit die beabsichtigte Nutzung von der Grunddienstbarkeit erfasst wird.
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Mit der bestehenden Grunddienstbarkeit bestand jedenfalls ein erhöhtes Nutzungsrisiko, welches über das übliche und im Mietvertrag vorgesehenen Nutzungs- und Betriebsrisiko der Klägerin hinausgeht. Denn während sich die Betreiberin einer Kindertagesstätte bei Nachbareinwendungen nach den §§ 1004, 906 BGB auf die Privilegierung des § 22 Abs. 1a BImSchG berufen kann, verleiht die Grunddienstbarkeit dem Nachbarn eine dinglich gesicherte Rechtsposition, die einen direkten Unterlassungsanspruch vermittelt (§§ 1027, 1004 BGB). Das Mietverhältnis war auf eine lange Dauer (mindestens 17 Jahre) angelegt und mit erheblichem Investitionsaufwand verbunden. Die Klägerin beabsichtigte, an dem Bestandsobjekt umfangreiche bauliche Maßnahmen vorzunehmen und die behördliche Genehmigung einer Nutzungsänderung zu erwirken. Dabei bilden die der Klageforderung zugrunde liegenden Beträge, die sich auf über 300.000,- € belaufen, nur einen Teil der Investitionskosten ab. Zum Zeitpunkt der Kündigung bestand für die Klägerin das Risiko, dass sie nach Erteilung der Genehmigung Investitionen im sechs bis siebenstelligen Eurobereich für den Umbau und den Betrieb der Kindertagesstätte aufwendet, dann aber den Betrieb der Kindertagesstätte nicht aufnehmen kann oder einstellen muss. Dies hätte wiederum weitreichende finanzielle Konsequenzen, was die Rückzahlung von Fördergeldern und Investitionskostenzuschüssen, die Ersatzansprüche von Eltern der betreuten Kinder und die langfristige Mietzahlungspflicht betrifft. Im Hinblick auf den letztgenannten Umstand kann nicht darauf verwiesen werden, dass der Klägerin Gewährleistungsansprüche und Kündigungsrechte zugestanden hätten. Denn die Beklagte vertritt die Rechtsansicht, dass die Klägerin sämtliche mit der Nutzung und der Betriebsführung verbundenen Risiken übernommen hätte.
66
Es kommt bei der Abwägung nicht darauf an, ob die Grunddienstbarkeit die Nutzung erfasst. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Bestehen der Wirksamkeitsvoraussetzungen einer Kündigung ist deren Zugang. Ein späterer Wegfall einer Kündigungsvoraussetzung ändert an der Wirksamkeit der Kündigung nichts, der Vertrag bleibt beendet und kann nur durch Vereinbarung fortgesetzt werden (Streyl in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 16. Auflage 2024, § 542 BGB Rn. 44). Zu diesem Zeitpunkt war die Rechtsauffassung der Klägerin mit guten Gründen vertretbar und konnte in deren Risikoabwägung einbezogen werden. Sie deckte sich mit der Rechtsauffassung der Lokalbaukommission. Nach den Angaben des Zeugen … kam die Dienstbarkeit bei einem Gespräch mit dem Sachbearbeiter der Lokalbaukommission am 27.11.2019 zur Sprache. Dieser vertrat ebenfalls die Meinung, dass die Grunddienstbarkeit dem Kindertagesstättenbetrieb entgegensteht. Deshalb ist auch nicht relevant, dass bisher in dem Parallelverfahren in zwei Gerichtsinstanzen die Sicht der Beklagten über die inhaltliche Ausgestaltung der Grunddienstbarkeit bestätigt wurde. Das Parallelverfahren wurde nach einer Verfahrensdauer von dreieinhalb Jahren durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 09.09.2024 rechtskräftig abgeschlossen. Die Prozessgeschichte und die Dauer des Verfahrens dokumentieren vielmehr die durch die Grunddienstbarkeit herbeigeführte Rechtsunsicherheit.
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Nicht durchgreifend ist in diesem Zusammenhang der Einwand der Beklagten, dass auch mit einem längeren Rechtsstreit im Zusammenhang mit der Erlangung der öffentlich-rechtlichen Baugenehmigung zu rechnen war. Dieser Umstand betrifft das übliche Betriebs- und Genehmigungsrisiko bei der Gründung einer Kindertagesstätte, welches die Klägerin nach § 2 Abs. 3 des Mietvertrags übernommen hat und welches für die Klägerin kalkulierbar war. Davon zu unterschieden ist das erhöhte Risiko, das mit der dinglichen Rechtsposition eines Nachbarn in Verbindung steht. Die Beklagte geht von einem unzutreffenden Schutzzweck- und Risikozusammenhang aus. Dies gilt auch für den Vortrag, die Klägerin hätte die vor Abschluss des Mietvertrags angefallenen Vorbereitungskosten auch dann tragen müssen, wenn der Mietvertrag aus anderen Gründen nicht zustande gekommen wären. Es geht letztlich um die Frage, in welchen Risikobereich die Kosten gefallen wären. Bei einer fehlenden Genehmigungsfähigkeit der Nutzungsänderung hätte die Klägerin das Risiko tragen müssen (§ 2 des Mietvertrags). Vorliegend ist das Scheitern des Mietvertrags auf eine Pflichtverletzung der Beklagten zurückzuführen. Dieser Umstand fällt in deren Risiko- und Verantwortungsbereich.
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ee) Eine Kündigung nach § 543 Abs. 1 BGB scheidet aus, wenn der Kündigende den Kündigungsgrund selbst zu vertreten hat (Alberts in: Guhling/Günther, Gewerberaummiete, 3. Auflage 2024, § 543 BGB Rn. 9). Das Verhalten bzw. Mitverschulden des Kündigenden sind ebenfalls zu berücksichtigen (Streyl in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 16. Auflage 2024, § 543 BGB Rn. 19).
69
Ein Mitverschulden der Klägerin nach § 254 BGB ist nicht ersichtlich. Nach der Aussage des Architekten … erhielt die Klägerin erstmalig bei einem Gespräch mit einem Vertreter der Lokalbaukommission vom 27.11.2019 Hinweise auf eine bestehende Grunddienstbarkeit. Kenntnis von dem Inhalt der Grunddienstbarkeit erlangte sie dann durch die anschließende Grundbucheinsicht. Zu diesem Zeitpunkt waren die Aufträge an die Architekten und Dienstleister bereits erteilt und auch die Kosten für das Genehmigungsverfahren der Stadt München bereits angefallen. Den Gläubiger trifft die Obliegenheit zur Schadensminderung gemäß § 254 Abs. 2 BGB erst dann, wenn für ihn erkennbar ist, dass die Leistung nicht ordnungsgemäß erbracht werden wird (Staudinger/Schwarze (2019) BGB § 284 Rn. 62). Die Klägerin hat umgehend nach Bekanntwerden der Grunddienstbarkeit am 27.11.2019 reagiert und damit den Anfall weiterer Kosten verhindert, indem sie am 09.12.2019 die Kündigung des Architektenvertrags und die Rücknahme des Bauantrags veranlasste (vgl. Anlage K 23).
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Die Klägerin kann auch nicht auf die Nutzung als Büro- und Schulungsräume verwiesen werden. Diese stellte nach der Konzeption des Mietverhältnisses und der wirtschaftlichen Planung der Klägerin nur eine untergeordnete Nutzungsmöglichkeit dar. Der Schwerpunkt sollte auf dem Betrieb einer Kindertagesstätte liegen. Hieran sollten auch die Förderung der Stadt München und die bei der Lokalbaukommission beantragte Nutzungsänderung anknüpfen. Der Schwerpunkt der Gewinnerzielung lag bei der Vorhaltung der Krippen- und Kindergartenplätze. Die Gebrauchsgewährung muss bei Überlassung und während der gesamten Mietzeit vom Vermieter für alle vom Mietzweck umfassten Nutzungen gewährleistet werden.
71
Es bestand weiter keine Erkundigungspflicht im Hinblick auf die Grundbucheintragung. Das Bestehen und der Inhalt der Grunddienstbarkeit sind ungewöhnliche Umstände, mit denen auch ein projekterfahrener Mieter nicht rechnen musste. Die Darstellung der schwierigen nachbarschaftlichen Beziehung bei den Vertragsverhandlungen löste keine Nachforschungspflicht in Bezug auf dingliche Grundstückslasten aus. Gleiches gilt für ein dingliches Vorkaufsrecht, das in einem Mietvertragsentwurf vorgesehen war (Anlage B 1), aber letztlich nicht Eingang in den Mietvertrag vom 29.05.2019 gefunden hat.
72
Es bestand zuletzt keine Veranlassung, vor der Einreichung des Antrags auf Nutzungsänderung Kontakt mit den Nachbarn wegen bautechnischer und planerischer Details aufzunehmen. Die Klägerin konnte davon ausgehen, dass die Angelegenheiten im Zuge der Nachbarbeteiligung am Genehmigungsverfahren (Art. 66 BayBO) geklärt werden können. Ein Mitverschulden kann auch nicht darin gesehen werden, dass der Bauantrag den Nachbarn vor der Einreichung nicht zur Unterschrift vorgelegt wurde. Art. 66 Abs. 1 S. 3 BayBO in der bis 31.01.2021 geltenden Fassung sah für derartige Fälle die Möglichkeit vor, dass die Gemeinde auf Antrag des Bauherrn die Nachbareigentümer von dem Bauantrag benachrichtigt und ihnen eine Frist zur Äußerung setzt. Von dieser Möglichkeit hat die Klägerin Gebrauch gemacht (Ziffer 5. des Bauantrags vom 17.09.2019, ergänzt durch handschriftliche Anmerkungen vom 17.10.2019, Anlage K 4). Im Übrigen handelt es sich bei der Beteiligung der Nachbareigentümer nach Art. 66 Abs. 1 BayBO nicht um eine Obliegenheit aus dem Mietverhältnis gegenüber dem Vermieter. Die Vorschrift über die Nachbarbeteiligung im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren verfolgt zum einen den Zweck, dass der Nachbar durch die obligatorische Beteiligung im Genehmigungsverfahren rechtzeitig Kenntnis von dem Vorhaben erhalten soll, damit er sich ggf. wirksam dagegen schützen kann. Zum anderen dient die Vorschrift aber auch dem Interesse der Behörde, sich möglichst umfassend über den entscheidungserheblichen Sachverhalt zu unterrichten, sowie den Interessen des Bauherrn, der auf diese Weise frühzeitig Klarheit über die Position des Nachbarn bezüglich des Vorhabens bekommt (BeckOK BauordnungsR Bayern/Edenharter, 27. Ed. 1.10.2023, BayBO Art. 66 Rn. 1).
73
Die Umbaualternativen hat die Klägerin in Absprache mit den Fachplanern, der Unteren Naturschutzbehörde, der für den Brandschutz zuständigen Behörde und der Lokalbaukommission geplant (Anlage K 23). Die Einsicht in das Grundbuch war hierfür nicht erforderlich. Die Vermessung des Gebäudes und des Grundstücks hat die Klägerin in eigener Regie beauftragt.
74
ff) Nach Abwägung aller relevanter Umstände war wegen der durch die Dienstbarkeit geschaffenen Unsicherheit über den Fortbestand der Nutzungsmöglichkeit und dem für die Klägerin bestehenden Investitionsrisiko eine Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum vertraglich vorgesehenen Beendigungstermin nicht zumutbar. Das Interesse der Klägerin an einer vorzeitigen Beendigung des Mietverhältnisses überwog angesichts des wirtschaftlichen Risikos das Interesse der Beklagten an dessen Bestand bei weitem. Der Beklagten ist eine Weitervermietung des Objekts im Jahr 2022 gelungen.
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c) Die Klägerin hat vor Ausspruch der Kündigung mit Schreiben vom 11.12.2019 (Anlage K 10) eine angemessene Frist zur Abhilfe gesetzt.
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3. Hat der eine Vertragspartner des Mietvertrages diesen wegen schuldhaft vertragswidrigen Verhaltens des anderen Vertragspartners im Wege der außerordentlichen und fristlosen Kündigung vorzeitig beendet, schuldet der Kündigungsgegner die Zahlung von Schadensersatz (sogenannter Kündigungs- oder Kündigungsfolgeschaden). Grundlage des Anspruchs sind §§ 280 Abs. 1, 281 Abs. 1 BGB, denn die schuldhafte Vertragsverletzung des Vertragspartners liefert zum einen den Grund für die außerordentliche Kündigung und berechtigt den Kündigenden zum anderen dazu, den Ersatz des ihm entstehenden Schadens zu verlangen (Alberts in Guhling/Günter, Gewerberaummiete, 3. Auflage 2024, § 543 BGB Rn. 86). Soweit es um Schadensersatzansprüche geht, die in Zusammenhang mit der Mangelhaftigkeit des Mietobjekts und eine dadurch ausgelöste Kündigung stehen, wird § 280 Abs. 1 BGB zwar verdrängt durch § 536a Abs. 1 BGB. Der Anspruch nach § 536a Abs. 1 BGB ist der Sache nach ein Anspruch auf Ersatz von Mangelfolgeschäden; die Kündigungsfolgeschäden sind ein Unterfall davon. Aufwendungen sind in beiden Fällen gem. § 284 BGB statt eines Erfüllungsschadens ersetzbar (Streyl in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 16. Auflage 2024, § 542 BGB Rn. 104). Danach kann die Klägerin unabhängig von der Frage, ob die Grunddienstbarkeit einen Rechtsmangel der Mietsache darstellt, gemäß § 284 BGB den Ersatz ihrer (frustrierten) Aufwendungen verlangen, die sie im Vertrauen auf den gekündigten Vertrag gemacht hat.
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a) Die Pflichtverletzung der Beklagten liegt in der unterlassenen Aufklärung über das Bestehen der Grunddienstbarkeit. Auf die o.g. Ausführungen wird Bezug genommen (S. 12 f.).
78
b) Das Verschulden der Beklagten wird vermutet (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB). Den Entlastungsbeweis konnte die Beklagte nicht führen. Der Vortrag, die Eintragung im Grundbuch sei nicht bekannt oder nicht erinnerlich gewesen, reicht für eine Entlastung nicht aus. Es ist im Hinblick auf das Geschäftsfeld der Beklagten (laut Handelsregisterauszug u.a. die Haus- und Mietverwaltung) nicht glaubhaft, dass dem Geschäftsführer der Inhalt der Grundbucheintragungen über das Mietobjekt nicht bekannt gewesen sein soll. Der Grundbuchinhalt wurde dem Geschäftsführer der Beklagten bei den Erwerbsvorgängen in den Jahren 1993 und 2008 (Seite 7 des Grundbuchsauszugs Anlage K 6) vor Augen geführt.
79
c) Die Beklagte kann sich nicht auf den Haftungsausschluss aus § 2 Abs. 3 des Mietvertrags berufen (“der Vermieter haftet daher gegenüber dem Mieter nicht für dessen angestrebte Nutzung oder Eignung des Mietobjekts.“). Das Landgericht hat zutreffend ausgeführt, das sich die Regelung nur auf öffentlich-rechtliche Anordnungen und Genehmigungen bezieht. Dies ergibt sich aus dem Regelungskontext, der auf die Vornahme von umfangreichen baulichen Maßnahmen und das Erfordernis behördlicher Genehmigungen abstellt, und einer Zusammenschau mit dem Sonderkündigungsrecht aus § 2 Abs. 6 des Mietvertrags, das wiederum auf eine Nutzungsuntersagung (Art. 76 BayBO) und behördliche Anordnungen, Genehmigungen und Auflagen Bezug nimmt. Damit wurde nicht das volle Betriebsrisiko auf die Klägerin übertragen.
80
Die Beklagte trägt erstmalig in der Berufung vor, dass der Gesellschafter der Klägerin bei den Verhandlungen mit dem Doppelmakler erklärt habe, er stelle den Vermieter von jeglichem Risiko von Nachbareinwendungen frei. Dies habe Herr … in der mündlichen Verhandlung vom 27.09.2022 bestätigt. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Verhandlungsprotokoll eine derartige Aussage nicht enthält. Die protokollierten Angaben des Gesellschafters beziehen sich auf das ihm bekannte allgemeine Risiko, dass Nachbarn Einwendungen gegen den Betrieb einer Kindertagesstätte wegen des Lärms und der Park- und Bringsituation erheben und diese auch im Klageweg durchsetzen wollen. Des Weiteren liegt ein neuer streitiger Vortrag vor, der in der Berufung nicht mehr berücksichtigt werden kann (§ 531 Abs. 2 S.1 Nr. 3 ZPO). Zuletzt fehlt es an einer verbindlichen Vertragszusage. Für die aufgenommene Vertragsurkunde besteht die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit. Diese Vermutung ist zwar widerleglich; an den Beweis der Unrichtigkeit und Unvollständigkeit sind aber strenge Anforderungen zu stellen. Sie ist entkräftet, wenn die Parteien eine Nebenabrede getroffen haben. Nicht ausreichend ist dagegen der Beweis, dass während der Vorverhandlungen über einen bestimmten nicht beurkundeten Punkt Einigkeit bestand. Es muss nachgewiesen werden, dass die Parteien die Abrede auch noch bei Errichtung der Urkunde als Vertragsbestandteil wollten (Grüneberg/Ellenberger, BGB, 83. Auflage 2024, § 125 BGB Rn. 21).
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Eine Überbürdung des vollen Betriebsrisikos ergibt sich auch nicht aus dem Rechtsgedanken, dass die Klägerin bereits aus nachbarschaftlichen Gründen verpflichtet sei, die Kindertagesstätte so zu betreiben, dass sie nicht lärmend und belästigend ist. Denn Kindertageseinrichtungen werden im Bundesrecht zur Förderung einer kinderfreundlichen Gesellschaft bei der Beurteilung von Lärmeinwirkungen auf die Nachbarschaft privilegiert. § 22 Abs. 1a BImSchG sieht eine doppelte Privilegierung von Kinderlärm vor. Erstens dürfen bei der Beurteilung der Geräuscheinwirkungen gemäß § 22 Abs. 1a S. 2 BImSchG Immissionsgrenz- und -richtwerte nicht herangezogen werden. Damit ergibt sich stets die Notwendigkeit einer Einzelfallabwägung. Zweitens gibt das Gesetz deren Ergebnis vor: Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen, Kinderspielplätzen und ähnlichen Einrichtungen hervorgerufen werden, sind „im Regelfall“ keine schädliche Umwelteinwirkung gemäß § 3 Abs. 1 BImSchG und damit auch keine wesentliche Beeinträchtigung der Nachbarschaft. Angesichts der Gleichsetzung der Begriffe „erhebliche Belästigung“ im Sinne des § 3 Abs. 1 BImSchG und „wesentliche Beeinträchtigung“ im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB strahlt § 22 Abs. 1a BImSchG auf das zivile Nachbarrecht aus. Kinderlärm stellt daher im Regelfall keine wesentliche Beeinträchtigung gemäß § 906 Abs. 1 BGB mehr dar. Bei der Prüfung, ob ein Sonderfall vorliegt, kommt es allein auf die Würdigung des Einzelfalls an (Brückner in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2023, § 906 BGB Rn. 127 f.).
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d) Gemäß § 284 BGB kann der Gläubiger Ersatz der Aufwendungen verlangen, die er im Vertrauen auf den Erhalt der Leistung gemacht hat und billigerweise machen durfte, es sei denn, deren Zweck wäre auch ohne die Pflichtverletzung des Schuldners nicht erreicht worden. Aufwendungen können auch in der Eingehung von Verbindlichkeiten bestehen (Grüneberg/Grüneberg, BGB, 83. Auflage 2024, § 284 BGB Rdn. 5; Ernst in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2022, § 284 BGB Rn. 18). Der Anspruch ist auf die Zahlung von Geld gerichtet (Staudinger/Schwarze (2019) BGB § 284 Rn. 58). Auf die Bezahlung der Rechnungen kommt es daher nicht an. Dies ergibt sich aus dem allgemeinen Rechtsgedanken, dass Freistellungsansprüche gemäß § 250 S. 2 BGB in einen Geldanspruch übergehen können (Grüneberg/Grüneberg, BGB, 83. Auflage 2024, § 249 BGB Rn. 4). Dieser Übergang ist erfolgt; eine Fristsetzung mit Ablehnungsandrohung war entbehrlich, da die Beklagte die Leistung von Schadensersatz ernsthaft und endgültig verweigert hat (Grüneberg/Grüneberg, BGB, 83. Auflage 2024, § 250 BGB Rn. 2; BGH NJW 2012, 1573 Rz. 25).
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aa) Selbst wenn die Aufträge von der (nicht zur Gründung gelangten) … GmbH stammten und die Rechnungen an diese gerichtet waren, liegt ein Schaden bei der Klägerin vor. Mit der Vereinbarung der Gründungsmitglieder über die Errichtung der Gesellschaft liegt, soweit wie hier noch kein Gesellschaftsvertrag beurkundet ist, eine Vorgründungsgesellschaft vor, auf die das Recht der BGB-Gesellschaft anwendbar ist (BeckOK GmbHG/C. Jaeger, 61. Ed. 1.8.2024, GmbHG § 2 Rn. 35 f.). Die GbR ist als teilrechtsfähig anzusehen und kann daher bereits selbst am Rechtsverkehr teilnehmen. Ein Handeln der Gründer im Namen der Vorgründungsgesellschaft ist demnach bereits möglich und führt zu einer Verpflichtung der Vorgründungsgesellschaft selbst. Handeln die Gründer bereits im Vorgründungsstadium für eine „GmbH“ oder eine „GmbH in Gründung“ („GmbH i.Gr.)“, wird weder die künftige GmbH noch die V. GmbH Vertragspartnerin. Vielmehr wird hierdurch nach den Grundsätzen des unternehmensbezogenen Geschäftes die Vorgründungsgesellschaft als GbR oder OHG als wahrer Rechtsträger des Unternehmens verpflichtet. Hier geht es um den häufig auftretenden Fall, dass der Rechtsträger des Unternehmens, für das gehandelt wird, falsch bezeichnet wird. Tatsächlich wird hierdurch die Vorgründungsgesellschaft vertreten (Merkt in Münchener Kommentar GmbHG, 4. Auflage 2022, § 11 GmbHG Rn. 115).
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bb) Das Landgericht ist nach Auswertung der Beweisaufnahme (Zeugenaussagen, Sachverständigengutachten, Rechnungsunterlagen) zu dem Ergebnis gelangt, dass folgende Kosten erstattungsfähig sind:
- Honorar Architekturbüro … für die Leistungsphasen 1-4: 92.149,47 €
- Kosten Brandschutzkonzept …: 6.961,50 €
- Kosten Tragwerksprüfung Fa….: 1.813,08 €
- Planungskosten Prüfung Elektroleitungen Fa. …: 1.006,74 €
- Planungskosten für haustechnische Anlagen …: 3.550,58 €
- Kosten für Gebäude- und Grundstücksvermessung Fa. …: 1.166,20 €
- Kosten für Planung Außenanlagen …: 8.278,34 €
- Rechnung … für Nutzungsänderung: 2.007,49 €
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Insoweit seien die Kosten für die beauftragten Leistungen angefallen und für die Erlangung der Baugenehmigung erforderlich und notwendig gewesen. Der Senat teilt die Auffassung. Das Landgericht hat die Beweislastverteilung und die Beweisanforderungen an den Nachweis der Erstattungsfähigkeit der Kosten erkannt und sich mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen widerspruchsfrei auseinandergesetzt. Die Beweiswürdigung ist vollständig und schlüssig und verstößt nicht gegen die Denk- und Erfahrungsgesetze. Die Beklagte greift die Beweiswürdigung auch nicht an. Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, dass die Klägerin den Architektenauftrag für die Leistungsphasen 1 bis 4 bereits am 05.04.2019 und damit vor dem Abschluss des Mietvertrags erteilte. Es geht vorliegend nicht um das Risiko, dass der Mietvertrag nicht zustande kommt oder die Baugenehmigung nicht erteilt wird, sondern um das erhöhte Betriebsrisiko, das in der bestehenden dinglichen Rechtsposition der Nachbarn liegt und durch das Aufklärungsverschulden der Beklagten verursacht wurde.
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Nach den Feststellungen des Landgerichts sind auch die Kosten für das Brandschutzkonzept (6.961,50 €) sowie für die Tragwerksplanung (1.813,08 €) erstattungsfähig. Die Positionen wurden bei der Addition der Einzelbeträge versehentlich nicht berücksichtigt. Auch diese sind zuzusprechen.
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cc) Zum unmittelbaren Kündigungsschaden zählen auch die Rechtsanwaltskosten, die zum Ausspruch der Kündigung aufgewendet werden müssen (Streyl in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 16. Auflage 2024, § 542 BGB Rn. 112). Der Anspruch ergibt sich insoweit aus § 280 Abs. 1 BGB, der neben dem Aufwendungsersatz nach § 284 BGB geltend gemacht werden kann (Staudinger/Schwarze (2019) BGB § 284 Rn. 19). Die aufgewendeten Kosten sind erforderlich und zweckmäßig, da kein einfach gelagerter Fall vorliegt. Die Beauftragung der Klägervertreter wurde in der Klageschrift dargestellt und von der beklagten Seite nicht bestritten. Die Beauftragung und die anwaltliche Tätigkeit werden durch die vorgelegten Anwaltsschreiben belegt (Anlagen K 8, K 10, K 12, K 14 und K 20). Der nunmehr in der Berufung angenommene Gegenstandswert für die anwaltliche Tätigkeit ist zutreffend (Jahresbetrag der Miete für die Kündigung sowie Betrag von 171.361,61 €, der vorgerichtlich als Schadensersatz geltend gemacht wurde). Die Rechtsanwaltskosten in Höhe von 4.251,75 € sind damit ebenfalls zuzusprechen.
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dd) (1)  Der Senat geht davon aus, dass die Klägerin auch die Architektenkosten für die Bauausführung (Leistungsphasen 5-9) verlangen kann. Denn die wirtschaftliche Entscheidung, im Hinblick auf das knappe Zeitfenster der mietfreien Zeit die Umbauzeit durch einen vollständigen Architekturauftrag zu reduzieren, beruhte auf nachvollziehbaren und vernünftigen Überlegungen. Die für die Klägerin wesentlichen Bedingungen für die langfristige Investitionsentscheidung (Förderung des Kindergartenbetriebs durch die Stadt …; baurechtliche Genehmigung der Nutzungsänderung; langfristiger Mietvertrag) waren konkret in Aussicht gestellt oder gesichert. Die Landeshauptstadt … hatte eine Bedarfsbestätigung für die Krippen- und Kindergartenplätze am Standort … erteilt und auch verlängert sowie die Gewährung von Investitionszuschüssen in Aussicht gestellt (Anlagen K 3 und K 22). Nach den Angaben des Zeugen … wurde der Bauantrag nach mehrfacher Abstimmung mit den Behörden und Sonderfachleuten in genehmigungsfähiger Form eingereicht (Anlage K 23). Der Zeuge hat bei seiner Vernehmung auch bestätigt, dass der Sachbearbeiter der Lokalbaukommission bei der Besprechung vom 27.11.2019 ausführte, dass der Umbau an sich genehmigungsfähig und nur noch die Thematik der Tiefgarageneinfahrt zu lösen sei. Der Mietvertrag war auf eine Mindestlaufzeit von 17 Jahren angelegt. Das Vorgehen war wirtschaftlich sinnvoll und entsprach auch der Verkehrsüblichkeit, da in der Praxis die Übertragung sämtlicher Leistungsphasen häufig vorkommt, auch wenn es keine Vermutung für eine umfassende Beauftragung gibt (BGH NJW 1980, 122). Auch der Zeuge … hat bei seiner Vernehmung ausgeführt, dass es absolut üblich sei, bei einem bestehenden Terminsdruck bereits vor der Erteilung der Baugenehmigung mit der Werkplanung zu beginnen. Es geht hier nicht um das Risiko, dass die Baugenehmigung nicht erteilt wird, sondern um das Risiko einer Nutzungsbeeinträchtigung durch ein Gebrauchshindernis. Aus diesem Grund ist auch der zuletzt erhobene Einwand unbehelflich, es habe keine Veranlassung bestanden, die Leistungsphasen 5 bis 9 zu beauftragen, da die Pläne bei Einreichung nicht genehmigungsfähig waren. Die Behauptung steht im Widerspruch zu den oben genannten Beweisergebnissen. In diesem Fall wäre zudem eine Umplanung möglich gewesen. Eine dadurch bewirkte Verzögerung wäre in den Risikobereich der Klägerin gefallen. Gegen die Behauptung spricht auch, dass die Nutzungsänderung bei dem Nachfolgemieter problemlos genehmigt wurde. Zuletzt ist auszuführen, dass die erstmals beantragte Vernehmung des Zeugen … ein neues Beweismittel darstellt, welches in der Berufung präkludiert ist (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO).
89
(2) Der Umfang der Schadensersatzpflicht wird durch die objektiv notwendigen Architektenkosten bestimmt, also durch die Kosten, welche die Klägerin gegenüber dem Architekturbüro auf der Grundlage einer ordnungsgemäßen Abrechnung schuldet.
90
Nach den aktenkundigen Unterlagen (Anlagen K 23 und K 34) und den Angaben des Zeugen … beauftragte die Klägerin das Architekturbüro … am 25.10.2019 mündlich mit der Erbringung der Leistungsphasen 5 bis 9. Nach § 7 Abs. 5 der HOAI in der bis 31.12.2020 geltenden Fassung (i.F. HOAI 2013) wird unwiderleglich vermutet, dass ein Mindestsatzhonorar vereinbart ist. Nach § 6 Abs. 2 S. 4 HOAI 2013 wird weiter unwiderleglich vermutet, dass ein Umbauzuschlag von 20% vereinbart ist. Am 09.12.2019 kündigte die Klägerin den Auftrag. Leistungen aus den Leistungsphasen 5 bis 9 wurden nicht erbracht. Das Architekturbüro hat am 09.07.2020 die Schlussrechnung für die Leistungsphasen 5 bis 9 ausgestellt (Anlagen K 26, K 28 und K 31). Es hat dabei eine Honorarsumme von 201.011,02 € netto ausgewiesen und sich ersparte Personal- und Sachkosten in Höhe von 43.047,56 € netto anrechnen lassen. Es ergibt sich ein Bruttorechnungsbetrag von 187.976,51 €, den die Klägerin als Schadensersatz einfordert.
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Die Beklagte hat die Angemessenheit der Höhe der Vergütung in Abrede gestellt und die Unrichtigkeit der Bemessungsgrundlage gerügt. Die Abrechnung (Anlage K 26) sei nicht nach den Mindestsätzen erfolgt. Hierzu hat das Landgericht – wegen seiner Rechtsansicht, dass eine Erstattungsfähigkeit nicht gegeben ist, folgerichtig – keine Feststellungen getroffen. Diese Feststellungen werden in der Berufungsinstanz nachgeholt. Der Senat hat hierzu eine ergänzende Stellungnahme des Sachverständigen … eingeholt. Dieser hat in seinem Ergänzungsgutachten vom 04.06.2024 (Bl. 120/129) die Angemessenheit der Abrechnung bestätigt. Er hat für die Leistungsphasen 5-9 angemessene Architektenkosten in Höhe von 300.000,57 € dargestellt. Die Klägerin verlangt den Ersatz von Kosten von 187.976,51 €. Damit liegt der verlangte Betrag weit unter dem Betrag, der bei vollem Ausschöpfen der Abrechnungsmöglichkeiten der HOAI 2013 denkbar gewesen wäre. Die Differenz zwischen den Beträgen ist dem Umstand geschuldet, dass der Sachverständige von weit höheren anrechenbaren Kosten im Sinne des § 4 HOAI 2013 ausgeht (2.959.309,31 € statt 1.687.500,- €), die auch die Grundlage des Honorars für die Leistungsphasen 5-9 darstellen (§ 6 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 HOAI 2013). Die höheren anrechenbaren Kosten sind wegen der Berücksichtigung der mitzuverarbeitenden Bausubstanz gerechtfertigt (§ 4 Abs. 3 HOAI 2013). Der Sachverständige hatte die nach objektiven Kriterien zu bestimmende Angemessenheit der Architektenkosten zu prüfen. Er war damit nicht gehalten, die vom Architekturbüro angegebenen anrechenbaren Kosten als bindend zu übernehmen.
92
(3) Die Einwendungen der Beklagten gegen das Ergänzungsgutachten sind nicht durchgreifend:
93
(a) Der Sachverständige hat seiner Berechnung die Zuordnung des Bauvorhabens zur Honorarzone IV zugrunde gelegt. Die Beklagte ist nunmehr der Auffassung, dass die Honorarzone III zutreffend ist. Richtig ist, dass nach der Anlage 10 zu § 35 Abs. 7 HOAI 2013 die Objektliste Gebäude Kindergärten der Honorarzone III zuweist. Allerdings kommt bei den Objektlisten Innenräume und Freianlagen auch die Honorarzone IV in Betracht. Die Regelobjekte der Objektlisten beziehen sich jedoch auf Neubauten und nicht auf Maßnahmen im Bestand (Umbauten, Modernisierungen, Instandhaltungen, Instandsetzungen, Erweiterungsbauten, Wiederaufbauten), so dass die Objektlisten nicht anwendbar sind. Folgerichtig enthält § 6 Abs. 2 Nr. 2 die Regelung, dass sich das Honorar bei Umbauten und Modernisierungen nach der Honorarzone richtet, welcher der Umbau oder die Modernisierung in sinngemäßer Anwendung der Bewertungsmerkmale zuzuordnen ist (BeckOK HOAI/Haack/Heinlein, 13. Ed. 1.11.2022, HOAI § 5 Rn. 16; Fuchs/Berger/Seifert/Seifert, 3. Aufl. 2022, HOAI § 5 Rn. 14 und § 6 Rn. 58). Es liegt hier kein Regelfall vor, da der Umbau und die Modernisierung des vorliegenden Bestandsobjekts mit höheren Anforderungen an die Architektenleistungen verbunden war als ein Neubau. Der Sachverständige hat dies bei seiner Anhörung auch bestätigt und erläutert, aus welchen Gründen vorliegend die Annahme der Honorarzone IV zutreffend ist. Demnach ergebe sich aus der Einzelfallbetrachtung und bei Berücksichtigung der Bewertungsmerkmale aus § 35 Abs. 2, 3 HOAI 2013, dass bei dem vorliegenden Umbau im Gebäudebestand hohe Anforderungen an die Planungsleistungen zu stellen und diese daher der Honorarzone IV zuzuordnen seien. Die Umbaukosten würden nicht doppelt berücksichtigt, da die Honorarzone die planerische Schwierigkeit und der Umbauzuschlag die planerischen Mehraufwendungen betreffe. Der Senat folgt den Ausführungen des Sachverständigen, der die aktenkundigen Anknüpfungstatsachen vollständig ausgewertet hat und zu schlüssigen und nachvollziehbaren Ergebnissen gelangt ist.
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(b) Gemäß § 4 Abs. 3 HOAI 2013 ist der Umfang der mitzuverarbeitenden Bausubstanz im Sinne des § 2 Absatz 7 HOAI 2013 ist bei den anrechenbaren Kosten angemessen zu berücksichtigen. Umfang und Wert der mitzuverarbeitenden Bausubstanz sind zum Zeitpunkt der Kostenberechnung oder, sofern keine Kostenberechnung vorliegt, zum Zeitpunkt der Kostenschätzung objektbezogen zu ermitteln und in Textform zu vereinbaren. Das in S. 2 enthaltene Gebot einer Vereinbarung in Textform zu Umfang und Wert der mitzuverarbeitenden Bausubstanz ist keine Anspruchsvoraussetzung zur Berücksichtigung der mitzuverarbeitenden Bausubstanz bei den anrechenbaren Kosten. Liegt keine oder keine formwirksame Vereinbarung vor, richtet sich die Einbeziehung nach dem Maßstab der Angemessenheit (BeckOK HOAI/Klein, 13. Ed. 1.8.2024, HOAI § 4 Rn. 53 f.). Eine umfangreiche Angemessenheitsprüfung hat der Sachverständige in seinem Gutachten vom 17.12.2021 durchgeführt (Seiten 64/68 des Gutachtens, Bl. 238 ff.).
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(c) Die Mindestsätze nach § 7 Abs. 5 HOAI 2013 kommen hier zur Anwendung. Der EuGH hat mit seinem Vorabentscheidungsurteil vom 18.01.2022 (NJW 2022, 927) auf die Vorlage des BGH gemäß Beschluss vom 14.5.2020 (NJW 2020, 2328) hin entschieden, dass die HOAI von den deutschen Gerichten für vor dem 1.1.2021 abgeschlossene Verträge über Grundleistungen nach wie vor als Preisrecht anzuwenden ist (BeckOK HOAI/Haack/Heinlein, 13. Ed. 1.11.2022, HOAI 2013 § 5 Rn. 11; vgl. auch BGH NJW 2022, 3224, BGH NJW 2022, 3228 und BGH NJW 2022, 3230). Damit kann auf die Mindestsätze nach § 7 Abs. 5 HOAI 2013 zurückgegriffen werden.
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(4) Nicht weiter abgeklärt werden musste die Frage, in welchem Umfang sich das Architekturbüro weitere ersparte Aufwendungen anrechnen lassen muss. Die Darlegungs- und Beweislast für ersparte Aufwendungen trägt die Beklagte als Schädigerin. Die Klägerin trifft hierzu eine sekundäre Darlegungslast. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob man auf allgemeine Grundsätze des Schadensrechts abstellt (vgl. Grüneberg/Grüneberg, BGB, 83. Auflage 2024, Vorb. vor § 249 BGB Rn. 75 und 93) oder auf die Grundsätze der Beweislast bei der ordentlichen Auftragnehmerkündigung nach § 648 BGB zurückgreift (vgl. Grüneberg/Retzlaff, BGB, 83. Auflage 2024, § 648 BGB Rn. 8 und 16).
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Die Klägerin ist ihrer sekundären Darlegungslast durch die Vorlage des Schreibens Anlage K 29 und ihren Vortrag nebst Beweisangebot auf Einvernahme des Zeugen … in den Schriftsätzen vom 20.07.2020 (Bl. 69/83) und vom 07.09.2020 (Bl. 91/106) nachgekommen. Die Betriebsstruktur des Architekturbüros wird durch den Vortrag der Klägerin und die Angaben des Zeugen … ausreichend erläutert. Der Zeuge hat ausgeführt, dass in dem Büro acht Mitarbeiter tätig seien und für die Bearbeitung der Beauftragung ab Leistungsphase 5 drei Mitarbeiter (der Zeuge selbst, ein weiterer Architekt und eine technische Mitarbeiterin) eingeplant gewesen seien. Geplant sei gewesen, im Januar / Februar 2020 mit dem Umbau zu beginnen und den Betrieb des Kindergartens zum Schuljahr 2020 (also im September 2020) aufzunehmen. Es sei nach dem Wegfall des Auftrags kein gleichwertiger Ersatzauftrag eingegangen. Mit kleineren Folgeaufträgen und der Mithilfe der Mitarbeiter bei anderen Projekten habe kein gleichwertiger Ersatz geschaffen werden können. Ab März 2020 sei das Büro durch die Corona-Pandemie zusätzlich belastet gewesen. Die Klägerin hat unstreitig vorgetragen, dass im Zusammenhang mit der Pandemie keine Staatshilfen (wie Förderprogramme oder Kurzarbeitergeld) in Anspruch genommen wurden. Die Mitarbeiter blieben weiter beschäftigt und wurden voll bezahlt. Diesen Angaben kann entnommen werden, dass die entfallende Arbeitszeit nicht oder nur geringfügig für einen anderweitigen Erwerb genutzt werden konnte. Das Architekturbüro hat sich 10% der projektbezogenen Sachkosten (Papier, Schreibmaterial, Kopierkosten u.ä.), 25% der projektbezogenen Personalkosten aus der Leistungsphase 8 und 100% der projektbezogenen Personalkosten aus der Leistungsphase 9 als ersparte Aufwendungen anrechnen lassen. Der Einsatz der Mitarbeiter bei anderen Projekten wird von der Anrechnung umfasst.
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Durch diese Erkenntnisse wurde die Beklagte in die Lage versetzt, gegenbeweislich vorzutragen und ihre Rechte zu wahren. Ihr stand auch die Möglichkeit offen, auf den Erkenntnisprozess durch eine Befragung des Zeugen Einfluss zu nehmen und nähere Informationen zu den Arbeitsvorgängen und die Personalien der Mitarbeiter zu gewinnen. Entgegen dem Vortrag der Berufung wurden die Namen der beteiligten Mitarbeiter von dem Zeugen ausdrücklich benannt (vgl. Protokoll vom 27.10.2020, Bl.117). Eine (erneute) Vernehmung des Zeugen … und der von der Berufung nicht näher bezeichneten Mitarbeiter des Architekturbüros war nicht veranlasst. Es handelt sich um neue Verteidigungsmittel, die in der Berufung präkludiert sind (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO). Die Beklagte ist ihrer Darlegungslast für eine höhere Ersparnis nicht nachgekommen. Sie hat lediglich wiederholt darauf abgestellt, dass die Klägerin ihre sekundäre Darlegungslast nicht erfüllt hat. Die gesetzliche Vermutung des § 648 S. 3 BGB, wonach dem Werkunternehmer 5% der vereinbarten Vergütung für die nicht erbrachten Leistungen zustehen, wirkt nur zugunsten des Unternehmers, der seine ersparten Aufwendungen nicht auf andere Weise darlegt. Sie soll ihm die Vergütung eines Sockelbetrags verschaffen (Grüneberg/Retzlaff, BGB, 83. Auflage 2024, § 648 BGB Rn. 11). Legt der Unternehmer eine Vergütung für nicht erbrachte Leistungen nach Abzug der ersparten Aufwendungen von mehr als 5% dar, trägt der Besteller die Beweislast für höhere Abzüge (Grüneberg/Retzlaff, BGB, 83. Auflage 2024, § 648 BGB Rn. 16).
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(5) Der Vortrag der Beklagten, das Architekturbüro habe wegen der fehlenden Planungsreife der Entwurfs- und Werkplanung nicht über den Einsatz ihrer Mitarbeiter für die Leistungsphasen 5 bis 9 disponieren können, liegt neben der Sache. Das Büro war seit April 2019 mit dem Objekt befasst und zunächst nur mit der Planung gemäß den Leistungsphasen 1 bis 4 beauftragt. Am 25.10.2019 erfolgte der Auftrag über die Leistungsphasen 5 bis 9. Nach den Angaben des Zeugen … wurden nach diesem Auftrag die Fachplaner für Heizung, Freiflächen und Elektrofach eingeschaltet. Geplant sei gewesen, mit dem Umbau im Januar / Februar 2020 zu beginnen und den Betrieb des Kindergartens zum Schuljahr 2020 (also im September 2020) aufzunehmen. Die Kündigung des Architektenauftrags wurde am 09.12.2019 ausgesprochen (Anlage K 23). Um Bau – und Planungszeit zu sparen war eine möglichst parallele Erbringung der Entwurf- und Werkplanung sowie ein zeitgleiches Betreiben des Genehmigungsverfahrens angedacht. Zum Zeitpunkt des Planungsstopps war die Entwurfsplanung noch nicht abgeschlossen; die Werkplanung befand sich im Anfangsstadium. In diesem Stadium war eine Vergabe von Aufträgen an Handwerkern jedoch noch nicht vorgesehen; diese ist Gegenstand der nachfolgenden Leistungsphasen 6 und 7. Die Werkplanung konnte wegen des Planungsstopps nicht vertieft werden. Jedenfalls hatte sich im Zeitraum zwischen der Beauftragung mit den Leistungsphasen 5 bis 9 und dem Planungsstopp ausreichende Anknüpfungstatsachen gebildet, dass das Architekturbüro nach ihren Erfahrungswerten eine zuverlässige Prognose über den Arbeitsanfall und die benötigten Mitarbeiter anstellen konnte. Warum eine solche Prognose wegen des Planungsstands und der später festzulegenden Handwerkerleistungen nicht möglich gewesen sein soll, erschließt sich nicht. Ebenfalls erschließt sich nicht, welche Kenntnisse der in der Berufung angebotene Zeuge ..., der als Makler und Vertreter der Beklagten bei den Verhandlungen aufgetreten ist und bei der Begleitung der Baumaßnahmen tätig werden sollte, über die interne Organisationsstruktur des Architekturbüros und die Grundlagen der Prognoseentscheidung über den Arbeitseinsatz aufweisen soll. Daneben handelt es sich um ein neues Beweismittel, das in der Berufungsinstanz präkludiert ist (§ 531 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO). Der Zeuge … hat die Personalien der Mitarbeiter bekannt gegeben, die für die Leistungsphasen 5 bis 9 abgestellt waren (Protokoll vom 27.10.2020, dort Seite 4, Bl 117). Die Klägerin war daher nicht gehalten, im Rahmen ihrer Darlegungslast das Personal erneut zu benennen.
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(6) Die Honorarrechnung ist auch fällig (§ 15 Abs. 1 HOAI 2013). Eine prüffähige Honorarschlussrechnung wurde überreicht. Die Falschbezeichnung der Adressatin (GmbH statt Vorgründungsgesellschaft) ist unschädlich. Die Schlussrechnung wird nach dem Prinzip des unternehmensbezogenen Geschäfts der Klägerin zugerechnet.
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e) Damit ergibt sich folgende Abrechnung:
Honorar Architekturbüro … für die Leistungsphasen 1-4: 92.149,47 €
- Honorar Architekturbüro … für die Leistungsphasen 5-9: 187.976,51 €
- Kosten Brandschutzkonzept …: 6.961,50 €
- Kosten Tragwerksprüfung Fa. …: 1.813,08 €
- Planungskosten Prüfung Elektroleitungen Fa. …: 1.006,74 €
- Planungskosten für haustechnische Anlagen …: 3.550,58 €
- Kosten für Gebäude- und Grundstücksvermessung Fa. …: 1.166,20 €
- Kosten für Planung Außenanlagen …: 8.278,34 €
- Rechnung … für Nutzungsänderung: 2.007,49 €
- Rechtsanwaltskosten: 4.251,75 €
Gesamt: 309.161,66 €
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Der Berufungsantrag beinhaltet ein geringfügige Zuvielforderung von 2 Cent (Urteilsbetrag: 108.158,84 €; Berufungsantrag: Zahlung von weiteren 201.002,84 €). In diesem Umfang war die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
103
f) Ein Mitverschulden der Klägerin nach § 254 BGB ist nicht ersichtlich. Auf die o.g. Ausführungen wird Bezug genommen (S. 15 f.).
104
g) Der Schriftsatz der Beklagten vom 12.12.2024 (Bl. 158/160) wurde erstmalig nach dem Termin und der Urteilsverkündung zur Kenntnis vorgelegt. Die dort vorgebrachten Einwendungen wurden bereits im Urteil behandelt.
105
4. Der Zinsanspruch beruht auf den §§ 280 Abs. 2, 286 Abs. 1 S. 2, 288 Abs. 1, 291 BGB. Die Zustellung der Klageerweiterung vom 25.11.2020 erfolgte am 16.12.2020. Die Zinspflicht beginnt in entsprechender Anwendung von § 187 Abs. 1 BGB mit dem Tag, der dem Tag nachfolgt, in dessen Verlauf die Klageerweiterung zugestellt wurde (Ernst in: Münchener Kommentar zum BGB, 9. Auflage 2022, § 288 BGB Rn. 19). Verzugszinsen sind somit seit dem 17.12.2020 zu bezahlen.
III.
106
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91, 92 Abs. 2 Nr. 1, 97 Abs. 1 ZPO.
107
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
108
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 45 Abs. 2, 47, 48 Abs. 1 GKG i.V.m. § 3 ZPO.
109
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.