Titel:
Arbeitsunfall, Sachverständigengutachten, Gesundheitsschaden, Urkundenbeweis, Beweisantrag, Unfallbedingtheit, Versicherungsfall, versicherte Tätigkeit, Anpassungsstörung, BSG-Urteil, Unfallfolgen, Unfallereignis, Einholung eines Gutachtens, Weiteres Gutachten, Gutachtenwürdigung, Gesamtergebnis des Verfahrens, Sprunggelenk, Neuer Bevollmächtigter, Gesundheitsstörung, Widerspruchsbescheid
Leitsätze:
1. Ein Verwaltungsgutachten kann im Wege des Urkundsbeweises die alleinige Grundlage für die gerichtliche Entscheidung sein.
2. Voraussetzung dafür ist, dass das (Veraltungs-)Gutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspricht, die an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten zu stellen sind, zudem, dass dem Gericht bewusst ist, dass es sich bei seiner Entscheidung auf ein Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundenbeweises und nicht auf ein vom Gericht selbst eingeholtes Sachverständigengutachten stützt und daher gewisse Unterschiede hinsichtlich Beweiswert und weitergehenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen, und schließlich, dass keine Anhaltspunkte, an der Neutralität des Verwaltungsgutachters zu zweifeln, ersichtlich oder von den Beteiligten dargelegt worden sind.
Schlagworte:
Berufung, Unfallfolgen, Gesundheitsschäden, Beweislast, Gutachten, Kausalität, Beweisantrag
Vorinstanz:
SG Landshut vom 20.04.2016 – S 13 U 329/14
Rechtsmittelinstanz:
BSG Kassel, Beschluss vom 26.09.2025 – B 2 U 41/24 BH
Fundstelle:
BeckRS 2024, 50654
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Landshut vom 20.04.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die im Jahr 1948 geborene Klägerin, die als selbstständige Sekretärin (Schreibbüro) tätig war, erlitt am 19.08.1993 einen Arbeitsunfall als sie im Treppenhaus ihres Wohnhauses auf dem Weg zur Tiefgarage stürzte.
2
Im unfallzeitpunktnahen rekonstruierten D-Arzt Bericht des Herrn S vom 20.08.1993, bei welchem sich die Klägerin an diesem Tag vorgestellt hat, wird zum Unfallhergang festgehalten: „Auf dem Weg zur Arbeit sei sie im Treppenhaus ausgerutscht und gestürzt, dabei verletzte sie sich den rechten Fuß sowie den linken Arm im Schulterbereich“. Herr S befundete neben einer Schwellung und Schmerzen eine feste Außenbandführung, keine neurologischen Ausfälle, eine schmerzfreie Seitanhebung bis 50 Grad der linken Schulter und stellte fest, dass der Röntgenbefund der Schulter und des Fußes keine knöcherne Verletzung zeige. Als Diagnosen werden in diesem Bericht eine Zerrung des rechten Sprunggelenks und der rechten Fußwurzel und eine Prellung der linken Schulter angegeben.
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Ausweislich der (rekonstruierten) Unfallanzeige der Klägerin, welche der Beklagten am 27.09.1993 zuging, habe sich die Klägerin die rechte Schulter, das linke Sprunggelenk und einen „Zahn“ verletzt, auf die Frage nach der Art der Verletzung gab die Klägerin an: „Prellung, Dehnung, abgebrochener Zahn“.
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Im Befundbericht vom 05.10.1993 teilt der Unfallchirurg Herr S ergänzend mit, dass im Bereich des rechten Sprunggelenks und der rechten Fußwurzel nur noch geringe Restbeschwerden angegeben würden, eine wesentliche Schwellung bestehe nicht mehr. Im Bereich der linken Schulter sei die Beweglichkeit noch endgradig schmerzhaft eingeschränkt, besonders die Seitanhebung des Armes über 90 Grad sei noch schmerzhaft eingeschränkt. Wesentliche Komplikationen seien im Verlauf der Behandlung nicht aufgetreten, es sei geplant, die Behandlung am 08.10.1993 zunächst abzuschließen. Im Befundbericht vom 06.10.1993 (ebenfalls von Herrn S) ist festgehalten, dass eine MdE von unter 10 v.H. bestehe.
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Der neurologische Befundbericht vom 07.10.1993 (R, Arzt für Neurologie und Psychiatrie) zeigt im Wesentlichen nur unauffällige Befunde. Beschwerden im Hinblick auf Knie oder Fußgelenk werden dort nicht mehr geschildert. Als Beschwerden werden Schmerzen beim Heben des linken Armes angegeben, bei Kopfdrehung „knistere“ die Halswirbelsäule. Der linke Unterarm und linke Handrücken würden zeitweise einschlafen, dies seit zwei Wochen.
6
In einem weiteren Bericht des R vom 19.10.1993 ist festgehalten: „Keine zentralen oder peripheren Paresen. Sensibilität unauffällig (..) Die Parästhesien sind seit drei Tagen nicht mehr aufgetreten. (..) Die neurologischen Ausfälle von Seiten der HWS-Distorsion haben sich zurückgebildet (..)“. Als Diagnose wird von diesem eine „HWS-Distorsion“ gestellt.
7
Der Neurochirurg K hielt am 22.10.1993 fest: „Direkte Traumafolgen sind computertomographisch nicht feststellbar. Erkennbar sind degenerative Veränderungen, welche durchaus für die linksseitige Brachialgie und für die HWS-Schmerzen ursächlich in Frage kommen könnten. Die CT-Bilder wurden der Pat. ausgehändigt.“ Dieser stellte die Diagnosen Cervicobrachialgie links bei degenerativen HWS-Veränderungen.
8
Im Zwischenbericht vom 25.10.1993 stellte Herr S fest, dass bei der Klägerin nur degenerative Befunde bestünden und von der Klägerin bereits am 27.09.1993 keine Beschwerden im Bereich des Sprunggelenkes mehr vorgetragen worden seien.
9
Im ambulanten Untersuchungsbericht mit fachunfallchirurgischer Stellungnahme vom 03.11.1993 der BG Unfallklinik des W und E anlässlich der Begutachtung der Klägerin am 29.10.1993 ist bezüglich der linken Schulter nach Auswertung der dort gefertigten radiologischen Aufnahmen (Röntgen in zwei Ebenen) festgehalten:
„Im Bereich der linken Schulter etwas Humeruskopfhochstand (..) deutliche degenerative Veränderungen mit Ansatzverkalkung der Rotatorenmanschette oberhalb ihres Tuberculum majus (..) kein Nachweis einer knöchernen Verletzung. An der rechten Schulter altersentsprechender unauffälliger Normalbefund mit jedoch auch beginnenden Verkalkungen“.
10
In der Sonographie der linken Schulter zeigten sich ebenfalls degenerative Veränderungen der Rotatorenmanschette mit Verkalkungen, jedoch kein Nachweis einer Kontinuitätsunterbrechung. Im Bereich der vorbeschriebenen tastbaren Lücke am linken lateralen Oberarm sei die Muskelfaszie des Deltoideus und der Oberarmstreckmuskulatur unverletzt darstellbar. Unter dem Punkt „Klagen der Verletzten“ ist festgehalten, dass Schmerzen im Bereich des linken Oberarmes auf der Außenseite bestehen würden, manchmal habe die Klägerin das Gefühl „wie Messerstiche“, sie könne die Schulter nicht richtig bewegen.
11
In dem ärztlichen Entlassungsbericht der B Klinik D vom 29.05.2000 anlässlich einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme des Rentenversicherungsträgers (Bundesanstalt für Angestellte) im Zeitraum vom 16.12.1999 bis 23.02.2000 sind als Diagnosen festgehalten: Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen, histrionische Persönlichkeitsstörung, Adipositas und Verdacht auf Pupillotonie. In dem Bericht sind unter dem Punkt „Somatischer Befund“ keine Beschwerden im Zusammenhang mit der linken Schulter oder des rechten Fußes/Knie dokumentiert, auch der (vegetativen) Anamnese sind Beschwerden bezüglich dieser Organe nicht zu entnehmen. Der streitgegenständliche Arbeitsunfall oder andere Arbeitsunfälle werden von der Klägerin nicht ansatzweise erwähnt.
12
In dem Bericht des Bezirksklinikums M für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik vom 27.10.2004 sind anlässlich eines Aufenthaltes der Klägerin vom 12.10.2004 bis 26.10.2004 als Diagnosen festgehalten:
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Anpassungsstörung mit längerdauernder depressiver Reaktion bei Partnerkonflikt, Persönlichkeitsstörung und als Differenzialdiagnose eine schizotype Störung. Zu dem Aufnahmeanlass in dieser Einrichtung wird ausgeführt, dass sich die Klägerin sei September 2003 zunehmend schlechter fühle, ihr Freund habe zu wenig Zeit für sie, deswegen gehe es ihr so schlecht. Des Weiteren ist dem Bericht zu entnehmen, dass die Klägerin im Alter von 9 Jahren einen ersten Suizid mit Rattengift und 1997 ihren letzten Suizid versucht habe. In der somatischen Anamnese werden diverse Beschwerden aufgeführt, jedoch keine im Zusammenhang mit den Schultern, Knien und Füßen.
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Am 15.11.2012 stellte sich die Klägerin dem Durchgangsarzt S1 vor und klagte über Schmerzen im rechten Vorfuß eher vom rechten Knie herziehend. Sie habe sich bei dem Unfall 1993 ein Verdrehtrauma zugezogen. Darüber hinaus bestünden Schmerzen in der linken Schulter bei deutlicher Bewegungseinschränkung. Als Erstdiagnose stellte dieser:
„Zerrung rechtes Sprunggelenk und Fußwurzel, Schulterprellung links und Innemeniskusläsion rechts.“
15
Der Beratungsarzt der Beklagten sprach sich mit Stellungnahme vom 20.12.2012 gegen einen Ursachenzusammenhang der heutigen Beschwerden mit dem Unfall aus. Eine Prellung bzw. Zerrung heile folgenlos aus. Brückenbefunde seit 1993 lägen nicht vor. Die aktuellen Befunde zeigten lediglich degenerative Veränderungen.
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Mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 16.01.2013 hat die Beklagte durch den Rentenausschuss betreffend des „Versicherungsfalles“ vom 19.08.1993 einen Anspruch auf Rente abgelehnt und erklärt, dass eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit sowie Behandlungsbedürftigkeit vom 20.08.1993 bis 15.10.1993 vorläge.
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Des Weiteren hat die Beklagte in der Begründung, durch Fettdruck und Unterstreichung hervorgehoben, als Folgen des Versicherungsfalles eine folgenlos ausgeheilte Zerrung des rechten Sprunggelenks und eine folgenlos ausgeheilte Schulterprellung links anerkannt. Als Folgen des Versicherungsfalles hat die Beklagte eine „Degeneration Innenmeniskus im rechten Knie, Verschleißerscheinungen an der linken Schulter“ nicht anerkannt bzw. abgelehnt.
18
Mit Schreiben vom 05.02.2013 legte der damalige Bevollmächtigte Widerspruch gegen den Bescheid ein. Zur Begründung erklärte die Klägerin in dem Schreiben vom 11.03.2013 insbesondere, dass in den Unterlagen von 1993 nicht ersichtlich sei, dass es zu einer Verletzung des Kniegelenks gekommen sei; diese Verletzung sei damals nicht dokumentiert worden, da diese Verletzung von ihr als „geringfügig“ angesehen worden sei, „ebenso wie der Aufprallfolgeschaden des rechten Handgelenkes“. Des Weiteren nahm die Klägerin auf einen Unfallbericht der Unfallklinik T vom 03.11.1993 Bezug und erklärte, dass sie nicht nur einen, sondern „drei Unfälle“ (1992, 1993 und 1995 „nochmalige Zerrung desselben rechten Sprunggelenks“) gehabt habe, die – wie sich aus ihrem weiteren Widerspruchsvortrag ergibt – zu ihren „degenerativen Dauerschäden mit der Tendenz zum Fortschreiben“ geführt hätten.
19
In dem von der Beklagten veranlassten chirurgischem Gutachten vom 28.02.2014 kam der Sachverständige B zu dem Ergebnis, dass die Klägerin bereits bei der gutachterlichen Untersuchung vom 03.11.1993 angegeben habe, dass in Bezug auf die Verletzung des rechten Sprunggelenks keine Beschwerden mehr bestünden. Die Schultergelenksbeweglichkeit sei zu diesem Zeitpunkt nur noch endgradig eingeschränkt gewesen. Die bei der Untersuchung festgestellte erhebliche Einschränkung der Bewegung an der linken Schulter durch Degeneration der Rotatorenmanschette sei keine Unfallfolge. Eine Verletzung der HWS habe computertomographisch ausgeschlossen werden können. Röntgenologisch hätten zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits degenerative Veränderungen bestanden. Die unfallbedingte MdE in Bezug auf die linke Schulter sei 1993 mit unter 10 v.H. beurteilt worden. Die bei der Klägerin bestehenden Schäden und Veränderungen seien allesamt unfallunabhängig oder durch den Unfall verschlimmert worden. Bei der jetzigen Untersuchung ließen sich keine Verletzungsfolgen mehr nachweisen.
20
Ausweislich des nervenfachärztlichen Zusatzgutachtens vom 06.10.2014 schilderte die Klägerin im Rahmen der Untersuchung am 25.06.2014, dass sie an „Spätfolgen“ eines Unfalls leide, der über 20 Jahre zurückliege, und benannte dabei Fuß- und Schulterbeschwerden sowie Depressionen. Der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie kam F zu dem Ergebnis, dass auf nervenärztlichem Fachgebiet bei der Klägerin der Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung vorliege, eine Depression habe nicht festgestellt werden können, die Klägerin habe eher sthenisch anmutende Züge mit recht nachhaltiger und verdeutlichender Schilderung geboten. Die bei der Klägerin bestehenden Gesundheitsstörungen seien keine Unfallfolgen.
21
Mit Widerspruchsbescheid vom 30.10.2014 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass ausweislich der Gutachten von B und F keine Folgen des Unfalls vom 19.08.1993 mehr bestehen würden. Dementsprechend liege auch keine rentenberechtigende MdE vor.
22
Am 24.11.2014 hat der (neue) Bevollmächtigte der Klägerin hiergegen beim SG Landshut Klage erhoben.
23
Das SG hat diesem mit Schreiben vom 26.01.2015 einen Fragebogen betreffend die behandelnden Ärzte der Klägerin ab 2011 zugesendet. Nachdem das SG mehrmals (Schreiben vom 19.03.2015, 09.06.2015, 30.06.2015, 28.08.2015) den Bevollmächtigten an die Übersendung der Formblätter und die Klagebegründung erinnert hatte, hat der Bevollmächtigte Akteneinsicht genommen. Nach einer weiteren Erinnerung (Schreiben vom 07.01.2016), auf die der Bevollmächtigte nicht reagiert hat, hat das SG nach Anhörung zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid, die Klage mit Gerichtsbescheid vom 20.04.2016 abgewiesen.
24
Hiergegen hat der (damalige) Bevollmächtigte der Klägerin am 23.05.2016 Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Nach Einsicht in die Verwaltungsakte hat die neue Bevollmächtigte die Berufung mit Schreiben vom 12.06.2017 begründet und folgenden Berufungsantrag gestellt:
„(..) wird beantragt, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 20.04.2016, Az. S 13 U 329/14 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 16.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2014 zu verurteilen, der Klägerin unter Anerkennung des Arbeitsunfalls vom 19.08.1993 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. zu gewähren.“
25
In der Begründung ist hierzu insbesondere ausgeführt, dass „die Unfallfolgen aus den Jahren 1992, 1993 und 1995 nicht folgenlos ausgeheilt seien.“
26
Mit Schreiben vom 09.10.2017 hat das LSG der Klägerin mitgeteilt, dass eine Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG nicht in Betracht komme, da der zuvor angeforderte Kostenvorschuss nicht eingegangen sei.
27
Die Beklagte hat im Weiteren am 08.08.2018 – nach Anhörung der Klägerin – einen Bescheid erlassen, wonach „weitere Ansprüche wegen wesentlicher Änderung der Folgen des Unfalles vom 10.08.1993“ nach § 48 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ausgespart“ würden, „weil dieser Unfall rechtswidrig als Arbeitsunfall anerkannt wurde“. Nachdem die Beklagte und der vierte Bevollmächtigte der Klägerin sich hierzu intensiv schriftsätzlich ausgetauscht hatten, hat mit Schreiben vom 23.07.2019 die Beklagte mitgeteilt, dass der Verwaltungsakt vom 08.08.2018 mit Bescheid vom 02.07.2019 aufgehoben worden sei und hat in Anlage zu diesem Schreiben den Bescheid vom 02.07.2019 mitübersendet.
28
Die Klägerin hat – nach mehreren Erinnerungen durch das LSG – in Anlage zu ihrem Schreiben vom 22.02.2023 diverse Unterlagen vorgelegt und ihre Rechtsauffassung umfassend vorgetragen.
29
Mit Beschluss vom 03.05.2024 (L 2 SF 30/24 AB) hat das LSG einen Antrag wegen Besorgnis der Befangenheit der Klägerin gegen die damals zuständige Berichterstatterin vom 21.02.2024 als unzulässig verworfen. Mit gerichtlichem Schreiben vom 19.08.2024 hat das LSG der Klägerin einen ausführlichen Hinweis zur Sach- und Rechtslage gegeben.
30
Daraufhin sich erneut ein Bevollmächtigter bestellt, der nach Akteneinsicht erklärt hat, das Mandat nicht zu übernehmen.
31
Die Klägerin hat abschließend mit Schreiben vom 20.09.2024 erklärt, welche Gesundheitsschäden ihrer Auffassung nach „komplett unfallbedingt“ bzw. „teilweise unfallbedingt“ seien.
32
Die Klägerin beantragt,
den bei ihr vorliegenden Schaden an der Schulter links, am Knie rechts und Fußwurzel/Sprunggelenk rechts sowie von Depressionen und Anpassungsstörung als Unfallfolgen des Arbeitsunfalles vom 19.08.1993 anzuerkennen.
die Einholung eines psychiatrischen und orthopädischen Gutachtens durch das Gericht.
34
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
35
Beigezogen worden sind die Akte des SG sowie zwei Bände Verwaltungsakten der Beklagten betreffend den streitgegenständlichen Arbeitsunfall und ein Band Akten betreffend den Arbeitsunfall vom 26.05.1992. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt dieser Akten und der Berufungsakte, die allesamt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) der Klägerin ist zulässig, aber nicht begründet.
37
Die Beklagte hat zu Recht als Folgen des Versicherungsfalles vom 19.08.1993 eine folgenlos ausgeheilte Zerrung des rechten Sprunggelenks und eine folgenlos ausgeheilte Schulterprellung links anerkannt und als Folgen des Versicherungsfalles die Gesundheitsschäden „Degeneration Innenmeniskus im rechten Knie, Verschleißerscheinungen an der linken Schulter“ abgelehnt. Soweit die Klägerin (sinngemäß) die Anerkennung struktureller Gesundheitsschäden im Bereich der linken Schulter, des rechten Sprunggelenks und des rechten Knies und zusätzlich einer Depression und Anpassungsstörung als Unfallfolgen des Arbeitsunfalles vom 19.08.1993 zum Gegenstand der Berufung macht, hat diese keine Aussicht auf Erfolg.
38
1.) Unfallfolgen sind die Gesundheitsschäden, die wesentlich durch den Gesundheitserstschaden eines Arbeitsunfalls verursacht worden sind oder die nach besonderen Zurechnungsnormen wie § 11 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) dem Gesundheitserstschaden bzw. dem Arbeitsunfall zugerechnet werden (vgl. Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 05.07.2011, B 2 U 17/10 R).
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Der Gesundheitserstschaden wiederum ist eine den Arbeitsunfall selbst begründende Tatbestandsvoraussetzung (vgl. BSG, Urteil vom 05.07.2011, B 2 U 17/10 R, und vom 24.07.2012, B 2 U 23/11 R). Nach § 8 Abs. 1 SGB VII sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit) (§ 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII), wobei Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse sind, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für einen Arbeitsunfall ist danach im Regelfall erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis (dem Unfallereignis) geführt hat (Unfallkausalität) und das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität) (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).
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Für die erforderliche Kausalität zwischen Unfallereignis und Gesundheitserstschaden sowie zwischen Gesundheitserstschaden und weiteren Gesundheitsschäden, den Unfallfolgen, gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.2009, B 2 U 18/07 R), die auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht. Danach ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Als rechtserheblich werden aber nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist, muss nach der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs abgeleitet (vgl. BSG, Urteil vom 17.02.2009, B 2 U 18/07 R) sowie auf Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsstörungen und Krankheiten ermittelt werden (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Gesichtspunkte für die Beurteilung sind neben der versicherten Ursache als solcher einschließlich Art und Ausmaß der Einwirkung u.a. konkurrierende Ursachen (nach Art und Ausmaß), der zeitliche Ablauf des Geschehens, das Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, Befunde und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie die gesamte Krankengeschichte (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Ist jedoch eine Ursache – allein oder gemeinsam mit anderen Ursachen – gegenüber anderen Ursachen von überragender Bedeutung, so ist/sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) wesentlich und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (vgl. BSG, Urteil vom 30.06.1960, 2 RU 86/56). Eine Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als wesentlich anzusehen ist, wird auch als Gelegenheitsursache oder Auslöser bezeichnet (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).
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Hinsichtlich des Beweismaßstabs ist zu beachten, dass neben der versicherten Tätigkeit und dem schädigenden Ereignis auch das Vorliegen des Gesundheitserstschadens und des Folgeschadens, der Unfallfolge, im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein muss (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 01.02.1996, 2 RU 10/95, vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R, vom 31.01.2012, B 2 U 2/11 R, und vom 17.12.2015, B 2 U 8/14 R). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92). Für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge genügt hingegen die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 02.04.2009, B 2 U 29/07 R). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt dagegen nicht (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R). Dabei existiert keine zwingende Regel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexen Krankheitsgeschehen zur Umkehr der Beweislast führen würde (vgl. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 17.12.2015, B 2 U 11/14 R).
42
2.) Dies zugrunde gelegt gilt für das vorliegende Verfahren Folgendes:
43
Als unfallbedingte Gesundheitserstschäden des Arbeitsunfalls vom 19.08.1993 sind nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung und intensiver Auswertung des Akteninhalts bzw. der aktenkundigen Befunde und Gutachten zur vollen Überzeugung des Senats lediglich eine Zerrung des rechten Sprunggelenks und eine Schulterprellung links als Gesundheitserstschäden nachgewiesen, die die Beklagte im Bescheid vom 16.01.2013 zutreffend der Anerkennung des Ereignisses vom 19.08.1993 als Arbeitsunfall zugrunde gelegt hat.
44
Weitere Gesundheitserstschäden, insbesondere auf psychiatrischem Fachgebiet, sind nicht nachgewiesen. Die Zerrung des rechten Sprunggelenks und die Prellung der Schulter sind im Übrigen unter keinem rechtlichen oder medizinischen Aspekt ursächlich für die von der Klägerin im Rahmen der Berufung geltend gemachten, bei ihr mehr als 30 Jahre nach dem Arbeitsunfall feststellbaren Gesundheitsschäden an der linken Schulter, am rechten Knie und der rechten Fußwurzel/Sprunggelenk sowie im Hinblick auf die von der Klägerin behauptete Depression und Anpassungsstörung.
45
Bei seinen Feststellungen stützt sich der Senat in erster Linie auf die unfallzeitpunktnahen Befunde und medizinische Unterlagen aus dem Jahr 1993 sowie auf die von Seiten der Beklagten eingeholten Gutachten auf orthopädischem Fachgebiet des B vom 28.02.2014 und auf psychiatrischem Fachgebiet durch F vom 06.10.2014.
46
Die vorgenannten, im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten würdigt der Senat nicht im Wege des Sachverständigenbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 402 ff. Zivilprozessordnung – ZPO –), sondern als Urkundenbeweis (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 415 ff ZPO; grundlegend vgl. BSG, Beschluss vom 30.03.2017, B 2 U 181/16 B). Ein Verwaltungsgutachten kann auch die alleinige Entscheidungsgrundlage sein (vgl. BSG, Urteil vom 08.12.1988, 2/9b RU 66/87, Beschlüsse vom 31.05.1963, 2 RU 231/62, und vom 06.06.2007, B 2 U 108/07 B; Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15.04.1964, V C 45.63). Dies setzt allerdings voraus, dass das Gutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspricht, die an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten zu stellen sind (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14.01.2005, 2 BvR 983/04; BSG, Urteil vom 01.03.1984, 9a RV 45/82; Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.07.1999, 1 StR 618/98).
47
Diese Mindestanforderungen erfüllen die vorgenannten Gutachten, die der Senat seiner Entscheidung zugrunde legt. Die Sachverständigen haben Art und Ausmaß der hier im Streit befindlichen gesundheitlichen Verhältnisse bei persönlichen Untersuchungen der Klägerin festgestellt und konkret und eingehend den Ursachenzusammenhang unter Berücksichtigung und Abwägung sämtlicher Gesichtspunkte erörtert (vgl. BSG, Urteil vom 01.03.1984, 9a RV 45/82).
48
Der Senat ist sich bewusst, dass er sich bei seiner Entscheidung auf Verwaltungsgutachten im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 415 ZPO) und nicht auf ein vom Gericht selbst eingeholtes Sachverständigengutachten stützt und daher gewisse Unterschiede hinsichtlich Beweiswert und weitergehenden Ermittlungsmöglichkeiten bestehen (vgl. BSG, Urteil vom 07.05.2019, B 2 U 26/17 R). So liegt beispielsweise keine Verantwortlichkeit des Verwaltungsgutachters gegenüber dem Gericht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 404a, 407a ZPO) vor, es fehlt die Strafandrohung der §§ 153 ff. Strafgesetzbuch und die Möglichkeit der Beeidigung des Sachverständigen (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 410 ZPO) besteht nicht. Auch haben die Beteiligten im gerichtlichen Verfahren kein Ablehnungsrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 406 ZPO) und können kein Fragerecht (§§ 116 Satz 2, 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 397, 402, 411 Abs. 4 ZPO; § 62 SGG) geltend machen (vgl. BSG, Beschluss vom 30.03.2017, B 2 U 181/16 B).
49
Unter diesen Gesichtspunkten hat der Senat nicht ansatzweise Bedenken, sich auf die oben genannten Gutachten zu stützen. Irgendwelche Anhaltspunkte, an der Neutralität der Sachverständigen zu zweifeln, sind nicht ersichtlich und auch von der Klägerin nicht dargelegt worden.
50
a.) Der Nachweis struktureller Gesundheits(erst) schäden an der linken Schulter, dem rechten Knie und dem rechten Sprunggelenk ist nicht geführt.
51
aa.) Sofern die Klägerin im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Arbeitsunfall Schäden am rechten Knie geltend macht, ist festzustellen, dass es bereits keine Anhaltspunkte für einen (im Vollbeweis festzustellenden) Gesundheitserstschaden am (rechten) Knie gibt und ein solcher noch nicht einmal von der Klägerin im Jahr 1993 behauptet wurde, sondern erst knapp 20 Jahre nach dem Unfallereignis.
52
Ausweislich des D-Arzt Berichts des Herrn S vom 20.08.1993 hat die Klägerin bei ihrer Vorstellung selbst nur eine Verletzung des rechten Fußes und des linken Armes im Schulterbereich behauptet und auch in der Unfallanzeige der Klägerin, welche der Beklagten am 27.09.1993, d.h. ca. ein Monat nach dem Unfall, zuging, hat die Klägerin ebenfalls nur eine Prellung der „rechten“ Schulter und des „linken“ Sprunggelenkes angegeben, eine Verletzung des Knies (weder des rechten noch des linken) wurde noch nicht einmal von dieser zum damaligen Zeitpunkt erwähnt; lediglich die Verletzung eines nicht näher bezeichneten „Zahnes“ machte die Klägerin im Rahmen der Unfallanzeige und später geltend. Ob letztere Behauptung, also die Verletzung eines oder ggf. mehrerer Zähne infolge des streitgegenständlichen Unfalles, zutreffend ist, kann dahingestellt bleiben, da etwaige Gesundheitsschäden an einem oder ggf. mehreren Zähnen der Klägerin nicht Gegenstand des streitgegenständlichen Feststellungsantrages sind.
53
Auch im Rahmen der Begutachtung durch die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik T am 29.10.1993 (vgl. ambulanter Untersuchungsbericht mit fachunfallchirurgischer Stellungnahme vom 03.11.1993 der BG Unfallklinik des W und E), d.h. zwei Monate nach dem streitgegenständlichen Unfallereignis, äußerte die Klägerin lediglich Schmerzen im Bereich des linken Oberarmes auf der Außenseite und erklärte, sie könne die linke Schulter nicht bewegen. Schmerzen oder anderweitige Beschwerden betreffend ihrer Knie oder bezüglich ihrer Füße / Sprunggelenke wurden nicht beklagt.
54
Den aktenkundigen Befunden aus dem Jahre 1993 lassen sich ebenfalls keine Befunde oder Anhaltspunkte für einen etwaigen Gesundheitsschaden eines oder beider Knie entnehmen, unabhängig von der Frage der Ursächlichkeit des Unfallereignisses hierfür.
55
Im Übrigen räumt auch die Klägerin in der Widerspruchsbegründung (Schreiben vom 11.03.2013) selbst ein, dass aus den „Unterlagen von 1993“ eine Verletzung des Kniegelenks nicht ersichtlich ist. Ob der Grund hierfür die von der Klägerin behauptete angeblich fehlerhaft eingeschätzte Geringfügigkeit der behaupteten Knieverletzung im Verhältnis zu den anderen Schmerzen und Einschränkungen ist, kann dahingestellt bleiben, da dies nichts daran ändert, dass im Jahr 1993 keine Anhaltspunkte für einen Gesundheitserstschadens am (rechten) Knie gegeben sind.
56
Ein Gesundheitserstschaden an dem/den Knie(en) der Klägerin ist/sind daher nicht nachgewiesen, die Klägerin trägt hierfür die Beweislast. Etwaige bestehende Gesundheitsstörungen an den Knien, die die Klägerin mehrere Jahrzehnte nach dem Unfall geltend gemacht hat, können vor diesem Hintergrund unter keinem rechtlichen / medizinischen Gesichtspunkt mit dem streitgegenständlichen Arbeitsunfall in Zusammenhang gebracht werden.
57
bb.) Auch strukturelle Gesundheitserstschäden im Bereich der linken Schulter und des rechten Fußes, die geeignet sind, zu den im Jahr 2012 und später festgestellten Gesundheitsstörungen an diesen Körperteilen zu führen, sind zur vollen Überzeugung des Senats nicht nachgewiesen.
58
Sämtlichen Befundberichten im Jahr 1993, angefangen vom unfallzeitpunktnahen D-Arzt Bericht des Herrn S vom 20.08.1993, sowie den auf diesen folgenden D-Arzt Berichten vom 05.10.1993, 06.10.1993, 25.10.1993, den neurologischen Berichten des R vom 07.10.1993 und 19.10.1993 sowie dem ambulanten Untersuchungsbericht mit fachunfallchirurgischer Stellungnahme vom 03.11.1993 der BG Unfallklinik des W und E ist im Hinblick auf die linke Schulter und den rechten Fuß kein substanzieller Gesundheits(erst-)schaden zu entnehmen. Keiner dieser Ärzte hat festgestellt, dass es im Bereich der linken Schulter oder des rechten Knie zu einer strukturellen Verletzung, die über eine bloße Zerrung/Prellung hinausgeht, gekommen ist.
59
Im Hinblick auf die Schultern der Klägerin ist vielmehr festzustellen, dass die Röntgenbilder sowie die Sonographie der linken Schulter anlässlich der Begutachtung der Klägerin am 29.10.1993 bereits zum damaligen Zeitpunkt deutlich degenerative Veränderungen in Gestalt eines Humeruskopfhochstandes und einer Ansatzverkalkung der Rotatorenmanschette zeigen, jedoch keine Befunde, die ansatzweise auf ein zuvor stattgehabtes Trauma hindeuten oder einen strukturellen Gesundheitsschaden dokumentieren. Eine Kontinuitätsunterbrechung der Rotatorenmanschette ist anhand der Sonographie-Aufnahme zum damaligen Zeitpunkt jedenfalls ausgeschlossen.
60
Auch der Umstand, dass in den Befundberichten aus dem Jahr 1993 eine Schmerzangabe der Klägerin im Hinblick auf ihre Schulter dokumentiert ist (vgl. z.B. ambulanter Untersuchungsbericht mit fachunfallchirurgischer Stellungnahme vom 03.11.1993 der BG Unfallklinik des W und E anlässlich der Begutachtung der Klägerin am 29.10.1993) rechtfertigt keine andere Beurteilung.
61
Zum einen lässt sich allein mit der Angabe von Schmerzen regelmäßig der Nachweis eines Gesundheitserstschadens nicht führen, da Schmerzen das Befinden und damit das Symptom einer (vorausgegangenen) Gewebeschädigung beschreiben, nicht aber den für einen Gesundheitserstschaden notwendigen ärztlichen Befund ersetzen (vgl. Leitlinie Schmerzbegutachtung, Stand 07.11.2017, publiziert bei: AWMF online; vgl. auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 29.01.2016, L 8 U 977/15, und Bayer. LSG, Urteile vom 22.11.2022, L 2 U 424/18, und vom 06.03.2024, L 2 U 398/22).
62
Zum anderen ist es durchaus naheliegend, dass die in den Befunden dokumentierte Angabe des Schmerzes und Bewegungseinschränkungen in der Schulter durch die Klägerin, sofern diese Angaben vor dem Hintergrund der aktenkundigen Tendenz der Klägerin zur Verdeutlichung ihrer Beschwerden und der diagnostizierten histrionischen Persönlichkeitsstörung (vgl. z.B. ärztlicher Entlassungsbericht der B Klinik D vom 29.05.2000) überhaupt eine Aussagekraft haben, allenfalls einer bereits zum Unfallzeitpunkt vorbestehenden Degeneration der Schulter bzw. der von K festgestellten (degenerativen) Brachialgie geschuldet sein dürfte.
63
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang im Übrigen auch, dass die Klägerin in der unfallzeitpunktnahen Unfallanzeige als Art der Verletzung lediglich „Prellung, Dehnung, abgebrochener Zahn“ angegeben hat und somit die Einschätzung der behandelnden Ärzte und Untersucher selbst bestätigt hat.
64
Zusammenfassend ist somit festzustellen, dass nur eine Prellung der linken Schulter und Zerrung des rechten Fußes zur Überzeugung des Senats als Gesundheitserstschäden nachgewiesen sind. Der Nachweis von Gesundheitserstschäden, die über die Zerrung /Prellung hinausgehen, kann nach umfassender Würdigung aus den genannten Gründen nicht geführt werden. Bloße Prellungen oder Zerrungen heilen jedoch nach dem aktuellen Kenntnisstand der medizinischen Wissenschaft, wie er beispielsweise in der auch vom BSG regelmäßig angeführten maßgeblichen Begutachtungsliteratur (vgl. Schönberger Mehrtens Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 10. Auflage 2024), dokumentiert ist (beispielhaft vgl. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 16.03.2021, B 2 U 11/19 R), spätestens nach sechs bis acht Wochen folgenlos aus, so dass vor diesem Hintergrund später auftretende oder festgestellte Gesundheitsschäden nicht mehr mit dem Arbeitsunfall in einen rechtlich relevanten Zusammenhang gebracht werden können.
65
Die Ausführungen des B in seinem Gutachten vom 28.02.2014, dass die im Zeitpunkt der Untersuchung festgestellten Gesundheitsschäden im Bereich des rechten Fußes, an der linken Schulter und am rechten Kniegelenk weder unfallbedingt sind noch durch den Unfall verschlimmert worden sind, sondern rein degenerativer Natur, sind vor diesem Hintergrund schlüssig, plausibel und nicht zu beanstanden.
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b.) Der Nachweis von Gesundheits(erst) schäden auf psychiatrischem Fachgebiet sowie der Nachweis einer Depression und Anpassungsstörung als Unfallfolgen ist ebenfalls nicht geführt.
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Soweit die Klägerin „Depressionen“ als Unfallfolge geltend macht ist, ist unabhängig von der Frage der Kausalität festzustellen, dass bereits der Nachweis dieses Gesundheitsschadens nicht geführt ist. In dem ärztlichen Entlassungsbericht der B Klinik D vom 29.05.2000 anlässlich einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme des Rentenversicherungsträgers im Zeitraum vom 16.12.1999 bis 23.02.2000 sind als Diagnosen festgehalten: Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen, histrionische Persönlichkeitsstörung, Adipositas und Verdacht auf Pupillotonie, nicht jedoch eine Depression. In dem Bericht des Bezirksklinikums M für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik vom 27.10.2004 anlässlich eines Aufenthaltes der Klägerin vom 12.10.2004 bis 26.10.2004 sind als Diagnosen eine Anpassungsstörung mit längerdauernder depressiver Reaktion bei Partnerkonflikt, Persönlichkeitsstörung und als Differenzdiagnose eine schizotype Störung gestellt worden.
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In Übereinstimmung mit dieser Befundsituation ist der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie F nach ambulanter Untersuchung der Klägerin in dem Gutachten vom 06.10.2014 schlüssig und plausibel zu der Einschätzung gelangt, dass auf nervenärztlichem Fachgebiet bei der Klägerin nur der Verdacht auf eine Persönlichkeitsstörung, nicht aber eine Depression habe festgestellt werden können. Von der Richtigkeit der Feststellung des Sachverständigen, dass die Klägerin im Rahmen der Begutachtung eher sthenisch anmutende Züge mit recht nachhaltiger und verdeutlichender Schilderung geboten hat, was klar gegen das Vorliegen einer Depression spricht, konnte sich der Senat sowohl im Rahmen der mündlichen Verhandlung als auch durch die Lektüre der zahlreichen Schriftsätze der Klägerin eindrücklich überzeugen.
69
Im Gegensatz zu der Gesundheitsstörung Depression ist die Diagnose Anpassungsstörung (mit längerdauernder depressiver Reaktion bei Partnerkonflikt) im Bericht des Bezirksklinikums M für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik vom 27.10.2004 anlässlich eines Aufenthaltes der Klägerin vom 12.10.2004 bis 26.10.2004 (im Gegensatz zu einer Depression) gestellt worden. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob diese Diagnose zutreffend ist, denn diese mehr als 10 Jahre nach dem Arbeitsunfall gestellte Diagnose kann unter keinen Gesichtspunkt mit dem Arbeitsunfall in Zusammenhang gebracht werden.
70
Nach Schönberger et al, a.a.O., S. 203, beginnen Symptome einer Anpassungsstörung zeitnah innerhalb eines Zeitraumes von längstens drei Monaten nach dem belastenden Ereignis und halten selten länger als sechs Monate an. Diese Diagnose ist jedoch erstmalig mehr als 10 Jahre nach dem streitgegenständlichen Arbeitsunfall gestellt worden, für eine etwaige unfallzeitpunktnahe psychische Reaktion der Klägerin im Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall gibt es hingegen keinen einzigen Anhaltspunkt. Unabhängig davon ist in dem Bericht festgehalten, dass die Anpassungsstörung mit einem damals bestehenden Partnerkonflikt, also unfallunabhängig, in einem Zusammenhang steht.
71
Sofern der die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 30.10.2024 „die Einholung eines psychiatrischen und orthopädischen Gutachtens durch das Gericht“ beantragt hat, war diesem Antrag aus mehreren Gründen nicht nachzukommen.
72
Ein prozessordnungsgemäßer Beweisantrag erfordert die Behauptung einer bestimmten entscheidungserheblichen (vgl. BSG, Beschlüsse vom 12.12.2003, B 13 RJ 179/03 B, und vom 24.10.2023, B 5 R 93/23 B) Tatsache und die Angabe des Beweismittels für diese Tatsache. Die behauptete Tatsache ist möglichst präzise und bestimmt zu behaupten. Schließlich ist darzustellen, was die Beweisaufnahme ergeben soll. Nur dies wird der Warnfunktion eines förmlichen Beweisantrags gerecht und versetzt das Gericht in die Lage, die Entscheidungserheblichkeit eines Antrags zu prüfen und gegebenenfalls seine Ablehnung im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG ausreichend zu begründen (vgl. BSG, Beschluss vom 09.07.2015, B 9 SB 19/15 B). Unbestimmte, unklare oder unsubstantiierte Beweisanträge hingegen brauchen dem Gericht eine Beweisaufnahme nicht nahe zu legen (vgl. BSG, Beschluss vom 07.10.2016, B 9 V 28/16 B – m.w.N.).
73
Dem in der mündlichen Verhandlung vom 30.10.2024 gestellten und oben zitierten Beweisantrag ist bereits keine entscheidungserhebliche Tatsache zu entnehmen, die Klägerin benennt nur das Beweismittel.
74
Selbst wenn dieser Antrag nach dem objektiven Empfängerhorizont unter Beachtung der o.g. Prämissen ausgelegt würde, wäre einem Beweisantrag, der dem Willen der Klägerin entsprechende entscheidungsrelevante Tatsachen beinhaltet, dennoch nicht nachzukommen.
75
Die Klägerin hat sowohl schriftsätzlich wie auch in der mündlichen Verhandlung mehrmals zum Ausdruck gebracht, dass sie der Auffassung ist, dass ihre aktuell bestehenden Gesundheitsstörungen auf den Arbeitsunfall im Jahr 1993 zurückzuführen sind und dass dies Gegenstand weiterer Ermittlungen sein soll. Dabei hat sie den Gegenstand des Berufungsverfahrens, wie ihrem Berufungsantrag zu entnehmen ist, auf die Feststellung von Gesundheitsschäden an der Schulter links, am Knie rechts, der Fußwurzel/Sprunggelenk rechts sowie auf die Feststellung von „Depressionen“ und einer Anpassungsstörung als Unfallfolgen beschränkt.
76
Dies zugrunde gelegt würde ein ordnungsgemäßer Beweisantrag wie folgt lauten:
77
Zum Beweis der Tatsache,
dass der Arbeitsunfall vom 19.08.1993 im Bereich der Psyche, an der linken Schulter, an der rechten Fußwurzel, im rechten Sprunggelenk und im rechten Knie strukturelle Gesundheitserstschäden, die über eine bloße Prellung und Zerrung hinausgehen, verursacht hat, und dass der Arbeitsunfall vom 19.08.1993 wesentlich ursächlich für die aktuell bestehenden Gesundheitsstörungen an diesen Körperteilen ist sowie wesentlich ursächlich für eine festzustellende Depression und Anpassungsstörung, wird beantragt, dass das Gericht zwei Gutachten von Amts wegen (§ 106 SGG) nach ambulanter Untersuchung der Klägerin auf orthopädischem und psychiatrischem Fachgebiet veranlasst.
78
Aber auch diesem Antrag ist nicht nachzukommen:
79
Entscheidungsrelevant und beweisbedürftig ist zunächst nicht, ob und welche Gesundheitsschäden aktuell, d.h. 30 Jahre nach dem Unfallereignis, bei der Klägerin im Bereich der Knie, Füße und linken Schulter sowie auf psychiatrischem Fachgebiet bestehen, sondern vielmehr, gerade wegen der erheblichen Latenz zwischen dem Zeitpunkt des Arbeitsunfalls und der Geltendmachung von Unfallfolgen und einer fehlenden Brückensymptomatik, welche Gesundheitserstschäden im Jahr 1993 nachweisbar sind. Zu dieser Frage, ob und welche Gesundheitserstschäden im Jahr 1993 dokumentiert sind, hat das Gericht die aktenkundigen Befundberichte ausgewertet. Weitere aussagekräftige Befunde konnten, trotz eines erheblichen Ermittlungsaufwandes des Gerichts, nicht ermittelt werden. Hieran vermag auch die Einholung eines weiteren Gutachtens nichts zu ändern.
80
Des Weiteren gibt es zu dieser Frage und auch zu der Frage, ob die im Jahr 1993 festgestellten Gesundheitsstörungen wesentlich ursächlich für die weitaus später manifest gewordenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen geworden sein könnten, bereits zwei aussagekräftige Gutachten nach ambulanter Untersuchung der Klägerin auf orthopädischem und psychiatrischem Fachgebiet. Diese sind unter Zugrundelegung der Maßgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung (s.o.) im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung verwertbar. Es ist insofern bereits kein weiterer Aufklärungsbedarf ersichtlich. Dem Beweisantrag der Klägerin ist das Gericht daher nicht nachgekommen.
81
Der Berufung kann deshalb keinen Erfolg haben.
82
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
83
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.