Inhalt

SG München, Endurteil v. 26.09.2024 – S 49 KA 7/23
Titel:

Ärzte-ZV, vertragsärztliche Versorgung, Vertragsarztrecht, Widerspruchsbescheid, Psychotherapeutenausbildung, Ermächtigte Ärzte, Leistungserbringer, Widerspruchsverfahren, Zuschlag, Abrechenbarkeit, Gesetzliche Ermächtigung, Abgerechnete Leistung, Zulassungsausschuß, Abrechnung, Präambel, Kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, Honorarbescheid, Rechtsprechung des BSG, Berufungszulassung, Onkologie-Vereinbarung

Schlagworte:
Widerspruchsverfahren, Anfechtungsklage, Verpflichtungsklage, Abrechnungsprüfung, Vertragsarzt, Ermächtigter Arzt, Mindestsprechstundenanzahl
Fundstelle:
BeckRS 2024, 50647

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 11.08.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.12.2022 wird aufgehoben, soweit damit nach der GOP 35591 EBM abgerechnete Leistungen sachlich-rechnerisch berichtigt wurden und die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger das insoweit einbehaltene Honorar in Höhe von 438,48 Euro nachzuvergüten.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

1
Streitig ist die Rechtmäßigkeit von sachlich-rechnerischen Richtigstellungen.
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Im streitgegenständlichen Quartal 1/2022 war der Kläger mit hälftigem Versorgungsauftrag als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut in B-Stadt zugelassen. Daneben war er mit Beschuss des Zulassungsausschusses vom 08.12.2021 befristet für den Zeitraum vom 01.01.2022 bis zum 31.12.2022 zur Teilnahme an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit coronabedingtem Therapiebedarf ermächtigt worden.
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Im Honorarbescheid vom 11.08.2022 zu den im Quartal 1/2022 im Rahmen der Ermächtigung erbrachten und abgerechneten Leistungen des Klägers stellte die Beklagte 28 Leistungen nach der GOP 35591 EBM (Zuschlag KZT, Einzelbehandlung) in Höhe von 438,48 Euro richtig. Die Beklagte begründete dies damit, dass diese GOP nur bei Vorliegen der entsprechenden Mindestsprechstundenzahl gem. § 19a Abs. 1 Ärzte-ZV abrechenbar sei.
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Der Kläger legte am 16.08.2022 gegen die Richtigstellungen Widerspruch ein und verwies darauf, dass er seit Beginn des Ermächtigungszeitraums den Mindestumfang der Sprechstunden überschritten habe, er halte sich 40 Stunden pro Woche für Sprechstunden zur Verfügung. Ein Ausschluss der Abrechnung könne auch nicht mit der Ermächtigung begründet werden. Der Zulassungsausschuss habe entschieden, dass er im Rahmen der Ermächtigung alle GOPs nach EBM abrechnen dürfe, die ein zugelassener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut abrechnen kann.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 07.12.2022, zur Post gegeben am 14.12.2022, wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die GOP 35591 sei dem Abschnitt 35.2.3.2 (Zuschläge für Kurzzeittherapie) des EBM zugeordnet. Nach Abs. 1 der Präambel zu diesem Abschnitt seien die Zuschläge dieses Abschnitts nur für Vertragsärzte bzw. -psychotherapeuten berechnungsfähig, die für die Mindestsprechstundenanzahl gem. § 19a Abs. 1 Ärzte-ZV zur Verfügung stehen. § 19a Ärzte-ZV falle in Abschnitt VI der Ärzte-ZV, der für die zugelassenen Vertragsärzte bzw. -psychotherapeuten Anwendung finde. Demgegenüber sei die Ermächtigung (§ 31) dem Abschnitt VIII der Ärzte-ZV zugeordnet. Im Rahmen der Ermächtigung sei Abs. 1 der Präambel zum Abschnitt 35.2.3.2 EBM nicht einschlägig und damit auch die Berechnung der GOP 35591 ausgeschlossen.
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Dagegen erhob der Kläger am 12.01.2023 Klage mit der Begründung, die von der Beklagten im Widerspruchsbescheid vertretene Ansicht sei unzutreffend. Aus dem Wortlaut des Abs. 1 der Präambel zu 35.2.3.2 EBM ergebe sich keine Beschränkung der Abrechenbarkeit der streitigen Zuschläge auf zugelassene Vertragsärzte- und -psychotherapeuten. Die Ergänzung „gem. § 19a Abs. 2 Ärzte-ZV“ sei lediglich deklaratorischer Natur und stelle klar, dass die entsprechende bzw. jeweils geltende Mindestsprechstundenzeit dort geregelt sei. Der Sinngehalt, den die Beklagte der Regelung in Abs. 1 zuschreibe, würde einen anderen Wortlaut voraussetzen, wie z. B. „die gem. § 19a Ärzte-ZV zugelassen sind“ oder „die die Voraussetzungen nach § 19a Abs. 1 Ärzte-ZV erfüllen“. Die Regelung sei § 87 Abs. 2c letzter Satz SGB V nachgebildet, der im Rahmen des Gesetzes zur Reform der Psychotherapeutenausbildung vom 15.11.2019 ins SGB V eingefügt worden sei. Auch nach der Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift solle es, wie der Wortlaut nahelege, nicht auf den Status (Zulassung) ankommen, sondern maßgeblich sei das tatsächliche „zur Verfügung stehen“ für die Versicherten. Zielsetzung der Einführung dieses Zuschlags sei die Stärkung der Erbringung von Kurzzeittherapien gewesen. Zur Erfüllung dieses Zwecks im Rahmen der ambulanten Versorgung sei es unerheblich, ob der Leistungserbringer zugelassen oder ermächtigt ist. Auch die nach § 95 Abs. 1 S.1 SGB V ermächtigten Leistungserbringer hätten einen Versorgungsauftrag. Auch mache Kapitel 35 im Gegensatz zu anderen Kapitel des EBM keine Unterscheidung zwischen zugelassenen und ermächtigen Ärzten, sondern spreche nur von Vertragsärzten und -Psychotherapeuten. Es sei auch zu beachten, dass die Beklagte an anderer Stelle sehr wohl die Erfüllung des Mindestumfangs, der dem Wortlaut der Präambel nach nur für Vertragspsychotherapeuten vorgesehen sei, durch den Kläger als ermächtigten Psychotherapeuten kenne, nämlich bei den Strukturzuschlägen Psychotherapie gem. Präambel 35.2. EBM, die der Kläger wie ein zugelassener Psychotherapeut auch erhalte.
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Die Klägerbevollmächtigte beantragt zuletzt,
den Honorarbescheid der Beklagten vom 11.08.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.12.2022 aufzuheben, soweit darin eine sachlich-rechnerische Berichtigung der abgerechneten Leistungen nach der GOP 35501 EBM erfolgt ist und die Beklagte zu verpflichten, an den Kläger das einbehaltene Honorar von 438,48 Euro auszuzahlen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen und hilfsweise die Berufung zuzulassen.
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Die Beklagte vertrat auch im Klageverfahren die Auffassung, der Kläger habe für die im Rahmen seiner Ermächtigung erbrachten Leistungen keinen Anspruch auf die abgesetzten Zuschläge. Dies folge aus der Verweisung in Abs. 1 der Präambel zu Abschnitt 35.2.3.2 EBM auf § 19a Abs. 1 Ärzte-ZV, der sich eindeutig ausschließlich auf zugelassenen Vertragsärzte beziehe. Die streitige Regelung im EBM sei auf Grundlage des § 87 Abs. 2c S. 8 und 9 SGB V beschlossen worden. In der amtlichen Begründung zu dieser gesetzlichen Ermächtigung komme klar zum Ausdruck, dass deren Zweck darin bestehe, durch entsprechende Bestimmungen im EBM einen finanziellen Anreiz zur Durchführung von Kurzzeittherapien für diejenigen Psychotherapeuten zu schaffen, die ihren vollen Versorgungsauftrag erfüllen und für die in der Ärzte-ZV festgelegte Mindestsprechstundenzeit von 25 Stunden für gesetzlich versicherte Patienten auch tatsächlich zur Verfügung stehen. Der (mittelbare) Ausschluss ermächtigter Psychotherapeuten sei sachgerecht. Für ermächtigte Ärzte stelle die Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung nur eine „Nebentätigkeit“ dar, ihre Haupttätigkeit liege außerhalb der vertragsärztlichen Versorgung. Schon aus zeitlichen Gründen könnten sie im Regelfall – verglichen mit den zugelassenen Ärzten – nur wenige Sprechstunden im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung anbieten. Die im Beschluss des Zulassungsausschusses getroffenen Regelungen zu den vom Kläger abrechenbaren Leistungen würden insoweit nur etwas darüber aussagen, in welchem medizinischen Bereich der Kläger aus Sicherstellungsgründen zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt wird.
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Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war die Beklagtenakte. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die nach Durchführung eines Widerspruchsverfahrens fristgemäß erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage ist zulässig und auch in der Sache begründet. Der streitgegenständliche Bescheid der Beklagten vom 11.08.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 07.12.2022 ist, was die sachlich-rechnerischen Richtigstellungen von nach der GOP 35591 EBM abgerechneten Leistungen betrifft, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
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Die Beklagte ist gemäß § 106d Abs. 2 S.1 SGB V grundsätzlich dazu berechtigt und auch verpflichtet, die sachliche und rechnerische Richtigkeit der Abrechnungen der Vertragsärzte festzustellen und damit zu prüfen, ob die Leistungen im Einklang mit den gesetzlichen, vertraglichen oder satzungsrechtlichen Vorschriften des Vertragsarztrechts – mit Ausnahme des Wirtschaftlichkeitsgebots – erbracht und abgerechnet worden sind. Die Beklagte hat danach insbesondere sicherzustellen, dass die abgerechneten Leistungen die Vorgaben des EBM-Ä erfüllen. Diese Richtigstellungsbefugnis gilt auch für den Kläger soweit er im Rahmen seiner Ermächtigung an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt (§ 95 Abs. 4 SGB V).
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Der Kläger hat Anspruch auf die Zuschläge nach der GOP 35501 EBM, die Absetzung dieser Vergütung durch die Beklagte ist nicht rechtmäßig.
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Wie von den Beteiligten vorgetragen, findet sich die GOP 35591 EBM in Abschnitt 35.2.3.2 des EBM (Zuschläge für Kurzzeittherapie), dem eine Präambel vorangestellt ist, deren Wortlaut in Ziffer 1 wie folgt lautet:
„1. Die Zuschläge nach den Gebührenordnungspositionen dieses Abschnitts sind nur für Vertragsärzte bzw. -psychotherapeuten berechnungsfähig, die für die Mindestsprechstundenanzahl gemäß § 19a Abs. 1 Ärzte-ZV zur Verfügung stehen.“
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Für die Auslegung dieser Regelung des EBM als vertragsärztlicher Vergütungsbestimmung ist nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung in erster Linie deren Wortlaut maßgeblich. Raum für eine systematische Interpretation der Regelungen des EBM ist nur dann, wenn der Wortlaut eines Leistungstatbestandes zweifelhaft ist und es einer Klarstellung bedarf. Eine entstehungsgeschichtliche Auslegung kommt bei unklaren oder mehrdeutigen Regelungen nach der Rechtsprechung des BSG ebenfalls in Betracht, kann allerdings nur anhand von Dokumenten erfolgen, in denen die Urheber der Bestimmungen diese in der Zeit ihrer Entstehung selbst erläutert haben (ausführlich dazu z. B. BSG vom 11.02.2015, B 6 KA 15/14 R, Rn. 21).
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Anders als von der Beklagten vertreten, lässt sich dem Wortlaut der Ziffer 1 der Präambel zu Abschnitt 35.2.3.2 des EBM nicht entnehmen, dass nur zugelassene Vertragsärzte und -psychotherapeuten Anspruch auf die in Abschnitt 35.2.3.2 enthaltenen Zuschläge haben und dass eine Abrechnung durch ermächtigte Ärzte ausgeschlossen ist. Der Wortlaut stellt zwei Voraussetzungen für die Abrechnung des streitigen Zuschlags auf: Bei dem abrechnenden Leistungserbringer muss es sich um einen Vertragsarzt bzw. -psychotherapeut handeln und dieser muss für die Mindestsprechstundenzeit gem. § 19a Abs. 1 Ärzte-ZV zur Verfügung stehen. Diese Voraussetzungen stellen nicht auf darauf ab, über welchen vertragsärztlichen Status der Leistungserbringer hat. Das BSG hat bereits in einer Entscheidung vom 03.03.1999 (Az. B 6 KA 18/98 R) im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit der Onkologie-Vereinbarung auf ermächtigte Ärzte ausgeführt, dass die vertraglichen Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung gem. § 95 Abs. 3 und Abs. 4 SGB V grundsätzlich zugelassene und ermächtigte Ärzte gleichermaßen binden. Etwas Anderes könne nur in Betracht kommen, wenn und soweit vertragliche Bestimmungen mit ausreichender Deutlichkeit ihre Geltung für ermächtigte Ärzte wirksam ausschlössen. Das BSG betont in dieser Entscheidung, dass weder aus der Verwendung des Begriffs „Vertragsarzt“ eine Beschränkung auf die niedergelassenen Ärzte und eine Ausgrenzung der ermächtigten Ärzte abgeleitet werden könne noch, dass aus der Verwendung von Begriffen wie Praxisräume und Praxissitz sich eine Beschränkung auf die niedergelassenen Vertragsärzte ergebe. Auch unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung ist den vertraglichen Bestimmungen vorliegend ein Ausschluss der Abrechenbarkeit der Zuschläge für Kurzzeittherapien für ermächtigte Ärzte in keinster Weise zu entnehmen. Der Wortlaut „Vertragsärzte“ schließt ermächtigte Ärzte und Psychotherapeuten mit ein. Und auch dem Verweis auf § 19a Ärzte-ZV lässt sich eine Differenzierung zwischen zugelassenen und ermächtigten Leistungserbringern nicht entnehmen. Durch die Bezugnahme auf § 19a Ärzte-ZV wird der genaue Umfang der Mindestsprechstundenzeit (dynamisch) festgelegt, was die Formulierung „Mindestsprechstundenanzahl gemäß § 19a Abs. 1 Ärzte-ZV“ zeigt. Ein gleichzeitiger Ausschluss der Abrechenbarkeit durch ermächtigte Ärzten vor dem Hintergrund, dass § 19a im VI. Abschnitt der Ärzte-ZV geregelt ist und die Ermächtigung in Abschnitt VIII der Ärzte-ZV, kann dieser Formulierung nicht entnommen werden.
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Selbst wenn der Wortlaut vorliegend keine Zweifel aufwirft, wird ergänzend darauf hingewiesen, dass auch die Entstehungsgeschichte der streitigen Zuschläge für eine Abrechenbarkeit der Leistung durch den Kläger als ermächtigten Leistungserbringer spricht. Wie von den Beteiligten vorgetragen, hat der Gesetzgeber im Jahr 2019 den Vertragspartnern in § 87 Abs. 2c SGB V die Aufnahme der streitigen Zuschläge in den EBM aufgegeben und in S. 9 dieser Vorschrift als Empfänger der Zuschläge Psychotherapeuten benannt, „die für die in § 19a Absatz 1 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte festgelegten Mindestsprechstunden für gesetzlich Versicherte tatsächlich zur Verfügung stehen“. Auch aus dem Wortlaut dieser Vorschrift ist keine Differenzierung zwischen zugelassenen und ermächtigten Psychotherapeuten zu entnehmen. Vielmehr wird durch diese Formulierung noch deutlicher, dass der Verweis auf § 19a Ärzte-ZV allein der Definition und Ausfüllung des Begriffs „Mindestsprechstunden“ dient. Schließlich spricht auch die Systematik des EBM dafür, dass der Kläger Anspruch auf die streitigen Leistungen hat. Zutreffend hat die Klägerseite darauf hingewiesen, dass der Status der Ermächtigung nicht hindert, dass der Kläger die Strukturzuschläge Psychotherapie erhält, die nach der Präambel zu Abschnitt 35.2 in Absatz 2 ebenfalls auf den Tätigkeitsumfang des Leistungserbringers abstellen.
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Laut dem von der Beklagten mitgeteilten Inhalt des Arztregistereintrags stand der Kläger im Quartal 1/2022 seinen Patienten auch für die Mindestsprechstundenanzahl zur Verfügung, so dass die Voraussetzungen für die Abrechenbarkeit der GOP 3559 EBM auch in dieser Hinsicht erfüllt sind.
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Die Entscheidung über die Kosten basiert auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 und 3 VwGO.
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Die Berufung war gem. § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen.