Titel:
Asylrecht (Brasilien) - zur Verfolgungsgefahr durch nichtstaatliche Akteure
Normenketten:
AsylG § 3, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3c Nr. 3, § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, § 60 Abs. 7
Leitsätze:
1. Bei der Frage, ob der Asylantragsteller Mitglied einer sozialen Gruppe iSd § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist, kommt es darauf an, ob eine Gruppe durch die übrige Gesellschaft als eine abgegrenzte Gruppe aufgrund bestimmter, diese gemeinsam prägenden Charakteristika, Eigenschaften, Aktivitäten, Überzeugungen, Interessen oder Zielvorstellungen wahrgenommen wird. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die brasilianische Polizei ist in der Lage und willens, Schutz vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Falle der Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure besteht in Brasilien die grundsätzliche Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative iSd § 3e AsylG. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylverfahren, Herkunftsland Brasilien, Asyl, Brasilien, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Akteure, inländische Fluchtalternative
Fundstelle:
BeckRS 2024, 50432
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Kläger sind brasilianische Staatsangehörige. Sie reisten nach eigenen Angaben am 20. Februar 2022 gemeinsam aus den Niederlanden kommend auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten hier am 25. März 2022 Asylanträge.
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Nach vorheriger persönlicher Anhörung am 17. und 18. November 2022 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 4. April 2024, den Klägern zugestellt am 9. April 2024, die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) und auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes (Nr. 3) ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Kläger wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Brasilien oder in einen anderen Staat angedroht, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Die Kläger haben am 22. April 2024 zur Niederschrift des Urkundsbeamten Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben. Beantragt wird zuletzt,
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den Bescheid der Beklagten vom 4. April 2024 in den Nr. 1 sowie Nr. 3 bis 6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft oder hilfsweise den subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise festzustellen, dass bei ihnen Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Brasiliens vorliegen.
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Die Beklagte übersandte die Behördenakten und beantragt
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Mit Beschluss vom 4. November 2024 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und der sonstigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist sowohl im Hauptantrag als auch in den Hilfsanträgen unbegründet.
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Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des hilfsweise angestrebten subsidiären Schutzes. Gleiches gilt für die noch weiter hilfsweise beantragte Feststellung, dass bei ihnen ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Brasiliens besteht. Vielmehr erweist sich der streitbefangene Bescheid des Bundesamts vom 4. April 2024 als rechtmäßig (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Die haben keinen Anspruch auf Zuerkennung internationalen Schutzes nach § 1 Abs. 1 Nr. 2, §§ 3 ff. AsylG.
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Der Vortrag der Kläger ist nicht geeignet, eine Verfolgung oder das Drohen eines ernsthaften Schadens in Brasilien i.S.d. §§ 3 ff. AsylG ausreichend zu belegen.
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1.1 Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG liegen bei den Klägern nicht vor.
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Ein Verfolgungs- oder Lebensschicksal, das die Zuerkennung einer Rechtsstellung als Flüchtling rechtfertigen würde, ist aus dem Vortrag der Kläger nicht ableitbar.
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Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
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Die Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Der in dem Tatbestandsmerkmal „… aus der begründeten Furcht vor Verfolgung …“ des Art. 2 Buchst. d der RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG übernommen worden ist, orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Er stellt auf die tatsächliche Gefahr ab („real risk“; vgl. EGMR, Große Kammer, U.v. 28.2.2008 – Nr. 37201/06, Saadi – NVwZ 2008, 1330); das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 18.4.1996 – 9 C 77.95, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 4; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07, ZAR 2008, 192; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09, BVerwGE 136, 377; U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10, BVerwGE 140, 22; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – NVwZ 2013, 936). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12, NVwZ 2013, 936; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 – BVerwGE 89, 162).
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Das Gericht muss dabei sowohl von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Schadens die volle Überzeugung gewinnen. Dem persönlichen Vorbringen des Rechtssuchenden und dessen Würdigung kommt dabei besondere Bedeutung zu. Es ist Sache des Ausländers, die Gründe seiner Verfolgung und Bedrohung in schlüssiger Form vorzutragen (vgl. §§ 15, 25 AsylG). Dabei hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmige Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei dessen Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung oder Bedrohung begründet ist, sodass ihm nicht zuzumuten ist, in das Herkunftsland zurückzukehren.
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Gemessen daran kann dem Vortrag der Kläger zur Überzeugung des Gerichts nicht entnommen werden, dass sie von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren (vgl. § 3c AsylG) vor ihrer Ausreise aus Brasilien aus für den Flüchtlingsschutz relevanten Gründen verfolgt wurden bzw. bei einer Rückkehr nach Brasilien mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit von diesen verfolgt werden würden. Das Gericht geht davon aus, dass für die Kläger im Falle der Rückkehr keine Verfolgungsgefahr besteht.
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Dem Vortrag der Kläger zu den angeblich maßgeblich fluchtauslösenden Umständen ist bereits keine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung zu entnehmen. Der Vortrag der Kläger ist unglaubhaft. Er erweist sich einerseits als oberflächlich und erheblich lebensfremd und andererseits auch als gesteigert und an zentralen Stellen widersprüchlich. Es ist zur Überzeugung des Gerichts bereits gänzlich lebensfremd, dass der Kläger zu 1. sein Glücksspiel mit Geldmitteln finanziert haben will, die er von verschiedenen Personen, die er angeblich über I. kennengelernt hat, geliehen habe und die in ihn „investiert“ hätten. Es widerspricht jeder Lebenserfahrung, dass Geldverleiher in Glücksspieler „investieren“ würden, die ihnen im Wesentlichen nur über soziale Medien bekannt sind. Auch ist es völlig unschlüssig, dass an den Kläger zu 1. Geld verliehen worden wäre, ohne dass er die dafür notwendigen materiellen Sicherheiten besitzt bzw. nachweisen konnte. In besonderer Weise unglaubhaft ist es, dass der Kläger zu 1. weder die Zahl der Geldverleiher noch deren genaue Namen noch den zur Rückzahlung geschuldeten (Gesamt-)Betrag überhaupt konkret benennen kann. Zudem erweist sich der klägerische Vortrag, auch unabhängig vom Vorstehenden bereits die Entscheidung tragend, ohnehin als in erheblicher Weise und an zentraler Stelle widersprüchlich. Dies zum einen deswegen, weil der Kläger zu 1. angibt, er habe alle Schulden beglichen, während die Klägerin zu 2. von noch offenen Schulden spricht. Zum anderen führt der Kläger zu 1. an, er habe das Geld in Casinos verspielt, während die Klägerin zu 2. von Fußballwetten in Wettbüros spricht. Ohnehin erschließt sich dem Gericht auch nicht, weshalb Geldverleiher dem Kläger zu 1. oder seiner Familie noch nachstellen sollten, wenn er, so jedenfalls nach seinen eigenen Angaben, alle Schulden bereits zurückgezahlt hat. Auch den angeblichen Überfall auf ihr Haus und die gegen sie ausgesprochenen Drohungen schildern die Kläger im Übrigen detailarm und letztlich nur in Allgemeinplätzen, ohne Täter, Tatabläufe und -umstände konkret und lebensnah auch für das Gericht nachvollziehbar zu machen. Soweit die Kläger des Weiteren erstmals in der mündlichen Verhandlung – ohne dass es entscheidend darauf ankäme auch unter Verstoß gegen die mit Gerichtsschreiben vom 6. November 2024 gesetzte Frist nach § 87b Abs. 3 VwGO – einen USB-Stick mit angeblichen Fotos von Drohungen bzw. Drohbriefen vorgelegt haben, haben sie keinerlei Aufschluss dazu geben, um welches konkrete Material es sich dabei handeln soll und inwieweit dieses als Beleg ihres bisherigen Vortrags sachdienlich sein könnte. Schließlich stellt die Vorlage angeblich elektronischer Nachweise einer – wie auch immer gearteten – Bedrohung auch ein erheblich gesteigertes und zur Überzeugung des Gerichts allein asyltaktisch motiviertes Vorgehen der Kläger dar, die zudem jede Begründung dafür schuldig geblieben sind, warum dieser Datenbestand nunmehr erstmals in der mündlichen Verhandlung und nicht bereits vorab vorgelegt wurde. Das Gericht kann – wie hier – von einer weiteren Ermittlung des Sachverhalts absehen, wenn der zu belegende Verfolgungsvortrag eines Asylbewerbers in wesentlichen Punkten bereits unzutreffend oder in nicht auflösbarer Weise widersprüchlich ist (z.B. BVerwG, B.v. 20.7.1998 – 9 B 10/98 – juris Rn. 6). So liegt der Fall auch hier. In einer Gesamtschau stellen sich die Angaben der Kläger, soweit sie überhaupt der Sache nach für das Gericht nachvollziehbar sind, als lebensfremd, unsubstantiiert und widersprüchlich und mithin gerade in ihrer Gesamtschau als unglaubhaft dar.
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Unabhängig davon handelte es sich bei der vorgebrachten Bedrohung durch Geldverleiher, deren Nachstellung die Kläger fürchten, selbst bei Wahrunterstellung um kriminelles Unrecht, das keine Anknüpfung an die für die Flüchtlingseigenschaft maßgeblichen Merkmale des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG erkennen lässt und damit keine begründete Furcht vor Verfolgung wegen Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe belegen kann. Insbesondere wird der Kläger zu 1. nicht dadurch Mitglied einer sozialen Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, wenn er aufgrund von Verstrickungen in Geldverleih und Glücksspiel Nachstellungen von Kriminellen gegen sich und seine Familie fürchtet. Eine bestimmte soziale Gruppe muss als solche innerhalb der sie umgebenden Gesellschaft bestimmbar sein und eine fest umrissene Identität aufweisen. Es kommt danach darauf an, ob eine Gruppe durch die übrige Gesellschaft als eine abgegrenzte Gruppe aufgrund bestimmter, diese gemeinsam prägenden Charakteristika, Eigenschaften, Aktivitäten, Überzeugungen, Interessen oder Zielvorstellungen wahrgenommen wird (vgl. aktuell z.B. VG Göttingen, U.v. 5.10.2021 – 3 A 83/20 – juris). Die Kläger weisen in Glückssiel und Geldverleih verstrickte Personen bzw. als Familienmitglieder einer solchen Person keine ausreichend abgrenzbare soziale Gruppenidentität auf.
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Im Übrigen bedarf es, wenn, wie hier, eine Verfolgung von privater Seite geltend gemacht wird, einer eingehenden Prüfung, inwieweit Schutz gegen Verfolgung durch staatliche Akteure erlangt werden kann. Die jedenfalls sinngemäße pauschale Behauptung der Kläger, es sei von der brasilianischen Polizei und Justiz keine Hilfe zu erwarten, begründet nicht die nach § 3c Nr. 3 AsylG erforderliche Annahme, die in § 3c Nr. 1 und 2 AsylG genannten Akteure seien erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens, Schutz vor Verfolgung zu bieten. Dies ist mit Blick auf die Erkenntnislage in Brasilien nicht der Fall (vgl. z.B. Home Office UK, Country Policy and Information Note Brazil: Actors of protection, November 2020, S. 8 und 15 ff.). Ein vollständiger Schutz gegen Verfolgungsgefahren durch nichtstaatliche Akteure wird ohnehin nicht geschuldet. Es kann nicht verlangt werden, dass ein Staat sämtliche Risiken beseitigt. Die Forderung nach einem lückenlosen Schutz ginge – wie allgemein in Bezug auf Übergriffe krimineller Art – an einer wirklichkeitsnahen Einschätzung der Effizienz staatlicher Schutzmöglichkeiten vorbei. Maßgeblich ist ein pragmatischer Standard der vom Heimatstaat vernünftigerweise gegenüber der Bevölkerung geschuldeten Schutzpflichten. Selbst wenn in Einzelfällen Bedrohungen und/oder Übergriffe nicht ausgeschlossen werden können, ist ein ausreichender Schutz so lange anzunehmen, als eine im Einzelfall fehlende Schutzbereitschaft nicht Ausdruck einer grundsätzlich-systemischen Schutzunwilligkeit oder Schutzunfähigkeit des Staates gegenüber solchen Gefahren ist (vgl. zusammenfassend Hailbronner, Ausländerrecht, § 3d AsylG, Rn. 18 m.w.N. der Rechtsprechung). Nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung (vgl. die insoweit auf die Neuregelung des Ausländer- und Asylrechts vom 30.7.2004 übertragbaren Entscheidungen BVerwG, U.v. 03.12.1985, BVerwGE 72, 269 und U.v. 18.2.1986, BVerwGE 74, 41) wie auch nach aktuell geltendem Recht ist es ausreichend, wenn Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zum Beispiel durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Verfolgungshandlungen zu verhindern und der Betroffene Zugang zu diesem Schutz hat (vgl. § 3d Abs. 2 AsylG i.V.m. § 4 Abs. 3 AsylG). Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung des Gerichts in Brasilien, wie ausgeführt (vgl. Home Office UK, aaO), gegeben.
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Wiederum unabhängig vom vorstehend Ausgeführten selbstständig die vorliegende Entscheidung tragend, ist festzustellen, dass es zur Überzeugung des Gerichts auch lebensfremd wäre, dass die Kläger – ihren Vortrag an dieser Stelle erneut als wahr unterstellt – im Falle einer Rückkehr nach einem nunmehr fast dreijährigen Auslandsaufenthalt in Brasilien landesweit und ohne jede Ausweichmöglichkeit, insbesondere in den Großstädten, von solchen Kriminellen, deren Nachstellung sie letztlich fürchten, aufgespürt und erneut bedroht werden könnten. Selbst im Falle einer unterstellten Verfolgungslage bestünde für die Kläger in Brasilien eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 3e AsylG (vgl. dazu VG München, U.v. 8.12.2021 – M 31 K 19.30364 – juris Rn. 32 ff. m.w.N.). Einem Ausländer wird die Asylberechtigung oder internationaler Schutz nicht zuerkannt, wenn ihm in einem Teil seines Herkunftslandes kein ernsthafter Schaden droht oder er Zugang zu Schutz vor einem ernsthaften Schaden hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Nach der Auskunftsklage (vgl. Home Office UK, Country Information Note Brazil: Background information including internal relocation, November 2020, S. 6 ff.; vgl. auch VG München, U.v. 15.12.2023 – M 31 K 23.32083 – juris Rn. 21) besteht im Falle der Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure in Brasilien die grundsätzliche Möglichkeit einer inländischen Niederlassungsalternative. Die Umstände des Einzelfalls gebieten keine Abweichung hiervon. Selbst unterstellt, die Kläger wären in ihrer Heimatstadt durch Kriminelle bedroht, führt dies nicht zum Ausschluss der Möglichkeit des Erlangens internen Schutzes in Brasilien.
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Eine weitere Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 VwGO) war nicht geboten, da die Kläger es unter Verstoß gegen ihre Mitwirkungslast unterlassen hat, von sich aus einen ausreichend schlüssigen und widerspruchsfreien Sachverhalt zu schildern (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 86 Rn. 47). Nach Auffassung des Gerichts haben sich die Kläger im Frühjahr 2022 aus ungeklärten, indes nicht verfolgungsrelevanten Gründen zu einem Verlassen Brasiliens entschlossen; eine schutzrelevante Bedrohung in ihrer Heimat ist nicht gegeben. Bei einer Gesamtschau des klägerischen Vortrags erweist sich dieser als unglaubhaft. Es drängt sich dem Gericht der Eindruck auf, dass die Kläger zur angeblichen Bedrohung im Wesentlichen nicht ein von ihnen selbst erlebtes, sondern ein in weiten Teilen erfundenes Geschehen schilderten. Selbst im Falle einer Wahrunterstellung würde es sich zudem um keine flüchtlingsrelevante Verfolgung handeln. Auch könnten die Kläger einer etwaigen Bedrohung innerhalb Brasiliens örtlich ausweichen.
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Eine Verfolgung in Brasilien durch staatliche oder insbesondere nichtstaatliche Akteure steht somit zur Überzeugung des Gerichts für die Kläger nicht zu befürchten.
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1.2 Der Vortrag der Kläger ist auch nicht geeignet, das Drohen eines ernsthaften Schadens in Brasilien i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG ausreichend zu belegen.
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Subsidiär schutzberechtigt ist, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe (Satz 2 Nr. 1), der Folter o-der unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (Satz 2 Nr. 2) oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlich bewaffneten Konflikts (Satz 2 Nr. 3). Es ist vorliegend nicht ersichtlich, dass einer dieser Tatbestände einschlägig wäre. Die Kläger haben nicht vorgetragen, dass ihnen im Falle einer Rückkehr nach Brasilien ein ernsthafter Schaden in Gestalt der Verhängung oder der Vollstreckung der Todesstrafe, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung oder einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlich bewaffneten Konflikts drohen könnte.
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Allenfalls käme hier eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Kläger infolge willkürlicher Gewalt durch kriminelle Banden, Gruppen und Milizen in Betracht. Auch in der hier allein zu erwägenden Variante des innerstaatlichen bewaffneten Konflikts bedarf es dazu einer bewaffneten Auseinandersetzung zwischen Streitkräften, die sich von der bloßen willkürlichen Gewaltanwendung des Staates oder einzelner Gruppen gegen Zivilpersonen unterscheidet. Notwendig dafür ist ein Aufeinandertreffen entweder der regulären Streitkräfte mit bewaffneten Gruppen oder zwischen zwei oder mehreren bewaffneten Gruppen (vgl. EuGH, U.v. 30.1.2014 – C 285/12 – juris). In Brasilien fehlt es an einem solchen bewaffneten Konflikt, da sich keine Streitkräfte im vorgenannten Sinne gegenüberstehen. Die teilweise in erheblicher Weise, vor allem in Favelas verschiedener Großstädte präsenten kriminellen Banden, Gruppen und Milizen treten zwar bewaffnet auf und versuchen auf diese Art und Weise, lokale und regionale Machtstrukturen aufzubauen und durchzusetzen, treten aber nicht im Sinne einer Bürgerkriegspartei gegen das staatliche Gewaltmonopol auf. Es handelt sich vielmehr um mafiös strukturierte Ausprägungen der Organisierten Kriminalität, deren erhebliches Gewaltpotenzial sich gegen deren kriminellen Zielen widerstreitende Interessen verfolgende Bürger Brasiliens im Allgemeinen richtet (vgl. aktuell z.B. Home Office UK, Country Information Note Brazil: Background information including internal relocation, November 2020, passim).
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Wie vorstehend ausgeführt, ist der individuelle Vortrag der Kläger zu einer Bedrohung durch Kriminelle bereits nicht ansatzweise glaubhaft, sodass auch keine weiteren Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen. Den Klägern droht zur Überzeugung des Gerichts weder aufgrund der Sicherheitslage noch der persönlichen Situation als Auslandsheimkehrer ein ernsthafter Schaden. Zudem bestünde, wie ebenfalls bereits ausgeführt, für sie eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG.
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2. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG scheiden unter Berücksichtigung der allgemeinen Situation in Brasilien und der individuellen Umstände der Kläger ebenfalls aus.
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Im Hinblick auf § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK reicht der Umstand, dass die Lage des Betroffenen und seine Lebensumstände im Fall einer Aufenthaltsbeendigung erheblich beeinträchtigt würden, allein nicht aus, einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen – hier nicht vorliegenden – Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen (vgl. EGMR, U.v. 27.5.2008 – 26565/05 – NVwZ 2008, 1334; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris; B.v. 25.10.2012 – 10 B 16/12 – juris). Unabhängig davon, in welchen Fällen existenzbedrohende Armut im Sinne von Art. 3 EMRK relevant sein kann, liegen Anhaltspunkte hierfür nicht vor.
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Die Kläger zu 1. und 2. sind volljährig und arbeitsfähig; die normative Vermutung nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG ist nicht widerlegt. Hinweise darauf, dass die Kläger zu 1. und 2. nach einer Rückkehr – allein oder gegebenenfalls mit familiärer Unterstützung, namentlich durch die im Heimatland lebende Familie, vor allem dem Vater des Klägers zu 1., einem ehemaligen Fußballprofi, und auch die in Deutschland wohnhafte Großmutter – nicht in der Lage sein werden, das Existenzminimum für sich und ihre beiden Kinder zu sichern, sind auch im Übrigen nicht ersichtlich. Es ist nichts dafür erkennbar, dass die Kläger zu 1. und 2., die in ihrer Heimat aufgewachsen und sozialisiert sind, dort bereits gearbeitet haben und zudem über Auslandserfahrung verfügen, nicht in der Lage wären, im Falle der Rückkehr den Lebensunterhalt für die Familie zumindest „mit ihrer Hände Arbeit“, wenn gegebenenfalls auch auf eher niedrigem Niveau, so doch noch ausreichend zu bestreiten. Bessere wirtschaftliche oder soziale Perspektiven in Deutschland begründen im Übrigen kein Abschiebungsverbot.
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Auch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Danach soll von einer Abschiebung abgesehen werden, wenn im Zielstaat für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
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Bei den in Brasilien vorherrschenden Lebensbedingungen handelt es sich um eine Situation, der die gesamte Bevölkerung ausgesetzt ist, weshalb Abschiebeschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausschließlich durch eine generelle Regelung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt wird. Eine extreme Gefährdungslage, bei der aufgrund der Schutzwirkungen der Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausnahmsweise dann nicht greift (vgl. BVerwG, U.v. 17.10.1995 – 9 C 9/95 – juris; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris), wenn ein Einzelner gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, liegt nicht vor. Dies hat das Bundesamt im streitbefangenen Bescheid unter Nr. 4 der Begründung zutreffend festgestellt; hierauf wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 3 AsylG).
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3. Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie gegen die Entscheidung über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 AufenthG bestehen schließlich ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Auf die Feststellungen in Nr. 5 und 6 der Begründung des streitbefangenen Bescheids wird gemäß § 77 Abs. 3 AsylG Bezug genommen.
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Sonach war die Klage mit der Kostenfolge des §§ 154 Abs. 1, 159 Satz 2 VwGO abzuweisen; das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.