Inhalt

VG München, Urteil v. 13.05.2024 – M 8 K 23.6069
Titel:

Zulässigkeit einer Werbeanlage

Normenketten:
BauGB § 30 Abs. 3, § 31 Abs. 2, § 34
BayBO Art. 8, Art. 14, Art. 68 Abs. 1 S. 1
VwGO § 113 Abs. 5
Leitsätze:
1. In Bezug auf Werbeanlagen entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass sie ihren Anbringungsort verunstalten, wenn sie die entsprechende Wand zu einem Werbeträger umfunktionieren oder einem vorhandenen ruhigen Erscheinungsbild einen Fremdkörper aufsetzen und diese damit empfindlich stören. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das harmonische Gesamtbild wird regelmäßig erst dann beeinträchtigt, wenn eine Werbeanlage sich dem Charakter des Straßen- und Ortsbildes, also seiner Umgebung, nicht einfügt, sondern so aufdringlich wirkt, dass sie als wesensfremdes Gebilde zu ihr in keiner Beziehung mehr steht. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Störung iSv Art. 8 S. 3 BayBO ist nicht schon durch Häufung allein, dh durch eine bestimmte Zahl zB von räumlich dicht nebeneinander angebrachten Werbeschildern gegeben, sondern erst, wenn eine Häufung gleicher oder miteinander unvereinbarer Werbeanlagen vorliegt, die auf den Betrachter im Gesamteindruck oder im Verhältnis zur Umgebung störend wirken und damit als lästig empfunden werden. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs ist durch eine bauliche Anlage konkret gefährdet (Art. 14 Abs. 2 BayBO), wenn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Verkehrsunfall oder doch Verkehrsbehinderungen in überschaubarer Zukunft zu erwarten sind. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verpflichtungsklage, Werbeanlage (hinterleuchtete Mega-Light-Anlage mit Wechselwerbung als Wandanlage), Verstoß gegen Verunstaltungsverbot (verneint), störende Häufung (verneint), Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs (verneint), bauplanungsrechtliche Zulässigkeit, Befreiung von der übergeleiteten Baulinie, Gebot der Rücksichtnahme, Sondernutzungserlaubnis, Werbeanlage, Verunstaltung, Straßen- und Ortsbild, störende Häufung, Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, Rücksichtnahmegebot, Baulinie, Befreiung, Ermessen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 05.09.2025 – 2 ZB 24.1143
Fundstelle:
BeckRS 2024, 50025

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 17. November 2023, Aktenzeichen ..., verpflichtet, über den Bauantrag der Klägerin vom 16. Dezember 2022 (Eingang bei der Beklagten) nach Plan-Nr. ... unte Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin betreibt ein Unternehmen für die Vermarktung von Außenwerbung und begehrt mit ihrer Klage die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer Werbeanlage.
2
Mit Bauantrag vom 16. Dezember 2022 (Eingang bei der Beklagten, PlanNr. …) beantragte die Klägerin die Erteilung einer Baugenehmigung für die Errichtung einer hinterleuchteten Mega-Light-Anlage mit Wechselwerbung im Zehn-Sekunden-Takt als Wandanlage mit den Abmessungen von 3,895 m x 2,784 m und einer Tiefe von 0,278 m (alle Angaben inkl. Rahmen) bzw. einer Plakatfläche von rd. 8,32 m² (3,416 m x 2,436 m). Die Anlage soll an der Nordfassade des sechsgeschossigen Bestandsgebäudes W …straße …, FlNr. ... Gem. Sektion … (im Folgenden: Baugrundstück) im Bereich des ersten Obergeschosses bis zur Unterkannte der Fenster des zweiten Obergeschosses angebracht werden. Die Unterkante der Werbeanlage soll dabei in einer Höhe von 4,50 m über dem Gehweg zu liegen kommen.
3
Ein qualifizierter Bebauungsplan besteht nicht. Durch einfachen, übergeleiteten Bebauungsplan ist für das Baugrundstück und dessen Umgebung eine vordere Baulinie festgesetzt.
4
Mit Bescheid vom 17. November 2023, der Klägerin ausweislich der in den Behördenakten enthaltenen Postzustellungsurkunde zugestellt am 22. November 2023, lehnte die Beklagte den Bauantrag ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Werbeanlage überschreite die festgesetzte straßenseitige Baulinie. Eine Befreiung könne unter Ausübung pflichtgemäßen Ermessens nicht erteilt werden. Es liege eine besondere Platzsituation kurz vor der M. Innenstadt vor, die bereits durch mehrere Eigenwerbeanlagen als auch durch bedeutende Baudenkmäler ( …post) geprägt sei. Eine gewerbliche Fremdwerbeanlage würde von allen Platzbereichen beidseitig der L …straße wahrgenommen werden, das Ortsbild ungebührlich belasten, Art und Maß der hier zulässigen Anlagen überschreiten sowie den gesamten Kreuzungsbereich optisch dominant beeinflussen. Die Fremdwerbung würde in ihren Ausmaßen, aber auch auf Grund des Wechsels der Werbebotschaften an diesem Platz weithin sichtbar einen negativen Bezugsfall für die Gegend darstellen. Die Errichtung der Werbeanlage widerspreche den Grundzügen der Planung und sei städtebaulich nicht vertretbar. Im Übrigen sei eine Befreiung auch nicht beantragt worden. Zudem widerspreche die Anlage den Bestimmungen des § 15 Abs. 1 Satz 1 BauNVO, da sie zu einer unzumutbaren Beeinträchtigung des Hauses W …straße … und der Umgebung führte und dort die Wohnqualität einschränke. Die Werbeanlage verstoße ferner gegen Art. 8 Sätze 1, 2 BayBO (i.V.m. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO). Im Gegensatz zur reich befensterten Fassade habe das Haus im schmalen Bereich des Anbringungsortes eine eher zurückhaltende Gestaltung. Dieser Ruhepol bilde ein Gegengewicht zur übrigen Lochfassade. Die bewusste Gestaltung habe, bedingt durch Ecklage und Anordnung im Straßengefüge, eine Fernwirkung. Weder Größe noch Form der geplanten Werbeanlage respektierten die bestehenden Gestaltungsverhältnisse. Auch die Fensteranordnungen würden nicht beachtet. Das Straßen- und Stadtbild würde durch die Auffälligkeit und Helligkeit der mit 10-sekündigem Bildwechsel ausgestatteten Werbeanlage unangenehm verfremdet und damit verunstaltet werden. Wegen der städteräumlichen Platzsituation habe die Werbeanlage zudem eine verstärkte Fernwirkung, die rein gestalterisch in den nahen Ruhezonen nicht befürwortet werden könne. Darüber hinaus liege eine unzulässige störende Häufung vor. Direkt darunter sei eine Apothekenwerbung, direkt darüber eine Hotelwerbung vorhanden. Der Gebäudebereich würde zu einer litfaßsäulenartigen Werbewand umgewandelt. Unter dem Gebäudevordach seien zahlreiche Eigenwerbeanlagen der dort ansässigen Geschäfte vorhanden. Die geplante Werbeanlage beeinträchtige darüber hinaus die Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs. Der Standort befinde sich kurz hinter dem Kreuzungsschwerpunkt der H …-/L …straße und direkt an der Einmündung der W …straße in die H …straße. Auch die Ein- und Ausfahrt eines Taxistandes liege dort. Durch die Aufweitung der H …straße direkt vor der Anlage würde die Werbeanlage auch von Westen, aus der L …- und …straße kommend, deutlich wahrzunehmen sein. Es gebe dort außerdem Busverkehr und – wegen des dortigen U-Bahnabganges – regen Fußgängerbetrieb und Radfahrverkehr. Durch Veranstaltungen auf der nahen …wiese gebe es am betroffenen Kreuzungsschwerpunkt auch saisonal wechselnde mobile Werbeanlagen und Verkehrshinweise. Durch die wechselnden Bilder werde vom Straßenverkehr zu stark abgelenkt. Im „Klinikviertel M.“ komme es zudem zu vermehrten Noteinsätzen von Krankenwägen von und zu den Kliniken. Auch die nahe Hauptfeuerwache an der B …straße rücke in ihren Noteinsätzen in alle südlicheren Stadtviertel vornehmlich über die L …straße und den …platz als Hautverbindung aus. Die geplante Werbeanlage würde unmittelbar auf den Fahrverkehr auf der H …- und W …straße in beiden Richtungen, aber auch in die sehr nahe querende L …straße einwirken. Dabei bestehe die Gefahr, dass durch die Werbeanlage abgelenkte Verkehrsteilnehmer die an der Kreuzung mit der L …straße für sie geltenden Lichtsignale oder Noteinsatzfahrzeuge missachten könnten und es in Folge im Kreuzungsbereich zu Verkehrsunfällen komme. Auch bestehe die Gefahr, dass Kraftfahrzeugführer bei Abbiegevorgängen in alle hier beteiligten Straßen durch die Werbeanlage abgelenkt würden und nicht die erforderliche Aufmerksamkeit auf querende Fußgänger und Radler aufbrächten. Auch die erforderliche Sondernutzungserlaubnis würde aus Sicht der Bezirksinspektion wegen der vorgenannten erhöhten Unfallgefahr versagt werden. Damit könne auch eine Baugenehmigung nicht erteilt werden. Auf den Bescheid und seine Begründung wird im Übrigen Bezug genommen.
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Mit Schriftsatz vom 19. Dezember 2023, beim Verwaltungsgericht München eingegangen am selben Tag, ließ die Klägerin durch ihren Bevollmächtigten Klage erheben und beantragt,
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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 17. November 2023, Az.: …, zu verpflichten, der Klägerin die begehrte Baugenehmigung zu erteilen.
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Eine Klagebegründung wurde angekündigt, erfolgte jedoch nicht.
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Die Beklagte legte die Behördenakten vor und beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die beantragte Werbeanlage sei bereits planungsrechtlich unzulässig, da kein Anspruch auf Erteilung einer Befreiung vom festgesetzten Bauliniengefüge bestehe. Gründe für eine Ermessensreduzierung auf Null seien weder vorgetragen noch ersichtlich. Wegen der negativen Bezugsfallwirkung liege ein Verstoß gegen die Grundzüge der Planung vor. Ferner sei keine städtebauliche Vertretbarkeit gegeben. Bauordnungsrechtlich verstoße die Anlage gegen Art. 8 und Art. 14 BayBO. Auch eine Sondernutzungserlaubnis könne nicht erteilt werden, da öffentliche Belange und Interessen des Gemeingebrauchs entgegenstünden, insbesondere, da die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs gefährdet wäre.
11
Das Gericht hat am 13. Mai 2024 einen Augenschein und anschließend eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Auf die hierzu gefertigten Protokolle wird verwiesen.
12
Bereits mit Bescheid vom 16. August 2006 (Az.: …) hatte die Beklagte einen früheren Bauantrag der Klägerin auf Erteilung einer Baugenehmigung für eine Mega-Light-Anlage (3,806 m x 2,846 m, einschl. Rahmen) mit nahezu identischem Anbringungsort abgelehnt. Die hiergegen erhobene Verpflichtungsklage (M 8 K 06.2597) wurde in der mündlichen Verhandlung am 9. Oktober 2006 von der Klagepartei zurückgenommen, nachdem das Gericht mitgeteilt hatte, dass die vorgesehene Werbeanlage am geplanten Anbringungsort nach seiner vorläufigen Rechtsauffassung verunstaltend sei und zu einer unzulässigen störenden Häufung führen würde. Den vorgelegten Behördenakten einschließlich der Niederschrift über den gerichtlichen Augenschein und die mündliche Verhandlung lässt sich entnehmen, dass sich zum damaligen Zeitpunkt an dem fensterlosen Wandteil der Nordfassade des streitgegenständlichen Gebäudes in Höhe des vierten und fünften Obergeschosses eine „…-Werbung“ mit Ausmaßen von 3 m x 3 m und in östlicher Richtung, zwischen dem zweiten und dritten Obergeschoss eine hervortretende Eigenwerbung für ein damals im Erdgeschoss befindliches Brillengeschäft in Form einer auf der Wand zwischen den Fensterreihen aufgebrachten Brille vorhanden waren. Des Weiteren befanden sich auf dem Vordach in östlicher Richtung verschiedene beleuchtbare Werbeschriften für die seinerzeit im Erdgeschoss ansässigen Geschäfte. Im Zeitpunkt des gerichtlichen Augenscheins am 13. Mai 2024 waren die vorgenannten Anlagen nicht mehr vorhanden.
13
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und zum Vorbringen der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
14
Die zulässige Klage erweist sich nur teilweise als begründet. Sie hat insoweit Erfolg, als der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 17. November 2023 aufzuheben und diese zu verpflichten war, über den Bauantrag der Klägerin vom 16. Dezember 2022 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden (vgl. zu dem im Verpflichtungsantrag regelmäßig enthaltenen Antrag auf Neuverbescheidung: BVerwG, U.v. 31.3.2004 – 6 C 11/03 – BVerwGE 120, 263-276, juris Rn. 43; vgl. ferner: Schmidt-Kötters in: BeckOK VwGO, 69. Edition Stand: 1.1.2024, § 42 Rn. 62 m.w.N.). Die Klägerin hat zum Entscheidungszeitpunkt allerdings keinen Anspruch auf Erteilung der beantragten Baugenehmigung, da hierfür noch im Ermessen der Beklagten stehenden Entscheidungen (Befreiung vom übergeleiteten Bauliniengefüge, § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 31 Abs. 2 BauGB sowie Sondernutzungserlaubnis) erforderlich sind und das Ermessen insoweit nicht auf Null reduziert ist, Art. 59 Satz 1 BayBO, Art. 68 BayBO i.V.m. § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Daher war die Klage im Übrigen als unbegründet abzuweisen.
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Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BayBO hat der Bauherr einen Anspruch auf Erteilung der Baugenehmigung, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Nach Art. 59 BayBO prüft die Bauaufsichtsbehörde die Übereinstimmung mit den Vorschriften über die Zulässigkeit der baulichen Anlagen nach den §§ 29 ff. BauGB und den Regelungen örtlicher Bauvorschriften im Sinne des Art. 81 Abs. 1 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO), beantragte Abweichungen im Sinne des Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO (Art. 59 Satz 1 Nr. 2 BayBO) sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird (Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO). Letzteres ist im vorliegenden Verfahren deswegen der Fall, weil die erforderliche straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis nach Art. 21 Satz 1 BayStrWG wegen der Baugenehmigungsbedürftigkeit des Vorhabens entfällt.
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Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO darf die Bauaufsichtsbehörde den Bauantrag auch ablehnen, wenn das Bauvorhaben gegen sonstige öffentlich-rechtliche Vorschriften verstößt.
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Entgegen der Auffassung der Beklagten liegt kein Verstoß gegen nicht zum Prüfprogramm gehörende öffentlich-rechtliche Vorschriften vor, der die Beklagte gemäß Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO zur Ablehnung der beantragten Genehmigung berechtigen würde (siehe nachfolgend Ziffer 1.). Soweit das Prüfprogramm der Bauaufsichtsbehörde im vorliegenden vereinfachten Genehmigungsverfahren reicht (Art. 59 Satz 1 BayBO), überschreitet das – im Übrigen planungsrechtlich zulässige -Vorhaben zwar die maßgebliche Baulinie, insoweit liegen jedoch die Voraussetzungen einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB vor (vgl. nachfolgend Ziffer 2.). Die Ablehnung der Sondernutzungserlaubnis (Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO i.V.m. Art. 18, 21 BayStrWG) erfolgte ebenfalls fehlerhaft (vgl. nachstehend Ziffer 3.). Befreiung und Sondernutzungserlaubnis stehen im – vorliegend nicht auf Null reduzierten – Ermessen der Behörde, die davon bisher nur fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, § 114 VwGO. Der Klägerin steht daher ein Anspruch auf eine fehlerfreie Entscheidung zu. Im Einzelnen:
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1. Soweit die Beklagte die Ablehnung des Bauantrags ausdrücklich auf außerhalb des Prüfungsprogramms des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens liegende Vorschriften gestützt hat, nämlich auf eine verunstaltende Wirkung bzw. störende Häufung gem. Art. 8 BayBO und eine Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs gem. Art. 14 Abs. 2 BayBO, vermögen diese die Ablehnung des Bauantrags nicht zu tragen. Weder die Voraussetzungen der einzelnen Tatbestände des Art. 8 BayBO (siehe 1.1. und 1.2.) noch diejenigen des Art. 14 Abs. 2 BayBO (siehe 1.3.) liegen vor.
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1.1. Das Vorhaben führt im vorliegenden konkreten Einzelfall weder zu einer Verunstaltung der Fassade des Gebäudes W …straße … noch zu einer Verunstaltung des Orts- und Straßenbildes, Art. 8 BayBO.
20
Bei dem Begriff der „Verunstaltung“ handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Anwendung im gerichtlichen Verfahren der vollen Überprüfung unterliegt. Eine Verunstaltung im Sinne dieser Vorschrift ist anzunehmen, wenn ein für ästhetische Eindrücke offener Durchschnittsbetrachter die betreffende Werbeanlage an ihrer Anbringungsstelle als belastend oder Unlust erregend empfinden würde (BVerwG, U. v. 28.6.1955 – I C 146.53 – juris Rn. 12; BayVGH, U. v. 26.7.1999 – 2 B 94.1533 – juris Rn. 13; U. v. 25.7.2002 – 2 B 02.164 – juris Rn. 19; U. v. 16.9.2005 – 26 B 04.3258 – juris Rn. 19; U. v. 11.8.2006 – 26 B 05.3024 – juris Rn. 16). Dabei reicht nicht jede Störung der architektonischen Harmonie, es ist vielmehr ein hässlicher, das ästhetische Empfinden des Betrachters nicht nur beeinträchtigender, sondern verletzender Zustand erforderlich. Dabei ist nicht auf ästhetisch besonders empfindsame oder geschulte und auch nicht auf solche Betrachter abzustellen, die ästhetischen Eindrücken gegenüber überhaupt gleichgültig oder unempfindlich sind; entscheidend ist das Empfinden des sogenannten gebildeten Durchschnittsmenschen, der zwischen diesen beiden Personenkreisen steht (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2019 – 9 ZB 17.264 – juris Rn. 6). Aufgabe des Verunstaltungsverbots ist es in erster Linie, Auswüchse zu unterbinden, nicht aber bestimmte ästhetische Wertvorstellungen zur Stadtbildgestaltung durchzusetzen (BayVGH, U.v. 16.7.2002 – 2 B 01.1642 – juris Rn. 20; U. v. 11.8.2006 – 26 B 05.3024 – juris Rn. 16; Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 152 EL Oktober 2023, Art. 8 Rn. 53).
21
In Bezug auf Werbeanlagen entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass sie ihren Anbringungsort verunstalten, wenn sie die entsprechende Wand zu einem Werbeträger umfunktionieren oder einem vorhandenen ruhigen Erscheinungsbild einen Fremdkörper aufsetzen und diese damit empfindlich stören (vgl. BayVGH, U.v. 11.11.2014 – 15 B 12.2765 – juris Rn. 15 m.w.N.; B.v. 16.2.2016 – 2 ZB 15.2503 – juris Rn. 3; B.v. 12.1.2018 – 9 ZB 15.1911 – juris Rn. 9; U.v. 7.6.2021 – 9 B 18.1655 – juris Rn. 38). Eine Verunstaltung kann auch angenommen werden, wenn die Werbeanlage vor oder an eine bauliche Anlage ohne Rücksicht auf deren Gestalt und Gestaltung gesetzt wird, wenn sich die Kanten der Werbeanlage mit den Konturen der vorhandenen baulichen Anlage überschneiden (vgl. HessVGH, U.v. 14.4.1982 – IV OE 11/80 – juris), wenn sich der Eindruck der Disharmonie geradezu aufdrängt (vgl. BayVGH, B.v. 12.1.2018 – 9 ZB 15.1911 – juris Rn. 10) oder wenn die Werbeanlage die andere bauliche Anlage, an der sie angebracht wird, deutlich dominiert und so zur Hauptsache wird, wenn sie also mit ihrer Größe in einem Missverhältnis zu ihrem Anbringungsort steht (vgl. Dirnberger in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 152. EL Oktober 2023, Art. 8 Rn. 202, 233).
22
1.1.1. Dies zugrunde gelegt, ist die Kammer auf der Grundlage des durchgeführten Augenscheins, der vorgelegten Bauantragsunterlagen und öffentlich zugänglicher Luftbilder/Straßenansichten (g., s.) zur Überzeugung gelangt, dass die geplante Werbeanlage an ihrem Anbringungsort eine solche Verunstaltung nicht bewirkt. Insbesondere ist durch die Beseitigung der „…-Werbung“ an der Nordfassade des Bestandsgebäudes eine relevante Änderung des Sachverhaltes eingetreten, die dazu führt, dass an der 2006 vom Gericht vertretenen Auffassung einer verunstaltenden Wirkung einer weiteren Werbeanlage nunmehr nicht mehr festzuhalten ist.
23
Die Fassade des Gebäudes W …straße … ist weder von besonderer architektonischer Qualität, noch ist der Anbringungsort als schützenswerte „architektonische Beruhigungsfläche“ auszumachen. Sie wirkt vielmehr reizlos und ästhetisch ohne besondere Wertigkeit. Die Fassadenelemente weisen eine einheitliche, von der Befensterung dominierte Gestaltung („Lochfassade“) auf. Der fensterlose Wandteil an der Nordwestecke vermag hingegen keine eigene gestalterische Aussagekraft zu entfalten, da er gegenüber der übrigen Fassade – insbesondere aufgrund der geringen Breite und Ausgestaltung – optisch untergeordnet wirkt und bereits durch die vorhandene Eigenwerbung vorbelastet ist.
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Die Werbeanlage wird auf diesem unauffälligen Teil der Außenwand angebracht, weist keine übermäßige Größe auf und steht aufgrund ihrer geringen Tiefe nur unmerklich über die dominierende Lochfassade hinaus, sodass diese in ihrer Wirkung nicht beeinträchtigt wird. Durch die Anbringung der geplanten Anlage auf Höhe des ersten Obergeschosses bis nahezu Unterkante der Fenster des zweiten Obergeschosses, zwischen den Eigenwerbeanlagen für Hotel und Apotheke, konzentrieren sich die dann vorhandenen Werbeanlagen auf den Bereich des Gebäudes insgesamt bis nahezu der Unterkante der Fenster des dritten Obergeschosses, so dass die nach oben freibleibende Fläche das Erscheinungsbild des fensterlosen Wandteils weiterhin dominiert. Angesichts der Größe des Gesamtbaukörpers wird daher – auch wenn sich nach Realisierung des Vorhabens drei Werbeanlagen übereinander befinden – das Gebäude nicht zum Werbeträger degradiert. Keine andere Beurteilung folgt daraus, dass die Anlage die vorgegebenen Konturen (Fensterbrüstungen) nicht aufnimmt. Auf diese wird bereits durch die bestehenden Eigenwerbeanlagen keine Rücksicht genommen. Durch das Hinzutreten der geplanten Werbeanlage wird das Erscheinungsbild der Fassade insofern nicht zusätzlich gestört.
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1.1.2. Darüber hinaus wird auch das Straßen- oder Ortsbild durch die beantragte Werbeanlage nicht wesentlich beeinträchtigt.
26
Das harmonische Gesamtbild wird regelmäßig erst dann beeinträchtigt, wenn eine Werbeanlage sich dem Charakter des Straßen- und Ortsbildes, also seiner Umgebung, nicht einfügt, sondern so aufdringlich wirkt, dass sie als wesensfremdes Gebilde zu ihr in keiner Beziehung mehr steht (Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 152. EL Oktober 2023, Art. 8 Rn. 200).
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Dies ist hier nicht der Fall. Das Erscheinungsbild um den …platz herum ist zum einen durch großmaßstäbliche Gebäude, insbesondere massive Blockrandbebauung geprägt, so dass die streitgegenständliche Werbeanlage aufgrund ihrer Größe von rund 10,84 m² (inkl. Rahmen) bzw. von rund 8,32 m² (Plakatfläche) schon nicht über die optische Dominanz verfügt, diese „Blickfänge“ in den Hintergrund zu drängen. Zum anderen wird das Straßen- und Ortsbild um den Anbringungsort herum geprägt durch die vorhandenen Erschließungsstraßen, v.a. die L …straße als breite, vielbefahrene Ein- und Ausfallstraße, den überwiegend befestigten Platzbereich mit U-Bahnabgang und Taxistand und die vorhandenen gewerblichen Nutzungen v.a. im Erdgeschossbereich der Gebäude mit ihren z.T. auffälligen Eigenwerbungen. Im nördlichen Teil des …platzes ist ein großes Kino vorhanden ( …platz). Der Bereich wirkt insgesamt (groß-)städtisch geprägt. Es handelt sich auch nach Auffassung der Beklagten um ein „beliebtes Ausgehviertel M.“, durch „aktives Innenstadtleben mit gehobenen Wohnadressen sowie zahlreiche Einkaufsgeschäfte und Gastronomiebetriebe geprägt“ (Ablehnungsbescheid S. 3, erster Absatz). Die streitgegenständliche Werbeanlage trifft den Betrachter nach Größe, Ort und Art daher nicht unerwartet und wirkt insbesondere nicht wesensfremd. Dass die „…post“ auf der schräg gegenüberliegenden Straßenseite ( …platz, FlNr. ...) beeinträchtigt werden könnte, ist bereits aufgrund der Entfernung und der optischen Trennung durch Platzbereich und Straßenraum nicht zu befürchten. In der derart vorgeprägten Umgebung geht ein für die Frage der Verunstaltung maßgeblicher Durchschnittsbetrachter – gerade im städtischen Umfeld – davon aus, dass auch Werbeanlagen Teil des Straßen- und Ortsbildes sind. Mithin bietet die Situation auch einem für ästhetische Belange offenen Betrachter keinen Anlass, die Werbeanlage in der beantragten Form als wesensfremd oder störend zu empfinden.
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1.2. Eine störende Häufung von Werbeanlagen (Art. 8 Satz 3 BayBO) kann ebenfalls nicht ausgemacht werden.
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Bei der störenden Häufung handelt es sich um einen Unterfall des allgemeinen Verunstaltungsverbots (VG München, U.v. 10.7.2017 – M 8 K 16.1426, M 8 K 16.5065 – juris Rn. 50; U.v. 4.4.2022 – M 8 K 20.2028 – juris Rn. 42; VG Augsburg, U.v. 28.9.2011 – Au 4 K 11.309 – juris Rn. 20). Tatbestandlich ist vorausgesetzt, dass zunächst eine Häufung von Werbeanlagen vorliegt, die dann störende Wirkung entfaltet.
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Eine Häufung liegt vor, wenn mehrere, mindestens aber drei gleichartige oder verschiedene Werbeanlagen in enger räumlicher Beziehung zueinander angebracht werden und gleichzeitig im Gesichtsfeld des Betrachters liegen. Einzubeziehen sind alle vorhandenen Werbeanlagen jeder Art; auf die Funktion der Werbeanlage (Eigen- oder Fremdwerbung) kommt es nicht an (VG Ansbach, U.v. 2.7.2020 – AN 17 K 19.01354 – juris Rn. 26; VG München, U.v. 10.7.2017 – M 8 K 16.1426, M 8 K 16.5065 – juris Rn. 50; U.v. 4.4.2022 – M 8 K 20.2028 – juris Rn. 43; vgl. auch OVG NW, U.v. 20.2.2004 – 10 A 3279/02 – juris Rn. 33 f., 42; Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 152. EL Oktober 2023, Art. 8 Rn. 204 ff.; Molodovsky in: Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Stand 1.3.2024, Art. 8 Rn. 64).
31
Vorliegend befinden sich, wie bei Augenschein und anhand von Luftbildern erkennbar, in der näheren Umgebung, insbesondere am Anwesen W …straße … und auch im weiteren Verlauf der H …straße Richtung Süden, mehrere Eigenwerbeanlagen, so dass aus verschiedenen Blickwinkeln auch mehr als drei Werbeanlagen gleichzeitig ins Blickfeld des Betrachters fallen und von einer Häufung i.S. des Art. 8 Satz 3 BayBO auszugehen ist.
32
Die Häufung von Werbeanlagen allein begründet noch nicht deren Unzulässigkeit (BayVGH, B.v. 9.9.2020 – 9 ZB 17.1406 – juris Rn. 7). Eine Störung ist nicht schon durch Häufung allein, d. h. durch eine bestimmte Zahl z. B. von räumlich dicht nebeneinander angebrachten Werbeschildern gegeben, sondern erst, wenn eine Häufung gleicher oder miteinander unvereinbarer Werbeanlagen vorliegt, die auf den Betrachter im Gesamteindruck oder im Verhältnis zur Umgebung störend wirken und damit als lästig empfunden werden (Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 152. EL Oktober 2023, Art. 8 Rn. 215). Ob eine Häufung von Werbeanlagen störend ist, lässt sich nicht abstrakt-generell bestimmen. Wann die störende Wirkung eintritt, hängt von der vorhandenen Bebauung und der tatsächlichen Nutzung in der konkreten Umgebung ab (vgl. BayVGH, B.v. 9.9.2020 – 9 ZB 17.1406 – juris Rn. 7 f. m.w.N.). Jedenfalls muss sich ein gestalterischer Widerspruch aus der beziehungslosen Anhäufung von Werbeanlagen selbst oder ihrer Wirkung auf die Umgebung ergeben (BayVGH, B.v. 12.1.2012 – 15 ZB 10.445 – juris Rn. 16; Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 152. EL Oktober 2023, Art. 8 Rn. 230). Maßgeblich ist, dass der enge örtliche Bereich, der gleichzeitig im Gesichtsfeld des Betrachters liegt, mit Werbeanlagen derart überladen ist, dass das Auge keinen Ruhepunkt findet und das Bedürfnis nach werbungsfreien Flächen stark hervortritt, weil die Werbeanlagen allein wegen ihrer unangebrachten Häufung als lästig empfunden werden (vgl. Dirnberger in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 152. EL Oktober 2023, Art. 8 Rn. 214 ff.; OVG NW, U.v. 20.2.2004 – 10 A 3279/02 – juris Rn. 36).
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In Anwendung dieser Grundsätze ist bei Hinzutreten der beantragten Werbeanlage nicht von einer störenden Häufung im Sinne des Art. 8 Satz 3 BayBO auszugehen. Der maßgebliche Bereich ist noch nicht von Werbeanlagen so sehr überladen, dass durch das Hinzutreten einer weiteren die Schwelle zur störenden Häufung überschritten würde, zumal vorliegend kein Missverhältnis zwischen Werbeanlagen und städtisch geprägter Umgebung besteht. Die Anbringung der geplanten Werbeanlage stellt vorliegend keinen unvereinbaren Kontrast zu dem auch ansonsten durch Geschäfte und gewerbliche Nutzung sowie die damit einhergehende Eigenwerbung geprägten Bereich dar. Auch das Straßen- und Ortsbild wird nicht dominiert. Das Auge findet nach wie vor einen Ruhepunkt. Damit liegt noch kein evidentes Missverhältnis zwischen der vorhandenen Zahl der Werbeanlagen und der Umgebung vor.
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1.3. Auch eine Gefährdung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs steht dem Vorhaben nicht entgegen. Die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 2 BayBO liegen nicht vor.
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Die Sicherheit und Leichtigkeit des öffentlichen Verkehrs ist durch eine bauliche Anlage konkret gefährdet, wenn nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Verkehrsunfall oder doch Verkehrsbehinderungen in überschaubarer Zukunft zu erwarten sind. Erforderlich, aber auch ausreichend ist insofern die Feststellung, dass die konkrete Situation die Befürchtung nahelegt, es werde in überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die zu bekämpfende Gefahrenlage eintreten. Entscheidend sind insofern die konkreten Umstände des Einzelfalls (BayVGH, B.v. 4.5.2023 – 2 ZB 22.2530 – juris Rn. 4).
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Nach den Eindrücken, die die Kammer insbesondere beim Augenschein, aber auch durch die in den Behördenakten enthaltenen Lagepläne sowie Lichtbilder und durch öffentlich zugängliche Luftbilder (g.) gewonnen hat, ist nach ihrer Überzeugung – auch unter Würdigung der von der Beklagten vorgetragenen Einwände – nicht davon auszugehen, dass die streitgegenständliche Werbeanlage am Vorhabenstandort die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs gefährdet.
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Unstreitig handelt es sich bei der L …straße um eine stark frequentierte Ein- und Ausfallstraße. Hierdurch allein lässt sich allerdings die Gefährdung der Verkehrssicherheit durch die Errichtung von Werbeanlagen nicht begründen. Die geplante Werbeanlage steht nicht in unmittelbarer Nähe des – durch Lichtzeichenanlagen geregelten – Kreuzungsschwerpunkts L …-/H …straße, sondern abgerückt von diesem und der L …straße mit einer Entfernung von – je nach Standort – rund 40 m. Dies legt nahe, dass die Anlage von den Teilnehmern des fließenden Verkehrs nicht in relevanter Weise wahrgenommen werden dürfte, zumal die Anlage mit einer Plakatfläche von ca. 8 m² auch nicht überdimensioniert ist. Für den über die H …straße von Süden Richtung Norden in den …platz/die …straße fahrenden Verkehr dürfte die Anlage aufgrund ihrer Anordnung ohnehin unproblematisch sein. Von Norden über die …straße/den …platz zur Kreuzung …platz/L …straße/H …straße kommend ist angesichts der Entfernung der Werbeanlage zum Kreuzungsbereich nicht davon auszugehen, dass diese von einem verantwortungsbewussten Teilnehmer am motorisierten Straßenverkehr bewusst wahrgenommen wird; insoweit wird der Fokus eher auf der Ampelanlage und dem Geschehen im Kreuzungsbereich liegen. Der Verkehr wird hier zudem durch eine Lichtzeichenanlage gesteuert.
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Der Rechtsabbiegeverkehr von der L …in die H …straße wird ebenfalls durch eine Lichtzeichenanlage geregelt; die über den Kreuzungsbereich führende Radwegfurt ist rot gekennzeichnet. Die geplante Werbeanlage liegt zwar nach der Einfahrt in den Kreuzungsbereich bereits im Blickfeld der Rechtsabbieger; infolge des Rückversatzes der Anlage und der Entfernung zur L …straße ist jedoch davon auszugehen, dass ein durchschnittlicher (vgl. BayVGH, U.v. 30.5.2018 – 2 B 18.681 – juris Rn. 24; U.v. 7.6.2021 – 9 B 18.1655 – juris Rn. 36), verantwortungsbewusster Teilnehmer am motorisierten Straßenverkehr sich in seinem Fahrverhalten und seiner Konzentration hierdurch nicht negativ beeinflussen lässt. Vielmehr ist anzunehmen, dass er beim Abbiegevorgang zunächst das Geschehen unmittelbar vor sich wahrnimmt, nämlich die H …straße querende Fußgänger und Radfahrer, und erst bei der Weiterfahrt in die H …straße Richtung Süden, d.h. wenn er seine Rücksicht gegenüber den vorgenannten Verkehrsteilnehmern bereits ausgeübt hat, der Anlage gewahr wird – sofern diese überhaupt bewusst wahrgenommen wird. Aus Sicht der Kammer kann der Werbeanlage der Klägerin unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände des Einzelfalles bei einem durchschnittlichen und aufmerksamen Verkehrsteilnehmer damit keine „besondere“ Ablenkungswirkung zugemessen werden. Sie ist hier, sofern sie überhaupt bewusst wahrgenommen wird, vielmehr ein Eindruck unter vielen, der in seiner untergeordneten Bedeutung unabhängig von den dargestellten Motiven durchaus richtig einschätzbar ist.
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Gleiches gilt für den stadtauswärtsfahrenden Verkehr in der L …straße, der an der Kreuzung L …-/H …straße die Möglichkeit hat, links in die H …straße Richtung Süden einzubiegen. Der Linksabbiegerverkehr wird dabei durch einen einfeldigen Signalgeber („Grünpfeil“) gesteuert. Die Werbeanlage mag zwar für in der Kreuzung stehende Linksabbieger wahrnehmbar sein. Allerdings ist auch hier davon auszugehen, dass der Fokus der Betroffenen hier eher auf der Beobachtung des in ihrer unmittelbaren Umgebung stattfindenden Verkehrsgeschehens (Beobachtung des entgegenkommenden, geradeausfahrenden Verkehrs sowie des vorhandenen einfeldigen Signalgebers („Grünpfeil“) zur Freigabe des Linksabbiegevorgangs) gerichtet ist und er seinen Kopf nicht nach links zur Seite wendet, um die – weiter entfernt liegende – Werbeanlage zu betrachten.
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Schließlich führt auch der Umstand, dass die H …straße sich Richtung Süden verengt, nicht zu einer anderen Beurteilung. Die Situation ist für einen durchschnittlichen Kraftfahrzeugführer aus Sicht der Kammer nicht mehr besonders komplex oder herausfordernd und liegt abgekoppelt vom Kreuzungsschwerpunkt L …straße.
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2. Die zum Prüfungsprogramm im vereinfachten Genehmigungsverfahren gehörende bauplanungsrechtliche Zulässigkeit (Art. 59 Satz 1 Buchst. a) BayBO) des Vorhabens richtet sich nach § 30 Abs. 3 BauGB i.V.m. § 34 Abs. 1 BauGB.
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Die hinsichtlich der Art und des Maßes der baulichen Nutzung den Rahmen der insoweit maßgeblichen näheren Umgebung wahrende Anlage verstößt insbesondere nicht gegen das Gebot der Rücksichtnahme (siehe nachfolgend 2.1.) und beeinträchtigt auch nicht das Ortsbild, § 34 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BauGB (siehe 2.2.). Allerdings bedarf es noch der Erteilung einer im Ermessen der Beklagten liegenden Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von der für das Vorhabengrundstück festgesetzten Baulinie (siehe nachstehend 2.3.).
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2.1. Die die streitgegenständliche Werbeanlage verstößt nicht gegen das in § 34 Abs. 1 BauGB im Begriff des „Einfügens“ verankerte Rücksichtnahmegebot (vgl. hierzu BayVGH, B.v. 8.7.2013 – 2 CS 13.807 – juris Rn. 12).
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Sie wirkt aufgrund ihres Anbringungsorts vornehmlich in den Straßenraum, namentlich den sich nördlich der W …straße anschließenden Teil des …platzes hinein. Mit Blick auf die Anwesen W …straße ... und L …straße ... ist schon aufgrund deren Entfernung, Lage und Situierung zur streitgegenständlichen Werbeanlage keine unzumutbare Belästigung oder Störung anzunehmen. Auch bezüglich einer etwaigen Wohnnutzung im nördlichen Teil des Gebäudes L …straße ... ist angesichts der Entfernung zu dem Vorhaben nicht von einem Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot auszugehen. Es kann nicht angenommen werden, dass es insoweit auch im Hinblick auf die Beleuchtungssituation der Umgebung – belebte und gut beleuchtete Einfall- und Ausfallstraße, Lage am …platz (vgl. insoweit die Fotografie auf S. 20 der Behördenakte) – zu erheblichen Belästigungen durch eine unerwünschte Raumaufhellung oder eine Blendwirkung kommt.
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Die von der Beklagten in Bezug genommenen Bewohner des Anwesens W …straße … sind keine Nachbarn im bauplanungsrechtlichen Sinn. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme auf dem Baugrundstück selbst ist ausgeschlossen. Das Gebot der Rücksichtnahme bezieht sich nur auf das Verhältnis des Vorhabens zur benachbarten Nutzung und greift nicht, wenn lediglich Nutzer des betreffenden Vorhabens und nicht auch Nachbarbelange berührt sind (Söfker/Hellriegel in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, Baugesetzbuch, Stand: 152. EL Oktober 2023, § 34 Rn. 48a und 66; VG München, U.v. 24.4.2023 – M 8 K 22.75 – juris Rn. 20, n.rk.).
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2.2. Auch das von § 34 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 BauGB geschützte Ortsbild ist nicht beeinträchtigt. Die Vorschrift stellt auf einen größeren Maßstab ab, als auf die für das Einfügensgebot maßgebliche nähere Umgebung (vgl. BVerwG, U.v. 11.5.2000 – 4 C 14.98 – juris Rn. 15, 18; BayVGH, U.v. 14.9.2018 – 9 B 15.1278 – juris Rn. 23). Die beantragte Werbeanlage hat nach Auffassung des Gerichts jedoch keine über den unmittelbaren Nahbereich hinausgehenden Wirkungen auf das Ortsbild.
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2.3. Zwar überschreitet die Werbeanlage nach den Bauvorlagen am Anbringungsort die maßgebliche Baulinie, § 30 Abs. 3 BauGB. Jedoch kann gemäß § 31 Abs. 2 BauGB von den Festsetzungen eines Bebauungsplans – auch eines einfachen i.S.d. § 30 Abs. 3 BauGB – befreit werden, sofern – wie hier – die dort normierten Voraussetzungen vorliegen. Die Befreiung steht im Ermessen der Behörde. Die Beklagte hat von dem ihr insoweit eingeräumten Ermessen bisher nur fehlerhaft Gebrauch gemacht, da sie die Umstände des Einzelfalls nur unzureichend ermittelt und gewürdigt sowie fehlerhaft gewichtet hat, § 114 VwGO. Der Klägerin steht daher ein Anspruch auf eine fehlerfreie Entscheidung zu.
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2.3.1. Unschädlich ist insoweit, dass die Klägerin keinen ausdrücklichen Befreiungsantrag gestellt hat. Der Genehmigungsmaßstab für die Bauaufsichtsbehörde umfasst selbst im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren nach dem klaren Wortlaut von Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO auch die Vorschriften des § 31 BauGB über Ausnahmen und Befreiungen. Nach dieser grundlegenden Verfahrensvorschrift ist damit die Zulassungsfähigkeit eines zur Genehmigung beantragten Vorhabens auch unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten stets zu prüfen (BayVGH, B.v. 2.8.2018 – 15 ZB 18.764 – juris Rn. 17; VG München, U.v. 24.4.2023 – M 8 K 22.75 – juris Rn. 22, n.rk.; Laser in: Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 5. Auflage 2022, Art. 59 Rn. 7 und Art. 63 Rn. 37).
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2.3.2. Gemäß § 31 Abs. 2 BauGB kann u.a. von den Festsetzungen eines Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, die Abweichung städtebaulich vertretbar ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Die beantragte Werbeanlage erfüllt diese Voraussetzungen.
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2.3.2.1. Insbesondere werden die Grundzüge der Planung nicht berührt. Mit dem Begriff der „Grundzüge der Planung“ umschreibt das Gesetz in § 31 Abs. 2 BauGB die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zugrunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt. Hierzu gehört alles, was das Ergebnis der Abwägung über die von der Planung berührten öffentlichen und privaten Belange und den mit den getroffenen Festsetzungen verfolgten Interessenausgleich trägt (BayVGH, U.v. 9.8.2007 – 25 B 05.1337 – juris Rn. 37 m.w.N.). Grundzug der Planung, in Form der Festsetzung einer Baulinie, ist hier die Gewährung einer optisch einheitlichen Häuserflucht entlang des Straßenzugs.
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Die Auswirkungen der Werbeanlage fallen insoweit nicht entscheidend ins Gewicht. Diese ragt mit einer Tiefe von 0,278 m nur unmerklich über die Bestandsfassade hinaus. Wie das Gericht bei Durchführung des Augenscheins feststellen konnte, befindet sich über dem Erdgeschoss umlaufend eine ca. 0,5 m auskragende Überdachung, welche die Baulinie ebenfalls deutlich überschreitet. Gleiches gilt für die Dachkante über dem fünften Obergeschoss. Aufgrund ihres gegenüber der Hausfassade des sechsgeschossigen Gebäudes nur untergeordneten städtebaulichen Gewichts vermag die beantragte Werbeanlage – selbst bei einer Gesamtschau mit den bereits bestehenden Eigenwerbeanlagen unmittelbar über und unter ihr – den optischen Eindruck einer einheitlichen Häuserflucht daher nicht zu beeinflussen.
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2.3.2.2. Die Abweichung ist auch städtebaulich vertretbar im Sinne des § 31 Abs. 2 Nr. 2 BauGB. Insoweit ist anerkannt, dass das, was sich bei Hinwegdenken des Bebauungsplans nach § 34 Abs. 1 BauGB einfügen würde, auch im Wege der Befreiung zugelassen werden kann (VG München, U.v. 10.12.2012 – M 8 K 12.795 – juris Rn. 58 m.w.N.; U.v. 24.4.2023 – M 8 K 22.75 – juris Rn. 26, n.rk.).
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Schließlich kommt dem Vorhaben angesichts des umlaufenden Überschreitens der Baulinie insbesondere durch das bestehende Vordach über dem Erdgeschoss und dem Dachvorsprung über dem fünften Obergeschoss auch keine unerwünschte Bezugsfallwirkung zu.
54
2.3.2.3. Das Vorhaben ist auch mit nachbarlichen (s.o.) und öffentlichen Belangen vereinbar. Insbesondere führt das Vorhaben angesichts seiner Dimensionierung nicht zu einer Beeinträchtigung des (städtebaulichen) Straßen- und Ortsbildes. Die Anlage entfaltet keine Wirkung über den Nahbereich hinaus.
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2.3.2.4. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung vermittelt jedoch noch keinen Anspruch auf Befreiung. Dieser liegt vielmehr im Ermessen der Genehmigungsbehörde, § 31 Abs. 2 BauGB. Die Beklagte hat das ihr zustehende Ermessen bisher noch nicht pflichtgemäß ausgeübt, da sie einerseits das Vorhandensein mehrerer, die Baulinie bereits durchberechnender Fassadenteile und die kaum spürbaren städtebaulichen Auswirkungen hinsichtlich der Überschreitung der Fassade durch die Werbeanlage nicht berücksichtigt und ihren Ermessenserwägungen andererseits maßgeblich eine nach Auffassung des Gerichts nicht anzunehmende Störung des Ortsbildes zugrunde gelegt hat. Eine Ermessensreduzierung auf Null vermag die Kammer gleichwohl nicht zu erkennen, wenngleich die Spielräume für zusätzliche Erwägungen nur sehr gering erscheinen.
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3. Die im Ablehnungsbescheid vom 17. November 2023 für die Versagung der Sondernutzungserlaubnis angeführten Gründe halten einer rechtlichen Überprüfung vorliegend ebenfalls nicht stand.
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Zum Prüfungsumfang des vereinfachten Baugenehmigungsverfahrens gehören gem. Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO auch andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen der Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird. Die nach Art. 18 Abs. 1 Satz 1 BayStrWG für die Benutzung der Straße über den Gemeingebrauch hinaus (Sondernutzung) erforderliche Erlaubnis der Straßenbaubehörde bedarf es nach Art. 21 Satz 1 BayStrWG in dem Fall, in dem – wie hier – nach den Vorschriften des Baurechts eine Baugenehmigung erforderlich ist, nicht, so dass Art. 59 Satz 1 Nr. 3 BayBO greift.
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Der Wegfall der Sondernutzungserlaubnis dient der Verfahrenskonzentration, materiell-rechtlich liegt eine straßenrechtliche Sondernutzung vor, die sich nach den Bestimmungen des Art. 18 Abs. 2 bis 6 BayStrWG richtet (BayVGH, U.v. 11.11.2014 – 15 B 12.2765 – juris Rn. 24; Wiget in: Zeitler, Bayerisches Straßen- und Wegegesetz, 32. EL Januar 2023, Art. 21 Rn. 8). Die Entscheidung über die Erteilung der Sondernutzungserlaubnis steht dabei im Ermessen der Beklagten.
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Maßgeblich für die Entscheidung der Beklagten war vorliegend der Gesichtspunkt der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs, die nach Auffassung der Kammer durch die beantragte Werbeanlage jedoch nicht beeinträchtigt ist. Auf die Ausführungen in Ziffer 1.3. wird Bezug genommen. Da das Ermessen nicht auf Null reduziert ist, hat die Klägerin gegen die Beklagte einen Anspruch darauf, dass die Beklagte unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über den Antrag entscheidet.
II.
60
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO, da die Klägerin hier nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
61
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.