Titel:
Insolvenzverwalter, Widerspruchsbescheid, Rechtsprechung des BSG, Hilfsbedürftigkeit, Restschuldbefreiungsverfahren, Antrag auf Restschuldbefreiung, Zu berücksichtigendes Einkommen, Pfändbarer Betrag, Bedarfsgemeinschaft, Pfändungsfreigrenzen, Pfändungsfreibetrag, Pfändungs- und Überweisungsbeschluß, Rechtswidrige Pfändung, Abtretung, Anzurechnendes Einkommen, Wohlverhaltensphase, Erlaß eines Grundurteils, Einkommensfreibeträge, Einkommensverhältnisse, Eigenes Einkommen
Normenkette:
SGB II § 11; InsO § 287 Abs. 2
Leitsatz:
Die während eines Restschuldbefreiungsverfahrens gemäß § 287 Abs. 2 InsO an den Treuhänder abgetretenen pfändbaren Beträge sind nicht als Einkommen gemäß § 11 SGB II zu berücksichtigen, denn insoweit liegen keine bereiten Mittel vor.
Schlagworte:
Berufung, Leistungszeitraum, Anrechnung von Einkommen, Restschuldbefreiung, Pfändung, Bedarfsgemeinschaft, Zinszahlung
Vorinstanz:
SG Bayreuth vom 27.04.2022 – S 17 AS 668/19
Rechtsmittelinstanz:
BSG Kassel, Beschluss vom 21.08.2025 – B 4 AS 110/24 B
Fundstellen:
BeckRS 2024, 49947
FDInsR 2025, 949947
Tenor
I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 27.04.2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen, soweit der Beklagte verurteilt wurde, den Klägern für den Monat Februar 2020 dem Grunde nach Leistungen nach dem SGB II und Zinsen aus der Gesamtforderung zu zahlen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
II. Der Beklagte hat den Klägern 5/6 der außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Streitig ist ein Anspruch der Kläger auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II – Alg II – bzw. Sozialgeld) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 01.09.2019 bis 29.02.2020.
2
Die Klägerin zu 1) ist die Mutter der 2006, 2013 und 2015 geborenen Kinder L, A (Klägerin zu 3) und E (Klägerin zu 4). Am 14.08.2019 zog der Kläger zu 2) bei der Klägerin zu 1) und den Kindern in die Wohnung in der B Straße in W ein. Die Miete für die Wohnung in W betrug im streitgegenständlichen Zeitraum monatlich 690,00 € (608,00 € Kaltmiete, 82,00 € Heizkosten). Der Kläger zu 2) erzielte Einkommen aus Erwerbstätigkeit in Höhe von (jeweils brutto/netto) 2.145,00 €/1.488,76 € (September 2019), 2.125,00 €/1.477,78 € (Oktober 2019), 2.576,00 €/1.731,16 € (November 2019, darin enthalten: 470,00 €/359,23 € Weihnachtsgeld), 2.115,75 €/1.472,27 € (Dezember 2019), 2.184,00 €/1.520,12 € (Januar 2020) und 2.125,50 €/1.487,02 € (Februar 2020). Zugleich befand er sich in der Wohlverhaltensphase zur Restschuldbefreiung zum Insolvenzverfahren IK 98/14 am Amtsgericht B. Der Teil seines Einkommens, der die Pfändungsfreigrenzen überstieg, wurde jeweils vor der Auszahlung seines Nettolohnes vom Arbeitgeber gepfändet und direkt an den Insolvenzverwalter überwiesen. Nach Abzug der pfändbaren Beträge wurden an den Kläger zu 2) 1.277,77 € (September 2019), 1.301,69 € (Oktober 2019) 1.534,17 € (November 2019) 1.269,68 € (Dezember 2019) 1.281,13 € (Januar 2020) und 1.276,03 € (Februar 2020) ausgezahlt. Für die drei Kinder der Klägerin zu 1) wurde im streitgegenständlichen Zeitraum Kindergeld in Höhe von monatlich insgesamt 618,00 € (204,00 €, 204,00 € und 210,00 €) gezahlt. Zudem hatte das Kind L einen Anspruch auf Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) in Höhe von monatlich 272,00 € bzw. 293,00 € (ab 01.01.2020). Aufgrund einer Einbehaltung wurden hiervon lediglich 220,00 € (01.09. bis 31.10.2019) bzw. 172,00 € (ab 01.11.2020) sowie 200,00 € (ab 01.01.2020) ausgezahlt. Die Klägerin zu 3) bezog UVG-Leistungen in Höhe von monatlich 202,00 € bzw. 220,00 € (ab 01.01.2020), die Klägerin zu 4) in Höhe von monatlich 150,00 € bzw. 165,00 € (ab 01.01.2020).
3
Am 15.08.2019 beantragte die Klägerin zu 1) für sich und die Mitglieder ihrer Bedarfsgemeinschaft die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab 01.09.2019. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 29.08.2019 ab. Nach Einzug des Klägers zu 2) liege aufgrund der Einkommensverhältnisse keine Hilfebedürftigkeit vor. Dem beigefügten Berechnungsbogen lässt sich entnehmen, dass der Beklagte im Rahmen der Einkommensanrechnung beim Kläger zu 2) den Nettolohn vor Abzug der pfändbaren Beträge zugrunde gelegt hat. Hiergegen legten die Kläger Widerspruch ein. Die Anrechnung des Einkommens des Klägers zu 2) sei nicht korrekt durchgeführt worden. Der Beklagte habe das Nettoeinkommen des Klägers zu 2) herangezogen, obwohl dieses der Bedarfsgemeinschaft aufgrund einer laufenden Privatinsolvenz gar nicht zur Verfügung stehe. Der Kläger zu 2) könne als unverheiratete Person den unpfändbaren Betrag nicht verändern lassen. Deshalb dürften gepfändete Beträge nicht als Einkommen angerechnet werden. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 15.10.2019 als unbegründet zurück. Nach Abzug der Einkommensfreibeträge in Höhe von insgesamt 330,00 € errechne sich für den Monat September 2019 ein anzurechnendes Einkommen in Höhe von 1.158,76 €, welches noch unter dem tatsächlich vom Arbeitgeber ausgezahlten Betrag in Höhe von 1.277,77 € liege. In dieser Höhe stünden bereite Mittel zur Verfügung, die ausreichend zur Deckung des Existenzminimums seien. Auf das Urteil des BSG vom 24.05.2017 – B 14 AS 32/16 R –, welches auch im Rahmen von Pfändungen anwendbar sei, werde in diesem Zusammenhang verwiesen. Die Leistungen seien daher zu Recht abgelehnt worden.
4
Am 03.02.2020 beantragten die Kläger erneut Leistungen nach dem SGB II beim Beklagten. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 06.02.2020 ab. Aufgrund der Höhe des anzurechnenden Einkommens liege keine Hilfebedürftigkeit vor. Auf einen weiteren Leistungsantrag vom 24.02.2020 hin bewilligte der Beklagte den Klägern mit Bescheid vom 06.03.2020 für die Zeit vom 01.03.2020 bis 31.08.2020 vorläufig Leistungen nach dem SGB II. Mit Bescheid der Familienkasse vom 04.06.2020 wurde der Klägerin zu 1) für die Zeit von Februar bis April 2020 rückwirkend Kinderzuschlag in Höhe von 270,00 € bewilligt.
5
Gegen den Bescheid vom 29.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2019 haben die Kläger bereits am 18.11.2019 Klage beim Sozialgericht Bayreuth (SG) erhoben. Die beim Kläger zu 2) vorgenommene Einkommensanrechnung sei in Bezug auf die Nichtberücksichtigung der gepfändeten Beträge falsch. Der Kläger zu 2) befinde sich in der Wohlverhaltensphase zur Restschuldbefreiung. Sein über die Pfändungsfreigrenzen hinausgehendes Nettoeinkommen werde zugunsten des Insolvenzverwalters noch vor Auszahlung gepfändet und an diesen überwiesen. Damit lägen in Höhe der gepfändeten Beträge keine „bereiten Mittel“ vor.
6
Der Beklagte hat auf Aufforderung des SG hin mit Schreiben vom 16.12.2021 eine Vergleichsberechnung vorgelegt. Danach errechnen sich bei Nichtberücksichtigung der an den Insolvenzverwalter abgeführten Beträge im streitgegenständlichen Zeitraum monatliche Leistungsansprüche der Kläger in Höhe von 170,02 € (September 2019), 165,57 € (Oktober 2019), 277,70 € (November 2019), 183,17 € (Dezember 2019) und 150,43 € (Januar 2020). Im Februar 2020 liegt – unter Berücksichtigung des Kinderzuschlags – bedarfsdeckendes Einkommen vor.
7
Das SG hat den Beklagten mit Urteil vom 27.04.2022 unter Aufhebung des Bescheids vom 29.08.„2018“ (sic!) in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.10.2019 dem Grunde nach verurteilt, an die Kläger für den Zeitraum von 01.09.2019 bis 29.02.2020 Alg II bzw. Sozialgeld unter Anrechnung von zu berücksichtigendem Einkommen des Klägers zu 2) nur in Höhe von 947,77 € im September 2019, von 971,69 € im Oktober 2019, von 904,81 € im November 2019, von 999,55 € im Dezember 2019, von 1.011,00 € im Januar 2020 und von 1.005,90 € im Februar 2020, sowie ab 01.03.2020 Zinsen hieraus in gesetzlicher Höhe zu bezahlen. Der Erlass eines Grundurteils sei zulässig. Bei Zugrundelegung des Vortrags der Kläger und der im Klageantrag genannten anzurechnenden Einkommensbeträge des Klägers zu 2) kämen in allen Monaten SGB II-Leistungsansprüche in Betracht. Die Kläger erfüllten im streitgegenständlichen Zeitraum die Grundvoraussetzungen für den Bezug von SGB II-Leistungen. Insbesondere liege Hilfebedürftigkeit vor. Soweit der Beklagte ein Nettoeinkommen inklusive der Beträge angerechnet habe, die dem Kläger zu 2) nicht ausgezahlt, sondern direkt an den Insolvenzverwalter abgeführt wurden, sei dies fehlerhaft. Einer Anrechnung stünden die Grundsätze der „bereiten Mittel“ entgegen. Die Beträge, die zugunsten des Insolvenzverwalters vom Nettoeinkommen des Klägers zu 2) abgezogen worden seien, hätten zu keinem Zeitpunkt zur Bestreitung des Lebensunterhalts zur Verfügung gestanden. Damit sei dieser Teil des Einkommens nicht bei der Bedarfsdeckung zu berücksichtigen. Der Verweis des Beklagten darauf, dass aufgrund der Freibeträge von monatlich 330,00 € eine Anrechnung von Einkommen, das tatsächlich nicht erzielt wurde, letztlich nicht erfolgt ist, überzeuge nicht. Hierdurch würden dem Kläger zu 2) die ihm auf Grund seiner Erwerbstätigkeit zustehenden Freibeträge im Ergebnis verringert oder gänzlich versagt, die bezweckte Anreizwirkung entfalle. Die vom Beklagten zitierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts werde auf Fälle, in denen die Pfändung von Einkommensteilen im Raum stehe, nicht angewandt. Zudem seien die zugrundeliegenden Sachverhalte nicht vergleichbar. In Bezug auf die konkret anzurechnenden Beträge schließe sich das Gericht der Vergleichsberechnung des Beklagten an. Hieraus ergäben sich die im Tenor genannten Beträge, die als Einkommen des Klägers zu 2) anzurechnen seien. Der Zinsanspruch ergebe sich aus § 44 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I).
8
Dagegen hat der Beklagte Berufung beim Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Der Umfang der Berücksichtigung von Erwerbseinkommen ergebe sich abschließend aus § 11 SGB II in Verbindung mit der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/ Sozialgeld (Alg II-V). Der Grundsatz der „bereiten Mittel“ sei erst am Ende der Einkommensberechnung zu berücksichtigen, eine andere Reihenfolge sehe das SGB II nicht vor. Der Gesetzgeber habe in § 11b Abs. 1 Nr. 7 und Nr. 8 SGB II ausschließlich die Zahlung von tituliertem Unterhalt und das nach den Vorschriften der Ausbildungsförderung bereits dort berücksichtigte Einkommen einkommensmindernd privilegiert. Eine entsprechende Regelung in Bezug auf gepfändetes Erwerbseinkommen sehe das SGB II hingegen nicht vor. Die vom SG vertretene Rechtsauffassung habe zur Folge, dass die Allgemeinheit der Steuerzahler die Schulden Einzelner tilge. Soweit im SGB II und bei der Berechnung der pfändungsfreien Beträge „Unterhaltspflichten“ abweichend berücksichtigt würden, sei es Aufgabe des Gesetzgebers, diese unterschiedliche Behandlung aufzulösen. Zudem könnten gepfändete Einkommensteile nur dann unberücksichtigt bleiben, wenn die Pfändung rechtens sei und die Einlegung von Rechtsmitteln keine hinreichende Erfolgsaussicht habe. Vorliegend sei von der Rechtswidrigkeit der durch den Arbeitgeber durchgeführten Pfändung auszugehen, denn das Einkommen, das zur Deckung des Hilfebedarfs nach dem SGB II zu berücksichtigen sei, unterliege nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 16.10.2012 – B 14 AS 188/11 R –) nicht der Pfändung. Es sei auch nicht ersichtlich, dass der Kläger zu 2) rechtlich gegen die Pfändung vorgegangen sei, um einen höheren oder ungeminderten Auszahlungsbetrag seines Erwerbseinkommens zu bewirken. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, dass die Pfändung bei der Einkommensanrechnung grundsätzlich in Abzug zu bringen wäre, stehe dem die Sicherstellung des Existenzminimums nicht entgegen. Der BGH gehe in seinem Beschluss vom 15.01.2020 (Az.: VII ZB 5/19) davon aus, dass unter Berücksichtigung der Erwerbs- und Grundfreibeträge eine Pfändung von Unterhaltsforderungen und gleichzeitig eine ungeminderte Berücksichtigung des Einkommens im Sinne des § 11 SGB II möglich sei.
9
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des SG Bayreuth vom 27.04.2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
10
Die Kläger beantragen,
die Berufung zurückzuweisen
11
Die Kläger halten die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Das SG sei zurecht davon ausgegangen, dass einer Anrechnung höheren Einkommens die Grundsätze der „bereiten Mittel“ entgegenstünden. Der Beklagte wende den Begriff der „bereiten Mittel“ nicht korrekt an und setze sich nicht mit der Rechtsprechung des BSG auseinander. Aufgrund des laufenden Insolvenzverfahrens sei dem Kläger zu 2) eine Rückgängigmachung der Lohn- und Gehaltspfändung nicht möglich gewesen.
12
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
13
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG –), jedoch nur teilweise begründet. Das SG hat der Klage bezüglich des Leistungszeitraumes vom 01.09.2019 bis 31.01.2020 zu Recht stattgegeben. Soweit das SG Leistungen für Februar 2020 und Zinsen aus der Gesamtforderung zugesprochen hat, war das Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
14
Streitgegenstand ist vorliegend der Bescheid vom 29.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2019, mit dem der Beklagte den Antrag der Kläger auf Leistungen nach dem SGB II für die Zeit ab 01.09.2019 abgelehnt hat. Die Kläger wenden sich hiergegen zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Abs. 4 SGG), zulässigerweise gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils nach § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Grundurteils im Höhenstreit in Abgrenzung zu einer unzulässigen Elementenfeststellungsklage ist eine so umfassende Aufklärung zu Grund und Höhe des Anspruchs, dass mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung ausgegangen werden kann, wenn der Begründung der Klage gefolgt wird (vgl. BSG, Urteil vom 21.06.2023 – B 7 AS 14/22 R, Urteil vom 11.11.2021 – B 14 AS 41/20 R-, Urteil vom 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R, Urteil vom 30.01.2019 – B 14 AS 24/18 R – alle zitiert nach juris). Diese Voraussetzung ist vorliegend im Ergebnis erfüllt, weil zwischen den Beteiligten lediglich die Höhe des beim Kläger zu 2) anzurechnenden Einkommens aus Erwerbstätigkeit streitig ist und die Kläger ausweislich der vom Beklagten vorgelegten Vergleichsberechnung im streitgegenständlichen Leistungszeitraum Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, wenn ihrem Vorbringen zur Höhe des anzurechnenden Einkommens gefolgt wird.
15
Nicht streitgegenständlich ist hingegen der Bescheid vom 06.02.2020, mit dem der Beklagte den Leistungsantrag vom 03.02.2020 abgelehnt hat. Wird ein neuer Leistungsantrag gestellt, bedeutet dies nach der Rechtsprechung des BSG eine Zäsur, der ursprünglich angefochtene Bescheid erledigt sich für den Zeitraum, der von dem neuen Bescheid erfasst wird (vgl. BSG, Urteil vom 28.10.2009 – B 14 AS 62/08 R – juris; Silbermann in Luik/Harich, SGB II, 6. Aufl. 2024, § 37 Rn. 45). Der neue Antrag begrenzt den streitigen Zeitraum des vorherigen Antrags (vgl. BSG, Urteil vom 06.06.2023 – B 4 AS 4/22 R – juris). Der einen möglichen Leistungsanspruch für den Monat Februar 2020 ablehnende Bescheid vom 06.02.2020 ist aufgrund der genannten Zäsurwirkung – und weil auch eine dahingehende Klageerweiterung im Verfahren vor dem SG nicht erfolgt ist – nicht Gegenstand des Verfahrens. Soweit das SG den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 29.08.„2018“ (richtig: 29.08.2019) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.10.2019 dem Grunde nach verurteilt hat, den Klägern für den Monat Februar Leistungen nach dem SGB II zu bezahlen, hat es über diesen Zeitraum unzulässigerweise entschieden. Die Berufung des Beklagten ist insoweit begründet.
16
Begründet ist die Berufung des Beklagten auch hinsichtlich der Verurteilung zur Zinszahlung durch das SG, denn soweit sich der Klageantrag auch auf Zinsen erstreckt, ist die Klage unzulässig. Eine gerichtlich überprüfbare Entscheidung des Beklagten über den Zinsanspruch, über den dieser von Amts wegen auch ohne Antrag durch Verwaltungsakt entscheiden muss (§ 44 SGB I), liegt noch nicht vor. Der Beklagte kann denknotwendig auch erst nach Abschluss des Rechtsstreites über eine Zinszahlung entscheiden. Dies gilt umso mehr, wenn – wie vorliegend – der Erlass eines Grundurteils begehrt wird.
17
Im Übrigen war die Berufung des Beklagten zurückzuweisen. Der Bescheid vom 29.08.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.10.2019 ist rechtswidrig. Die Kläger haben im Zeitraum vom 01.09.2019 bis 31.01.2020 Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II unter Anrechnung von Einkommen des Klägers zu 2) im vom SG tenorierten Umfang.
18
Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II (in der vorliegend maßgeblichen Fassung vom 13.05.2011) erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Alg II, nichterwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten Sozialgeld. Die Leistungen umfassen den Regelbedarf, Mehrbedarfe und den Bedarf für Unterkunft und Heizung (§ 19 Abs. 1 Satz 3 SGB II). Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts werden in Höhe dieser Bedarfe erbracht, soweit diese nicht durch das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen gedeckt sind (§ 19 Abs. 3 Satz 1 SGB II). Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II (in der vorliegend maßgeblichen Fassung vom 08.07.2019) ist für eine Leistungsberechtigung neben dem Lebensalter (Nr. 1), der Erwerbsfähigkeit (Nr. 2) sowie dem gewöhnlichen Aufenthalt im Inland (Nr. 4) – all das steht hier zu Recht nicht im Streit – die Hilfebedürftigkeit Tatbestandsvoraussetzung (Nr. 3). Hilfebedürftig ist gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Bei Personen, die – wie die Kläger – in einer Bedarfsgemeinschaft leben, sind auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen. Bei unverheirateten Kindern, die mit ihren Eltern oder einem Elternteil in einer Bedarfsgemeinschaft leben und die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen sichern können, sind auch das Einkommen und Vermögen der Eltern oder des Elternteils und dessen in Bedarfsgemeinschaft lebender Partnerin oder lebenden Partners zu berücksichtigen.
19
Als Einkommen sind nach § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II (in der vorliegend maßgeblichen Fassung vom 26.07.2016) Einnahmen in Geld abzüglich der nach § 11b SGB II abzusetzenden Beträge mit Ausnahme der nach § 11a SGB II genannten Einnahmen zu berücksichtigen.
20
Zwischen den Beteiligten im Streit steht vorliegend die Höhe des beim Kläger zu 2) anzurechnenden Einkommens aus Erwerbstätigkeit. Der Beklagte hat hierbei – wie das SG zutreffend festgestellt hat – zu Unrecht das Nettoeinkommen einschließlich der pfändbaren Beträge, die nicht an den Kläger zu 2) ausgezahlt, sondern direkt vom Arbeitgeber an den Insolvenzverwalter abgeführt wurden, angerechnet, denn der direkt an den Insolvenzverwalter abgeführte Teil des Einkommens stand den Klägern nicht tatsächlich zur Verfügung und war damit kein „bereites Mittel“.
21
Einnahmen können nur dann als Einkommen berücksichtigt werden, wenn sie als ein zur Bedarfsdeckung „bereites Mittel“ zur Verfügung stehen (BSG, Urteil vom 23.08.2011 – B 14 AS 165/10 R –). Nur ein tatsächlich zum Lebensunterhalt einsetzbarer wertmäßiger Zuwachs macht Hilfe unnötig. Auf die Selbstleistungsfähigkeit bzw. den Nachrang der Grundsicherung kann nur verwiesen werden, wer seine existenziellen Bedürfnisse in der konkreten Lebenssituation wirklich selbst befriedigen kann. Es kommt – und das gilt für Einkommen und Vermögen gleichermaßen – daher nicht nur darauf an, ob Vermögen bereits vorhanden ist oder sich eine Vermögensmehrung in Form von Einnahmen feststellen lässt, sondern dieses Gesamtvermögen muss auch zur Bestreitung des Lebensunterhalts eingesetzt werden können (vgl. Schmidt/Lange in: Luik/Harich, SGB II 6. Auflage § 11 Rn. 25). Dies ist hinsichtlich der vom Arbeitgeber des Klägers zu 2) während des Restschuldbefreiungsverfahrens direkt an den Insolvenzverwalter abgeführten pfändbaren Beträge aber gerade nicht der Fall. Um Restschuldbefreiung zu erlangen, muss der Schuldner im Zeitraum der Wohlverhaltensphase von sechs Jahren seine pfändbaren Forderungen an den Treuhänder abtreten (§§ 287 Abs. 2, 295 Satz 1 Nr. 4 Insolvenzordnung – InsO – in der vorliegend maßgeblichen Fassung vom 15.07.2013). Kommt er dem nach, liegen keine bereiten Mittel vor (vgl. Schmidt/Lange a.a.O., Rn. 27 unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 12.06.2013 B 14 AS – 73/12 R – juris; vgl. entsprechend zur Pfändung: BSG, Urteil vom 19.08.2015 – B 14 AS 43/14 R –, Urteil vom 10.05.2011 – B 4 KG 1/10 R – beide zitiert nach juris).
22
Soweit der Beklagten vorträgt, der Kläger zu 2) habe im Rahmen der Selbsthilfe die Obliegenheit gehabt, gegen die rechtswidrige Pfändung seines Arbeitseinkommens vorzugehen, geht dies – unabhängig davon, dass der Abzweigung an den Insolvenzverwalter keine Pfändungs- und Überweisungsbeschluss, sondern eine Abtretung gemäß § 287 Abs. 2 InsO zugrunde lag – fehl. Weder war es dem Kläger zu 2) möglich, die bereits im Rahmen des Antrags auf Restschuldbefreiung erfolgte Abtretung rückgängig zu machen, noch die Höhe der pfändbaren Beträge zu verringern.
23
Die Abtretung gemäß § 287 Abs. 2 InsO umfasst die pfändbaren Bezüge des Schuldners. Die Pfändbarkeit richtet sich nach den allgemeinen Vorschriften, insbesondere nach den §§ 850, 850a, 850c, 850e, 850f Abs. 1 ZPO (§ 36 Abs. 1 Satz 2 InsO i. V. m. § 292 Abs. 1 Satz 3 InsO). Gemäß § 292 Abs. 1 Satz 3 InsO i. V. m. § 36 Abs. 4 InsO kann bei dem Insolvenzgericht die Heraufsetzung des pfändungsfreien Betrags auf den Sozialhilfesatz entsprechend § 850f ZPO beantragt werden (vgl. Wenzel in: Prütting/Bork/Jacoby, KPB – Kommentar zur Insolvenzordnung, 101. Lieferung, § 287 InsO, Rn. 57).
24
Ein solcher Antrag setzt nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO jedoch voraus, dass bei Anwendung der Pfändungsfreigrenzen gemäß § 850c ZPO der notwendige Lebensunterhalt nach Kapitel 3 Abschnitt 2 des SGB II für den Schuldner oder für Personen, denen er gesetzlich zum Unterhalt verpflichtet ist nicht gedeckt ist. Der notwendige Lebensunterhalt Dritter ist bei einem Antrag nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO damit nur zu berücksichtigen, wenn der Schuldner ihnen gegenüber gesetzlich unterhaltspflichtig ist (Seibel in: Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Auflage 2024, § 850f ZPO, Rn. 2b). Vertragliche oder faktische Unterhaltsleistungen, auch solche im Rahmen von Bedarfsgemeinschaften (§ 7 Abs. 3 SGB II), Einsatzgemeinschaften (§§ 19, 20, 27, 43 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII)) oder Haushaltsgemeinschaften (§ 39 SGB XII), bleiben hier unbeachtlich (Seibel a.a.O. unter Hinweis auf BTDrs. 19/23171, 30).
25
Ein Antrag des Klägers zu 2) nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO beim Insolvenzgericht wäre im streitgegenständlichen Zeitraum in Ermangelung gesetzlicher Unterhaltspflichten gegenüber den Klägerinnen zu 1), 3) und 4) damit nicht erfolgversprechend gewesen. Die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) haben erst am 20.02.2020 geheiratet. Der eigene Bedarf des Klägers zu 2) war – auch nach Abzug der pfändbaren Beträge – durch sein Einkommen vollständig gedeckt. Vor diesem Hintergrund verfängt überdies auch der Hinweis des Beklagten auf die Unpfändbarkeit des zur Deckung des Bedarfs notwendigen Einkommens nicht.
26
Eine andere Rechtsauffassung ergibt sich weder aus der vom Beklagten angeführten Entscheidung des BSG vom 24.05.2017 (Az.: B 14 AS 32/16 R) – dieser lag mit einem Arbeitgeberdarlehen ein anderer Sachverhalt zugrunde – noch aus dem vom Beklagten vorgelegten Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 15.01.2020 (Az. VII ZB 5/19), denn dieser betrifft allein die Ermittlung des Pfändungsfreibetrags nach § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO im Rahmen einer Unterhaltspfändung.
27
Die vorliegend vom Beklagten vertretene Rechtsauffassung steht überdies in Widerspruch zu den für den Beklagten maßgeblichen Verwaltungsvorschriften (vgl. Beispielberechnung Variante 2 zum Thema „Tilgung von Schulden durch Pfändung von Arbeitseinkommen“; www.arbeitsagentur.de/wissensdatenbank-sgbii/11-zu-berücksichtigendes-einkommen; aufgerufen am 27.11.2024).
28
Der Beklagte wird vor Erlass des Bewilligungsbescheides die Höhe der anzurechnenden UVG-Leistungen nochmals zu überprüfen haben. Eine fiktive Anrechnung von tatsächlich nicht zugeflossenen UVG-Leistungen bei L (vgl. Vergleichsberechnung vom 16.12.2021) dürfte rechtswidrig sein.
29
Nach alledem war das Urteil des SG teilweise aufzuheben und im Übrigen die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
30
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
31
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.