Inhalt

SG Bayreuth, Gerichtsbescheid v. 14.06.2024 – S 8 P 10/23
Titel:

Pflegegrad, Widerspruchsbescheid, Pflegebedürftigkeit, Leistungen aus der Pflegeversicherung, Elektronischer Rechtsverkehr, Außergerichtliche Kosten, Sozialgerichtsgesetz, Erhebliche Beeinträchtigung, Psychische Beeinträchtigung, Geringfügige Beeinträchtigung, Entscheidung durch Gerichtsbescheid, Sozialgerichte, Begutachtungsrichtlinien, Kostenentscheidung, Berufungsschrift, Sachverständigengutachten, Rechtsmittelbelehrung, Erörterung der Sache, Gutachten, medizinische Begutachtung

Schlagworte:
Pflegegrad, Selbständigkeit, Gutachten, Sozialgericht, Pflegebedürftigkeit, Klageabweisung, Kostenentscheidung
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Urteil vom 01.07.2025 – L 5 P 60/24
BSG Kassel, Beschluss vom 10.09.2025 – B 3 P 23/25 AR
Fundstelle:
BeckRS 2024, 49945

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung ab Antragstellung am 07.03.22.
2
Der Kläger ist 1960 geboren und bei der Beklagten pflegeversichert.
3
Der Kläger beantragte am 07.03.22 Leistungen aus der Pflegeversicherung. Die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst Bayern (MD) am 30.06.22 im Wege eines Telefoninterviews führte zu dem Ergebnis, dass mit 5,00 gewichteten Punkten nicht die Voraussetzungen für einen Pflegegrad erfüllt waren.
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Mit Bescheid vom 01.07.22 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der Pflegeversicherung ab. Nach den Feststellungen des MD bestehe kein Pflegegrad. Mit 5,00 Punkten werde der für einen Pflegegrad erforderliche Wert von 12,5 gewichteten Punkten nicht erreicht.
5
Dagegen legte der Kläger am 27.07.22 Widerspruch ein.
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Die Beklagte beauftragte daraufhin den MD mit einer Überprüfung. Diese erfolgte durch Aktenlage. In dem Gutachten vom 02.11.22 kam der MD zu dem Ergebnis, dass das Vorgutachten vollumfänglich zu bestätigen sei.
7
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.12.22 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Als Begründung führte sie unter Bezugnahme auf die Gutachten des MD aus, dass nach den geltenden Begutachtungsrichtlinien die Beeinträchtigungen Selbständigkeit entsprechend der Module maßgebend seien. Nach den persönlichen Feststellungen der beiden voneinander unabhängigen Gutachter des MD werde die für einen Pflegegrad erforderliche Gesamtpunktzahl von 12,5 gewichteten Punkten nicht erreicht.
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Mit Schreiben vom 10.01.23, eingegangen am 16.01.23, erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Bayreuth. Als Begründung trug er vor, dass er starke Schmerzen hätte und auf starke Medikamente und Hilfsmittel angewiesen sei. Sein Gesundheitszustand hätte sich verschlimmert, die Bewegungen seien eingeschränkt.
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Das Gericht hat Befundberichte des Dr. D., M., die Schwerbehindertenakte des ZBFS sowie die Grundsicherungsakte des Landratsamtes W. beigezogen.
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Mit – aufgrund Todesfall der ursprünglichen Gutachterin – geänderter Beweisanordnung vom 25.10.23 hat das Gericht den Sachverständigen, Herrn Dr. S., mit einem Gutachten im Wege eines Hausbesuchs bezüglich der Pflegebedürftigkeit beauftragt. Dieser kam in seinem Gutachten vom 17.02.24 zu dem Ergebnis, dass mit 5,00 gewichteten Punkten die Voraussetzungen für einen Pflegegrad nicht erfüllt seien.
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Im Erörterungstermin vom 13.06.24 hielt der Kläger dennoch an der Klage fest.
12
Der Kläger beantragt folglich sinngemäß:
13
Der Bescheid der Beklagten vom 01.07.22 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.22 wird aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger Leistungen nach den §§ 36, 37 SGB XI i.V.m § 15 Abs. 3 Nr. 3 SGB XI nach einem Pflegegrad zu gewähren.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
15
Als Begründung verweist sie im Wesentlichen auf ihren Widerspruchsbescheid und das Ergebnis der medizinischen Begutachtungen des MD sowie des gerichtlichen Gutachters Dr. S..
16
Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten ergänzend auf den Inhalt der beigezogenen Beklagtenakte, der eingegangenen Befundberichte, der eingegangenen Unterlagen, der eingegangenen Akten, des ärztlichen Sachverständigengutachtens, der Niederschrift über den Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 13.06.24 sowie der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.
17
Die Beteiligten wurden im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 13.06.24 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie zum sachlich und örtlich zuständigen Sozialgericht Bayreuth fristgerecht erhoben worden. In der Sache jedoch ist sie unbegründet. Der Bescheid vom 01.07.22 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.22 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger kann Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach einem Pflegegrad mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen nicht beanspruchen.
19
Gemäß § 105 SGG kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. Die Beteiligten wurden im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage am 13.06.24 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nach § 105 SGG angehört und haben sich hiermit einverstanden erklärt.
20
Der Bescheid der Beklagten vom 01.07.22 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.12.22 hat sich als rechtmäßig erwiesen.
21
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Leistungen nach einem Pflegegrad aus der sozialen Pflegeversicherung.
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Grundvoraussetzungen für Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung ist das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit gem. § 14 Sozialgesetzbuch – Elftes Buch (SGB XI). Pflegebedürftig im Sinn des SGB XI sind Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in § 15 SGB XI festgelegten Schwere bestehen.
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Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten sind nach § 14 Abs. 2 SGB XI die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien:
1. Mobilität: Positionswechsel im Bett, Halten einer stabilen Sitzposition, Umsetzen, Fortbewegen innerhalb des Wohnbereichs, Treppensteigen;
2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten: Erkennen von Personen aus dem näheren Umfeld, örtliche Orientierung, zeitliche Orientierung, Erinnern an wesentliche Ereignisse oder Beobachtungen, Steuern von mehrschrittigen Alltagshandlungen, Treffen von Entscheidungen im Alltagsleben, Verstehen von Sachverhalten und Informationen, Erkennen von Risiken und Gefahren, Mitteilen von elementaren Bedürfnissen, Verstehen von Aufforderungen, Beteiligen an einem Gespräch;
3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen: motorisch geprägte Verhaltensauffälligkeiten, nächtliche Unruhe, selbstschädigendes und autoaggressives Verhalten, Beschädigen von Gegenständen, physisch aggressives Verhalten gegenüber anderen Personen, verbale Aggression, andere pflegerelevante vokale Auffälligkeiten, Abwehr pflegerischer und anderer unterstützender Maßnahmen, Wahnvorstellungen, Ängste, Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage, sozial inadäquate Verhaltensweisen, sonstige pflegerelevante inadäquate Handlungen;
4. Selbstversorgung: Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden des Oberkörpers, An- und Auskleiden des Unterkörpers, mundgerechtes Zubereiten der Nahrung und Eingießen von Getränken, Essen, Trinken, Benutzen einer Toilette oder eines Toilettenstuhls, Bewältigen der Folgen einer Harninkontinenz und Umgang mit Dauerkatheter und Urostoma, Bewältigen der Folgen einer Stuhlinkontinenz und Umgang mit Stoma, Ernährung parenteral oder über Sonde, Bestehen gravierender Probleme bei der Nahrungsaufnahme bei Kindern bis zu 18 Monaten, die einen außergewöhnlich pflegeintensiven Hilfebedarf auslösen;
5. Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen:
a) in Bezug auf Medikation, Injektionen, Versorgung intravenöser Zugänge, Absaugen und Sauerstoffgabe, Einreibungen sowie Kälte- und Wärmeanwendungen, Messung und Deutung von Körperzuständen, körpernahe Hilfsmittel,
b) in Bezug auf Verbandswechsel und Wundversorgung, Versorgung mit Stoma, regelmäßige Einmalkatheterisierung und Nutzung von Abführmethoden, Therapiemaßnahmen in häuslicher Umgebung,
c) in Bezug auf zeit- und technikintensive Maßnahmen in häuslicher Umgebung, Arztbesuche, Besuche anderer medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, zeitlich ausgedehnte Besuche medizinischer oder therapeutischer Einrichtungen, Besuch von Einrichtungen zur Frühförderung bei Kindern sowie
d) in Bezug auf das Einhalten einer Diät oder anderer krankheits- oder therapiebedingter Verhaltensvorschriften;
6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte: Gestaltung des Tagesablaufs und Anpassung an Veränderungen, Ruhen und Schlafen, Sichbeschäftigen, Vornehmen von in die Zukunft gerichteten Planungen, Interaktion mit Personen im direkten Kontakt, Kontaktpflege zu Personen außerhalb des direkten Umfelds.
24
Nach Abs. 3 werden Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, die dazu führen, dass die Haushaltsführung nicht mehr ohne Hilfe bewältigt werden kann, bei den Kriterien der in Absatz 2 genannten Bereiche berücksichtigt.
25
Vorliegend ist nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass beim Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum ab 07.03.22 die für das Erreichen eines Pflegegrads erforderliche Einschränkung in der Selbständigkeit bestand.
26
Der Pflegegrad hängt von der Schwere der Pflegebedürftigkeit und daher nach dem neuen seit 01.01.2017 geltenden Verständnis von Pflegebedürftigkeit von der Schwere der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten ab (§ 15 SGB XI). Der Grad der Selbständigkeit bzw. der Beeinträchtigungen wird in der Regel danach bemessen, in welchem Umfang der Mensch seinen Alltag eigenständig bewältigen kann bzw. in welchem Maße er bei Aktivitäten die Unterstützung anderer Personen benötigt. Die menschlichen Fähigkeiten und Aspekte selbständigen Handelns werden entsprechend der sechs Module nach den in § 14 Abs. 2 SGB XI aufgeführten Kriterien bewertet.
27
Nach § 14 Abs. 2 S. 2 SGB XI sind in jedem Modul für die in den Bereichen genannten Kriterien bestimmte Kategorien vorgesehen, wobei mit Kategorien die Ausprägungen bzw. Schweregrade der Beeinträchtigungen der Selbständigkeit und der Fähigkeiten gemeint sind. Den jeweiligen Kategorien sind wiederum für alle einzelnen Kriterien pflegefachlich fundierte Einzelpunkte zuzuordnen. Die Kategorien erfassen dabei in den verschiedenen Modulen unterschiedliche Aspekte. In den Modulen 1 (Mobilität), 4 (Selbstversorgung) und 6 (Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte) geht es um den Grad der Selbständigkeit. Im Modul 2 (kognitive und kommunikative Fähigkeiten) ist das Ausmaß, in dem die jeweilige Fähigkeit vorhanden ist, die maßgebende Kategorie. Die Bewertung richtet sich danach, ob eine Fähigkeit vorhanden bzw. unbeeinträchtigt, ob sie größtenteils, in geringem Maße oder nicht vorhanden ist. Im Modul 3 (Verhaltensweisen und psychische Problemlagen) richtet sich die Zuordnung zu einer Kategorie nach der Häufigkeit, mit der die aufgeführten Verhaltensweisen und psychische Problemlagen auftreten. Die Berücksichtigung von Fähigkeiten beim Umgang mit krankheits- und therapiebedingten Anforderungen und Belastungen im Modul 5 (Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen) trägt allein der Erkenntnis Rechnung, dass ein großer Teil der hier aufgeführten Maßnahmen und Handlungen von erkrankten Menschen ganz oder teilweise eigenständig durchgeführt werden können, sofern sie (noch) über die dazu nötigen Ressourcen verfügen. Mit dem in Modul 5 aufgeführten Bereich ist häufig ein Hilfebedarf bei der Anleitung, Motivation oder Schulung verbunden. Es geht es jedoch nicht darum, den Bedarf an Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege bzw. Behandlungspflege nach dem SGB V einzuschätzen. Aus den in den jeweiligen Modulen erreichten Einzelpunkten werden entsprechend § 15 SGB XI i.V.m. der Anlage 2 gewichtete Punkte zugeordnet.
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Die Zuordnung zum Pflegegrad 1 setzt nach § 15 Abs. 2 S. 3 Nr. 2; Abs. 3 S. 4 Nr. 1 SGB XI voraus, dass ein Punktwert der gewichteten Punkte von mindestens 12,5 erreicht wird (geringe Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten), die Zuordnung zum Pflegegrad 2 setzt nach § 15 Abs. 2 S. 3 Nr. 3; Abs. 3 S. 4 Nr. 2 SGB XI voraus, dass ein Punktwert von mindestens 27 gewichteten Punkten erreicht wird (erhebliche Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten).
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Die Voraussetzungen für einen Pflegegrad sind im vorliegenden Fall nicht erfüllt. Nach dem ausführlichen und schlüssigen Gutachten vom 17.02.24 des gerichtlich bestellten Sachverständigen Herrn Dr. S. bestand beim Kläger ab 07.03.22 keine geringe Beeinträchtigung der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten, so dass sich kein Pflegegrad ergibt. Dieser Punktwert wird auch gestützt durch die Gutachten des MD und die eingeholten Befundberichte.
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Der gerichtliche Sachverständige hat die bei dem Kläger vorliegenden Limitationen erfasst und entsprechend der Vorgabe der Richtlinie des MDS eingeordnet. Die Richtlinie formuliert genaue Definitionen, wann in den Modulen 1, 4 und 6 eine Maßnahme selbständig / überwiegend selbständig / überwiegend unselbständig / unselbständig durchgeführt werden kann bzw. wann in Modul 2 eine Fähigkeit vorhanden / größtenteils vorhanden / in geringem Maße vorhanden / nicht vorhanden ist. Auch die Module 3 und 5 werden durch die Angabe der Häufigkeit eindeutig definiert. Der Gutachter hat diese Vorgaben seinem Gutachten zugrunde gelegt und jeden Punkt im Gutachten überzeugend begründet. Die Begründung der einzelnen Punkte in den Modulen ist unter Berücksichtigung der vorliegenden Befunde sowie der Feststellungen der Begutachtung nachvollziehbar. Die glaubhaft vorgetragenen Schmerzen und Bewegungseinschränkungen des Klägers beeinträchtigen seine pflegerelevante Selbständigkeit damit nicht in einem Maße, das zur Zuerkennung eines Pflegegrades führen kann. Die Schwierigkeiten, insbesondere auch bei der hauswirtschaftlichen Versorgung sind glaubhaft und nachvollziehbar, spielen jedoch bei der Zuerkennung eines Pflegegrades keine Rolle.
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Die Klage war daher abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.