Titel:
Allgemeinverbindlicherklärung, Streikmaßnahmen, Tarifvertragliche, Tarifvertragspartei, Allgemeinverbindlicher Tarifvertrag, Tarifvertragsverhandlungen, Tarifvertragsgesetz, Offenkundige Rechtswidrigkeit, Feststellung der Rechtswidrigkeit, Offensichtliche Rechtswidrigkeit, Klageantrag, Einschätzungsprärogative, Nichttarifgebundene, Feststellungsinteresse, Arbeitskampfmaßnahmen, Arbeitskampfrichtlinien, Arbeitskampfmittel, Kampfziele, Arbeitgeberverbände, negative Koalitionsfreiheit
Schlagworte:
Arbeitskampf, Streikrecht, Tarifautonomie, Allgemeinverbindlicherklärung, Verhältnismäßigkeit, Koalitionsfreiheit, Schadensersatz
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 08.04.2025 – 7 SLa 213/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 49747
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Der Streitwert wird festgesetzt auf 510.000,00 €.
4. Soweit die Berufung nicht von Gesetzes wegen statthaft ist, wird sie nicht gesondert zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um Schadensersatz sowie um die Feststellung der Rechtswidrigkeit von Streikaufrufen der Beklagten in Betrieben der Klägerin.
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Die Klägerin ist ein Großhandelsunternehmen mit Sitz in … Sie unterhält in diverse Distributionsbetriebe, so die Betriebe in …, … bei, … Die Klägerin ist Mitglied im Arbeitgeberverband Großhandel in Bayern. Aufgrund ihrer Verbandsmitgliedschaft wendet die Klägerin in ihren bayerischen Betrieben den allgemeinverbindlichen Manteltarifvertrag für den bayerischen Großhandel sowie den Gehaltstarifvertrag für den bayerischen Großhandel an. Dabei differenziert die Klägerin bei Anwendung des Gehaltstarifvertrages nicht danach, ob die bei ihr beschäftigten Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind oder nicht, sie wendet den Gehaltstarifvertrag vielmehr einheitlich für alle Mitarbeiter an.
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Die Beklagte ist eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft.
4
Der Gehaltstarifvertrag des bayerischen Großhandels lief im Frühjahr 2023 aus. Infolgedessen nahmen die Tarifvertragsparteien ab April 2023 Verhandlungen über einen neuen Gehaltstarifvertrag auf.
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Mit Schreiben vom 14.03.2023 gab die Beklagte ihre Forderungen für die Tarifrunde 2023 bekannt. Diese waren:
- Tabellenwirksame Erhöhung der Entgelte um 13%
- Erhöhung der Ausbildungsvergütung um 250 €
- Laufzeit des Tarifvertrages 12 Monate und
- in einer gemeinsamen Initiative soll die Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages erreicht werden.
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Da die Gehaltstarifvertragsverhandlungen bis Mai 2023 nicht zu einer nennenswerten Annäherung zwischen den Tarifvertragsparteien führten, rief die Beklagte in den einzelnen Betrieben der Klägerin zu Streikmaßnahmen auf. Dies betraf … und … ab dem 16.05.2023, den Betrieb … ab dem 23.05.2023 und den Betrieb … ab 26.05.2023.
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In den Streikaufrufen findet sich jeweils der Hinweis: „Unser Ziel ist eine akzeptable Tarifeinigung auf Grundlage der ver.di Forderungen“.
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Bis zur Klageeinreichung gab es 209 Streiktage bzw. Streiks von rund acht Wochen am Stück. Eine Urabstimmung erfolgte nicht.
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Am 05.07.2023 wies der Klägervertreter den Verhandlungsführer der Beklagten, Herrn …, darauf hin, dass er das Streikziel eines gemeinsamen Antrags auf Allgemeinverbindlicherklärung für rechtswidrig halte und forderte ihn auf, die Streikmaßnahmen zu beenden.
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Die Klägerin reichte bei den Arbeitsgerichten Würzburg – Kammer Schweinfurt –, Nürnberg – Gerichtstag … –, Nürnberg und … – Kammer … – Anträge auf einstweilige Verfügung zur Untersagung der Streikmaßnahmen mit dem Ziel einer gemeinsamen Erklärung zur Allgemeinverbindlichkeit ein. Bis auf das Arbeitsgericht Nürnberg wiesen die angerufenen Gerichte die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ab. Zweitinstanzlich wurden die Anträge der Klägerin durch das Landesarbeitsgericht Nürnberg letztlich mit der Begründung abgewiesen, dass eine offensichtliche Rechtswidrigkeit des beanstandeten Streikziels (gemeinsame Initiative zur Erreichung der Allgemeinverbindlichkeit) nicht ersichtlich sei.
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Eine gemeinsame Erklärung der Tarifvertragsparteien zur Erreichung der Allgemeinverbindlicherklärung war bereits in früheren Verhandlungsrunden ein Streikziel der Beklagten.
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Die Klägerin ist der Auffassung, die Streikmaßnahmen der Beklagten seien einerseits wegen des Streikziels einer gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlicherklärung, andererseits aufgrund des Umfangs der Streikmaßnahmen und aufgrund der Tatsache, dass nur ein Unternehmen im Arbeitgeberverband Großhandel in Bayern im Übermaß bestreikt werde, als rechtswidrig anzusehen.
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Das Ziel einer gemeinsamen Erklärung zur Erreichung der Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrags könne nicht durch Streik erreicht werden. Der Gesetzeswortlaut verbiete es, dass die Erklärung durch einen Streik erzwungen werden könne. Voraussetzung für die Einleitung des Verfahrens zur Allgemeinverbindlicherklärung sei ein gemeinsamer Antrag der Tarifvertragsparteien. Ein solcher könne nur dann angenommen werden, wenn beide Parteien ihn unbeeinflusst stellten. Ein Antrag, der durch Streikmaßnahmen erwirkt worden sei, sei jedoch kein Antrag aufgrund einer unbeeinflussten Willensentscheidung. Die Annahme, die Erklärung im Sinne des § 5 Abs. 1 TVG könne durch Streik erwirkt oder beeinflusst werden, führe dazu, dass ein vom Tarifvertragsgesetz nicht gewollter Wechsel der Verantwortlichkeiten herbeigeführt werde.
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Dadurch, dass die Klägerin acht Wochen am Stück bestreikt würde, bliebe ihr de facto keine operative Möglichkeit zur Kompensation der Lieferausfälle. Derartige Streikmaßnahmen ohne Verschnaufpause seien unverhältnismäßig und exzessiv.
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Auch würden nicht alle Mitglieder des Arbeitgeberverbands und insbesondere nicht alle im gleichen Maße bestreikt. Die Streikmaßnahmen, die vornehmlich die Betriebe der Klägerin beträfen, stellten insoweit ein nicht zu rechtfertigendes Übermaß dar.
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Auch müsse bei der Prüfung, ob die Streikaufrufe wirksam seien oder nicht, berücksichtigt werden, dass Streiks in manchen Betrieben am Freitag endeten und am Montag wieder begonnen hätten. Dies habe dazu geführt, dass die Mitarbeiter, die am Streik teilgenommen hätten, am Sonntag gearbeitet hätten und so mit der höheren Vergütung wegen Sonntagsarbeit bezahlt worden seien.
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Darüber hinaus sei es unnötig, die Klägerin zu bestreiken, da sie alle Arbeitnehmer gleich behandle, unabhängig davon, ob diese tarifgebunden seien oder nicht, und den Tarifvertrag bereits anwende.
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Die Streikmaßnahmen seien auch deshalb rechtswidrig, da es nicht zulässig sei, Streiks in diesem Umfang ohne Urabstimmung durchzuführen.
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Pro Streiktag entstünden ihr 66.000 € an Schaden, der zu erwartende Schaden aufgrund der Streikmaßnahmen der Beklagten werde den Betrag von 13 Mio. € deutlich überschreiten. Für diesen Schaden müsse die Beklagte einstehen, da ihr durch die Hinweise des Klägervertreters sowie die Entscheidung des Arbeitsgerichts Nürnberg bekannt gewesen sei, dass eines der Streikziele rechtswidrig sei. Ungeachtet dessen habe sie ihre Streiks fortgesetzt.
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Dabei könne sich die Beklagte nicht darauf berufen, dass die Frage der Rechtswidrigkeit eines ihrer Streikziele bislang höchstrichterlich nicht geklärt sei und dass es Entscheidungen gebe, wonach dieses Streikziel nicht offensichtlich rechtswidrig sei. Die Beklagte könne sich nicht darauf zurückziehen, dass die Frage der Rechtmäßigkeit ungeklärt sei. Denn verbindliche arbeitsgerichtliche Entscheidungen seien nicht erforderlich, um zu beurteilen, ob ein Streikaufruf rechtswidrig sei oder nicht. Streikmaßnahmen könnten entweder nur rechtswidrig oder rechtmäßig sein.
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Es sei zu befürchten, dass die Beklagte das Streikziel der Erreichung einer Allgemeinverbindlicherklärung auch zukünftig durch Streik werde erreichen wollen. Es müsse daher Klarheit hergestellt werden, ob dieses Streikziel rechtswidrig sei, damit über die Rechtswidrigkeit in Zukunft im Rahmen einer einstweiligen Verfügung nicht mehr gestritten werden müsse.
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Die Klägerin hat beantragt,
1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche Schäden zu ersetzen, die der Klägerin durch Streikaufrufe der Beklagten anlässlich der Gehaltstarifverhandlungen für den Gehaltstarifvertrag im bayerischen Großhandel in den Betrieben
- … durch Streikaufrufe ab …Mai 2023 und
- im Betrieb … ab … Mai 2023 entstanden sind.
2. Es wird festgestellt, dass die Streikaufrufe der Beklagten in den Betrieben der Klägerin
- …, K.str. 2… mit dem Streikziel „gemeinsame Initiative zur Allgemeinverbindlichkeit des Entgelttarifvertrages im Großhandel“ rechtswidrig sind.
3. Es wird festgestellt, dass die Streikaufrufe der Beklagten in den Betrieben der Klägerin
- ., K.str. … unverhältnismäßig und damit rechtswidrig sind.
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Die Beklagte hat beantragt,
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Die Beklagte ist der Auffassung, die von ihr durchgeführten Streikmaßnahmen seien erforderlich und angemessen, da ohne Druck kein akzeptables Verhandlungsergebnis erzielt werden könne.
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Die Forderung nach einer gemeinsamen Erklärung zur Allgemeinverbindlicherklärung sei rechtmäßig. Eine solche Initiative sei von ihr auch in früheren Verhandlungsrunden bereits gefordert und im Nachgang zum Teil auch vereinbart worden.
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Was tarifvertraglich regelbar sei, sei grundsätzlich auch erstreikbar. Somit seien auch schuldrechtliche Regelungen grundsätzlich erstreikbar. Das geltende Recht unterscheide nirgendwo zwischen erkämpfbaren und nicht erkämpfbaren Teilen eines Tarifvertrages. Der schuldrechtliche Teil stehe vielmehr gleichrangig neben dem normativen. So sei beispielsweise die Laufzeit eines Tarifvertrags als schuldrechtliche Regelung regelmäßig Gegenstand von Tarifauseinandersetzungen und werde als solche nicht als unzulässig angesehen. Auch die Forderung nach einer gemeinsamen Beantragung einer Allgemeinverbindlicherklärung sei dem schuldrechtlichen Teil eines Tarifvertrags zuzuordnen.
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Der Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung sei Teil der Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, nämlich die Möglichkeit zur Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, und finde seine Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG. Die Allgemeinverbindlicherklärung sei ein Instrument, das die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abstützen solle, indem sie den Normen der Tarifverträge zu größerer Durchsetzungskraft verhelfe. Somit habe der Gesetzgeber mit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung die Rechte der Koalitionsparteien sichern und die tarifliche Normsetzung stärken, jedoch gerade kein Vetorecht einer der Tarifvertragsparteien einführen wollen.
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Die Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG dergestalt, dass ein gemeinsamer Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung keine legitime Streikforderung sein könne, verletze die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit der Gewerkschaft.
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Doch selbst wenn man das Streikziel nach einer gemeinsamen Initiative einer Allgemeinverbindlicherklärung für rechtswidrig erachte, mache die Rechtswidrigkeit nur einer Forderung nicht den Streik als ganzen rechtswidrig. Denn die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur Gesamtrechtswidrigkeit eines Streiks bei der Rechtswidrigkeit einzelner Streikforderungen sei nicht mit Art. 11 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR zu vereinbaren.
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Die Forderung nach einer gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlicherklärung sei lediglich eine flankierende Nebenforderung wie z.B. die Forderung nach einer Mindest- oder Höchstlaufzeit des Tarifvertrags. Nach einer Entscheidung des EGMR können schon einzelne rechtswidrige Haupt- oder Nebenforderungen einen Streik im Ganzen nicht rechtswidrig machen. Dies könne dann erst recht nicht für eine bloß flankierende Nebenforderung gelten. Somit sei die Theorie der Gesamtrechtswidrigkeit hier nicht anzuwenden.
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Darüber hinaus sei der Streik nicht unverhältnismäßig. Die Gewerkschaft könne nach dem Prinzip der Kampfmittelfreiheit frei darüber entscheiden, ob sie nur kurze Warnstreiks oder einen auf längere Dauer angelegten Erzwingungsstreik durchführen wolle und ob und wann sie gegen einzelne Unternehmen streike und andere verschone. All dies unterliege ihrer Einschätzungsprärogative.
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Auch eine fehlende Urabstimmung führe nicht zur Rechtswidrigkeit des Streiks. Insoweit gebe es keine Pflicht zur Urabstimmung. Die Durchführung einer Urabstimmung liege vielmehr im Ermessen des Bundesvorstands der Beklagten. Bei der Urabstimmung gehe es nur um einen das Innenverhältnis der Mitglieder zu ihrer Organisation betreffenden Vorgang.
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Darüber hinaus wäre auch bei einem rechtswidrigen Streit zur Begründung von Schadensersatzforderungen ein Verschulden seitens der Beklagten nötig. Dies liege jedenfalls nicht vor. Die von der Klägerin angestrengten Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz blieben letztlich alle erfolglos. Zwar sei in den einstweiligen Verfügungsverfahren nur summarisch und auch nur die offenkundige Rechtswidrigkeit der Streikmaßnahmen geprüft worden, die Gerichte hätten sich jedoch jeweils sehr detailliert mit den aufgeworfenen Fragen auseinandergesetzt. Sich so zu verhalten, wie es vier Arbeitsgerichte und ein Landesarbeitsgericht in ihren Entscheidungen für rechtmäßig erklärt hätten, könne nicht vorwerfbar sein. Sollte eine künftige Rechtsprechung zu einem anderen Ergebnis gelangen, läge seitens der Beklagten jedenfalls ein unverschuldeter Verbotsirrtum vor.
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Darüber hinaus habe sie von mehreren Hochschullehrern Rechtsgutachten eingeholt. Auch diese Gutachten seien unter umfassender Heranziehung und Beachtung von Rechtsprechung und Literatur zum Ergebnis gekommen, dass gegen einen Streik um eine gemeinsame Antragstellung zu Allgemeinverbindlicherklärung keine rechtlichen Bedenken bestünden.
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Hinsichtlich des weiteren Parteivorbringens wird verwiesen auf die Klageschrift vom 07.08.2023 sowie die gewechselten Schriftsätze der Parteien vom 17.01.2024, 13.03.2024, 31.05.2024, 11.06.2024 und 12.06.2024 jeweils nebst Anlagen.
Entscheidungsgründe
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1. Die Klage ist hinsichtlich des Klageantrags zu 1 zulässig.
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a) Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist eröffnet gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG.
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Die örtliche Zuständigkeit des Arbeitsgerichts Würzburg – Kammer Schweinfurt – folgt aus § 46 Abs. 2 ArbGG, § 32 ZPO.
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b) Hinsichtlich des Klageantrags zu 1 ist auch ein Feststellungsinteresse gegeben. Ein solches ist zu bejahen, wenn bei Verletzung eines absoluten Rechts ein künftiger Schaden möglich ist, Art und Umfang des Schadens jedoch noch ungewiss sind. Dies ist hier der Fall. Zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung waren die Tarifvertragsverhandlungen noch nicht abgeschlossen und die Klägerin musste mit weiteren Streikmaßnahmen durch die Beklagte rechnen.
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2. Die Klageanträge zu 2 und 3 sind jedoch nicht zulässig.
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a) Nach § 256 Abs. 1 ZPO kann Klage auf Feststellung u.a. des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses erhoben werden, wenn die Klagepartei ein rechtliches Interesse daran hat, dass das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt werde.
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b) Unter Rechtsverhältnis ist eine bestimmte, rechtlich geregelte Beziehung einer Person zu anderen Personen oder einer Person zu einer Sache zu verstehen, BGH vom 31.05.2000 – XII ZR 41/98, zit. nach juris.
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c) Die Klageanträge zu 2 und 3 sind hier nicht auf die Feststellung gegenwärtiger Rechtsbeziehungen der Klägerin zur Beklagten gerichtet, sondern auf die Beantwortung einer abstrakten Rechtsfrage, bzw. die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Verhaltens. Insoweit liegt den Klageanträgen zu 2 und 3 kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis zugrunde. Wie die Klägerin in ihrer Klagebegründung vorträgt, hat die Beklagte die von der Klägerin für unwirksam erachtete Streikforderung nach einer gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlicherklärung bereits in früheren Tarifrunden erhoben. Es sei daher zu befürchten, dass diese Forderung auch Gegenstand künftiger Streikmaßnahmen sein werde. Der Klägerin geht es daher um Rechtssicherheit bezüglich der hier streitigen Frage, damit diese zukünftig für etwaige Eilverfahren bereits geklärt ist.
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Für die Gewährung gerichtlichen Schutzes nach § 256 Abs. 1 ZPO genügt es jedoch grundsätzlich nicht, dass ein Grund für die Befürchtung eines erst künftig entstehenden Rechtsverhältnisses gegeben ist, BGH vom 07.06.2001 – I ZR 21/99, zit. nach juris. Hinzu kommt, dass derzeit nicht absehbar ist, ob die Beklagte die Klägerin auch in einer neuerlichen Verhandlungsrunde in die Streikmaßnahmen einbeziehen wird. Denn die von der Klägerin für unwirksam erachtete Streikforderung wird grundsätzlich gegenüber dem Arbeitgeberverband erhoben. Ob die Klägerin von neuerlichen Streikmaßnahmen der Beklagten in der Zukunft überhaupt betroffen wäre, lässt sich nicht absehen.
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Die Klage ist, soweit sie zulässig ist, jedoch nicht begründet. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Klägerin gegen die Beklagte ein Schadensersatzanspruch auf Grund von rechtswidrigen Streikmaßnahmen zusteht.
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1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stellt ein von einer Gewerkschaft geführter rechtswidriger Streik eine Verletzung des durch § 823 Abs. 1 BGB geschützten Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb dar. Er führt zu einem Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers, wenn die Organe der Gewerkschaft ein Verschulden trifft, BAG vom 19.06.2012 – 1 AZR 775/10, zit. nach juris. Das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb als sonstiges Recht im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB ist darauf gerichtet, ein Unternehmen in seiner wirtschaftlichen Betätigung und Funktionsfähigkeit vor darauf bezogenen rechtswidrigen Eingriffen Dritter zu schützen, BAG vom 26.07.2016 – 1 AZR 160/14, zit. nach juris.
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a) Vorliegend war eines der Streikziele der Beklagten eine gemeinsame Initiative zur Erreichung der Allgemeinverbindlicherklärung der Entgelttarifverträge.
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aa) Dies ergibt sich aus dem Schreiben vom 14.03.2023 des Landesfachbereichssekretärs von ver.di – Landesbezirk Bayern – an den Landesverband Bayern – Großhandel – Außenhandel – Dienstleistungen e.V., in dem u.a. die Forderung nach einer gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlicherklärung der Entgelttarifverträge erhoben wurde. Diese Forderung beruhte auf dem Beschluss der Großen Tarifkommission für den Groß- und Außenhandel in Bayern für die Tarifrunde 2023.
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bb) Unerheblich ist, dass die konkreten Streikaufrufe, die sich an die Beschäftigten der Klägerin richteten, diese Forderung nicht explizit enthielten. Denn in jedem der Streikaufrufe war der Hinweis enthalten, dass Ziel der Beklagten eine akzeptable Tarifeinigung auf Grundlage der ver.di Forderungen sei. Insoweit war die dem Landesverband übermittelte Forderung nach einer gemeinsamen Initiative zur Allgemeinverbindlicherklärung auch Inhalt der Streikaufrufe geworden. Nachdem die Beklagte auch in den mündlichen Verhandlungen in den Eilverfahren trotz expliziter Nachfrage der Gerichte nicht von dieser Forderung abgerückt ist, ist auch hinreichend deutlich, dass die Aufrufe zum Streik bei der Klägerin inhaltlich den mit Schreiben vom 14.03.2023 übermittelten Forderungen entsprachen.
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b) Grundsätzlich darf ein Arbeitskampf nur zur Durchsetzung tarifvertraglich regelbarer und friedenspflichtwahrender Ziele geführt werden. Dies folgt aus der Hilfsfunktion des Arbeitskampfes zur Sicherung der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie und bedeutet zugleich, dass ein Tarifvertrag, der kampfweise durchgesetzt werden soll, einen rechtmäßigen Inhalt haben muss, BAG vom 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, zit. nach juris, ErfK/Linsenmaier, 24. Aufl., Art. 9 GG, Rn 115. Forderungen, die dem nicht genügen, sind nicht durch Art. 9 Abs. 3 GG gedeckt und beeinträchtigen die grundrechtlich geschützten Interessen des Kampfgegners, BAG vom 26.07.2016 – 1 AZR 160/14, zit. nach juris.
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c) Die gemeinsame Initiative zur Erreichung der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags ist nach Ansicht des Gerichts ein tarifvertraglich regelbares und auch rechtmäßiges Kampfziel.
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aa) Durch Art. 9 Abs. 3 GG ist nicht nur die Bildung und der Bestand von Koalitionen gewährleistet, sondern auch deren koalitionsmäßige Betätigung. Zu den geschützten koalitionsspezifischen Verhaltensweisen gehört auch die Tarifautonomie als das Recht, Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen mit der Arbeitgeberseite auszuhandeln und durch Verträge verbindlich für die Mitglieder zu regeln. Die Regelung der Arbeitsbedingungen in Kollektivverträgen dient der Verwirklichung der Interessen der strukturell unterlegenen Arbeitnehmer. Den Gewerkschaften ist eine wirkungsvolle Interessendurchsetzung jedoch nur dann möglich, wenn sie ihren Forderungen auch durch Streiks Nachdruck verleihen können. Insoweit ist der auf die Tarifautonomie bezogene Arbeitskampf grundrechtlich geschützt, BAG vom 20.11.2012 – 1 AZR 611/11, zit. nach juris.
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bb) Die Forderung der Beklagten nach einer gemeinsamen Initiative im Hinblick auf eine Allgemeinverbindlicherklärung betrifft die Regelung einer Arbeits- und Wirtschaftsbedingung im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG. Die Forderung ist tariflich regelbar und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.
54
cc) Unter Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist die Gesamtheit der Bedingungen zu verstehen, unter denen abhängige Arbeit geleistet und eine sinnvolle Ordnung des Arbeitslebens ermöglicht wird, ErfK/Linsenmaier, 24. Aufl., Art. 9 GG, Rn 23. Dieser Begriff ist weit auszulegen, wobei allgemeinpolitische Aktivitäten ohne Bezug zu den Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen nicht erfasst werden. Grundsätzlich sind in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG solche Betätigungen einbezogen, die dem Zweck der Koalitionen dienen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern, BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 06.02.2007 – 1 BvR 978/05, zit. nach juris.
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dd) Einer Allgemeinverbindlicherklärung kommt ebenso wie dem Tarifvertrag als solchem eine allgemeine Ordnungsfunktion zu. Darüber hinaus führt sie dazu, dass auch nichttarifgebundenen Arbeitnehmern angemessene Arbeitsbedingungen gewährleistet werden. Sie verfolgt als arbeitsrechtliches Instrument ausschließlich arbeitnehmerschützende Zwecke, ErfK/Franzen, 24. Aufl., § 5 TVG, Rn 2. Dabei verbessern sich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch die Erklärung eines Tarifvertrags für allgemeinverbindlich auch für die bereits zuvor tarifgebundenen Arbeitnehmer, da sich durch den dann für alle geltenden Tarifvertrag der Wettbewerbsdruck durch außertarifliche Arbeitgeber verringert.
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Insoweit ist das Streben nach einer Allgemeinverbindlicherklärung vom grundgesetzlich gewährleisteten Recht der Koalitionen, sich für die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einzusetzen, umfasst. Eine Initiative zur Erreichung der Allgemeinverbindlichkeit ist somit auf die Regelung einer Arbeits- und Wirtschaftsbedingung im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG gerichtet, die in einem Tarifvertrag regelbar ist (und bereits auch in einer Vielzahl von Tarifverträgen enthalten ist). Mit der Schaffung von Tarifnormen, die der Allgemeinverbindlicherklärung zugänglich sind und deren allgemeine Geltung im öffentlichen Interesse geboten erscheint (§ 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TVG), erfüllen die Koalitionen auch in besonderem Maße die ihnen durch Art. 9 Abs. 3 GG zugewiesene öffentliche Aufgabe, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in eigener Verantwortung und im Wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme zu gestalten, BVerfG vom 15.07.1980 – 1 BvR 24/74, zit. nach juris.
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ee) Die Tarifvertragsparteien können in Tarifverträgen alle Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne von Art. 9 Abs. 3 GG regeln mit der Folge, dass entsprechende Tarifverträge auch durch Arbeitskampfmaßnahmen erzwungen werden können, BAG vom 03.04.1990 – 1 AZR 123/89, zit. nach juris. Dies gilt nicht nur für normativ zu regelnde Ziele, sondern auch dann, wenn eine entsprechende Regelung nur in einer schuldrechtlichen Vereinbarung des Tarifvertrags möglich ist, ErfK/Linsenmaier, 24. Aufl., Art. 9 GG, Rn 116, LAG Baden-Württemberg vom 20.02.2019 – 4 Sa 40/18, zit. nach juris.
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d) Die Tarifforderung der Beklagten greift dabei auch nicht unzulässigerweise in den unternehmerischen Autonomiebereich ein.
59
aa) Das Grundgesetz gewährleistet den Kernbereich der Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 und die Unternehmensautonomie als Teil der Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG. Deshalb darf weder die Unternehmensautonomie noch die Tarifautonomie so ausgeübt werden, dass die jeweils andere leerläuft, vielmehr müssen beide Positionen so miteinander in Ausgleich gebracht werden, dass beide möglichst weitgehend wirksam werden.
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Im Einzelnen ist daher zu entscheiden, welche Bereiche unternehmerischer Betätigung, die sich zugleich als Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen darstellen, aus dem Bereich des durch Arbeitskampf Erkämpfbaren herauszunehmen sind, vgl. ErfK/Linsenmaier, 24. Aufl., Art. 9 GG, Rn 116, Hess. LAG vom 09.09.2015 – 9 SaGa 1082/15, zit. nach juris.
61
bb) Als kollektives Arbeitnehmerschutzrecht gegenüber der Unternehmensautonomie kann eine tarifliche Regelung nur dort eingreifen, wo eine unternehmerische Entscheidung diejenigen rechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Belange der Arbeitnehmer berührt, die sich gerade aus deren Eigenschaft als abhängig Beschäftigte ergeben. Im Gegenzug unterliegt es der autonomen Unternehmerentscheidung, welche Geld- und Sachmittel zu welchem Zweck eingesetzt werden und ob, was und wo hergestellt wird, Beuthien, ZfA 1984, S. 12 f., BAG vom 03.04.1990 – 1 AZR 123/89, zit. nach juris.
62
cc) Danach ist festzustellen, dass die Forderung nach einer gemeinsamen Initiative zur Erreichung der Allgemeinverbindlicherklärung nicht dem Bereich der freien unternehmerischen Betätigung zuzurechnen ist. Denn insoweit geht es nicht um die freie Entscheidung, des Arbeitgebers, ob und wie er sich unternehmerisch am Markt betätigen möchte, sondern um ein Verfahren, das ggf. lediglich die Rahmenbedingungen regelt, unter denen er sich betätigt und denen dann auch seine Mitbewerber unterliegen. Gerade auch in der Tatsache, dass die gemeinsame Erklärung der Tarifparteien zur Allgemeinverbindlicherklärung das Verfahren erst in Gang setzt, der Ausgang des Verfahrens aber von verschiedenen weiteren Faktoren abhängt und offen ist, zeigt sich, dass mit dieser Initiative nicht direkt in die unternehmerische Freiheit eingegriffen wird.
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dd) Auch Kampfziele, eine Betriebsstillegung oder Betriebsverlagerung zu verhindern, sind solche, bei denen es um die Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Sinne des Art. 9 Abs. 3 GG geht, auch wenn eine entsprechende Regelung nur in einer schuldrechtlichen Vereinbarung des Tarifvertrags möglich ist, LAG Baden-Württemberg vom 20.02.2019 – 4 Sa 40/18, zit. nach juris, ErfK/Linsenmaier, 24. Aufl., Art. 9 GG, Rn 116. Dabei hielt das LAG Baden-Württemberg das Arbeitskampfziel, eine bereits beschlossene Betriebsstilllegung zeitlich zu verzögern, noch für zulässig.
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Wenn somit sogar ein Streik, der sich auf die unternehmerische Entscheidung bezieht, den Betrieb zu einem bestimmten Zeitpunkt stillzulegen, im Einzelfall nicht generell für unwirksam erachtet und dies als rechtmäßiges Kampfziel angesehen wird, muss dies erst recht für das hier streitgegenständliche Streikziel gelten, das – wenn überhaupt – wesentlich weniger intensiv und allenfalls mittelbar in die unternehmerische Freiheit des einzelnen Arbeitgebers eingreift.
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e) In einer Vereinbarung der Tarifvertragsparteien hinsichtlich der gemeinsamen Initiative zur Erreichung der Allgemeinverbindlicherklärung wäre auch kein unzulässiger Vertrag zu Lasten Dritter oder ein unzulässiger Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG ebenfalls geschützte negative Koalitionsfreiheit zu sehen.
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aa) Die durch Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG geschützte Koalitionsfreiheit schließt zwar auch das Recht ein, einer Koalition fernzubleiben oder aus ihr auszutreten. Soweit ein Arbeitgeber einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag unterworfen ist, begründet dies jedoch keine Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband. In seiner negativen Koalitionsfreiheit wird er daher nicht verletzt, BVerfG vom 15.07.1980 – 1 BvR 24/74, zit. nach juris.
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bb) Einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag unterworfen zu sein, mag einen nicht originär tarifgebundenen Arbeitgeber zwar belasten, doch einerseits ist nach der gesetzlichen Konzeption niemand grundsätzlich davor gefeit, dass er in seinem Betätigungsfeld einem für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrag unterfällt, andererseits setzt die Erklärung der Tarifvertragsparteien lediglich ein Verfahren in Gang, führt aber nicht direkt zur Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags.
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f) Es ist auch nicht erkennbar, dass ein Streik mit dem umstrittenen Ziel eines gemeinsamen Antrags zur Einleitung eines Verfahrens auf Allgemeinverbindlicherklärung, gegen die Regelung des § 5 TVG verstößt. Insoweit lässt sich entgegen der Ansicht der Klägerin dem Gesetzeswortlaut nicht entnehmen, dass den Tarifvertragsparteien hinsichtlich der Einleitung des Verfahrens ein Vetorecht eingeräumt ist.
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Mit der Allgemeinverbindlicherklärung, die vom übereinstimmenden Antrag der Tarifvertragsparteien abhängig ist, soll diesen ein Instrument an die Hand gegeben werden, mit dem die von Art. 9 Abs. 3 GG intendierte autonome Ordnung des Arbeitslebens durch die Koalitionen abgestützt werden soll, indem sie den Normen der Tarifverträge zu größerer Durchsetzungskraft verhilft, BVerfG vom 24.05.1977 – 2 BvL 11/74, zit. nach juris, BT-Drs. 18/1558, S. 48. Dabei ermöglicht Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts gerade auch Tarifverträge, die von vornherein darauf zielen, Außenseiter einzubeziehen, BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10.01.2020 – 1 BvR 4/17, zit. nach juris.
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Weder dem Gesetzeswortlaut, noch aus der Gesetzeshistorie lässt sich ein explizites, nicht durch Streik zu beeinflussendes Vetorecht einer der Tarifvertragsparteien entnehmen. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die gemeinsame Erklärung auch auf einer vorherigen Willensbildung der beteiligten Tarifvertragsparteien beruht. Letztlich trifft ein Arbeitgeber jedoch seine Entscheidung über alle im Zuge eines Arbeitskampfes streitigen Forderungen und Zugeständnisse eigenverantwortlich. Das zeigt sich gerade auch darin, dass die Beklagte die hier streitige Forderung schon in einer Vielzahl von Tarifauseinandersetzungen erhoben hat, sie bislang aber oft nicht durchsetzen konnte, vgl. hierzu jüngst die Tarifeinigung im bayerischen Einzelhandel. Dass gerade die Willensbildung der Tarifvertragsparteien hinsichtlich einer gemeinsamen Initiative auf Allgemeinverbindlicherklärung gegenüber anderen Entscheidungen, wie z.B. die Erhöhung der Löhne, besonders geschützt sein soll, ist nicht ersichtlich.
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g) Die Streikmaßnahmen der Beklagten sind auch nicht deshalb zu beanstanden, weil sie in der Art und Weise ihrer Durchführung unangemessen wären.
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aa) Die Streikaufrufe sind nicht schon deshalb unangemessen, weil eines der mit ihnen verfolgten Streikziele rechtswidrig wäre. Dass dies nicht der Fall ist, wurde oben bereits festgestellt.
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bb) Die Streikmaßnahmen verstoßen auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Überprüfung der Einhaltung dieses Grundsatzes erfordert eine Würdigung, ob ein Kampfmittel zur Erreichung eines rechtmäßigen Kampfziels geeignet und erforderlich und bezogen auf das Kampfziel angemessen (proportional bzw. verhältnismäßig im engeren Sinn) eingesetzt wurde, BAG vom 11.05.1993 – 1 AZR 649/92; BAG vom 12.03.1985 – 1 AZR 636/82, II 2, jeweils zit. nach juris.
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(1) Geeignet ist ein Kampfmittel, wenn durch seinen Einsatz die Durchsetzung des Kampfziels gefördert werden kann. Dabei kommt den einen Arbeitskampf führenden Koalitionen eine Einschätzungsprärogative zu. Sie haben einen Beurteilungsspielraum bei der Frage, ob eine Arbeitskampfmaße geeignet ist, Druck auf den sozialen Gegenspieler auszuüben. Die Einschätzungsprärogative ist Teil der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Freiheit in der Wahl der Arbeitskampfmittel. Sie betrifft grundsätzlich nicht nur die Frage, welches Kampfmittel eingesetzt wird, sondern auch, wem gegenüber dies geschieht, BAG vom 18.02.2003 – 1 AZR 142/02, zit. nach juris. Danach kann eine Arbeitskampfmaßnahme nur dann für rechtswidrig erachtet werden, wenn das Kampfmittel zur Erreichung des Kampfziels offensichtlich ungeeignet ist.
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(2) Erforderlich ist ein Kampfmittel, wenn mildere Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels nach der Beurteilung der den Arbeitskampf führenden Koalitionen nicht zur Verfügung stehen. Auch insoweit steht der Beklagten hier eine Einschätzungsprärogative zu. Ihre Grenze findet diese beim Rechtsmissbrauch. Ein solcher liegt dann vor, wenn es des ergriffenen Kampfmittels zur Erreichung des angestrebten Ziels offensichtlich nicht bedarf, BAG vom 19.06.2007 – 1 AZR 396/06, zit. nach juris.
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(3) Bei den durch die Beklagte bei der Klägerin durchgeführten Streikmaßnahmen ist nicht ersichtlich, dass diese für die erstrebten Ziele offensichtlich ungeeignet oder nicht erforderlich gewesen wären. Die Klägerin ist als Verbandsmitglied in der Lage, auf den Arbeitgeberverband Einfluss zu nehmen, sodass Streikmaßnahmen gegen die Klägerin durchaus Einfluss auf die Erreichung der von der Beklagten erstrebten Ziele haben können.
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Dass die Beklagte vornehmlich Betriebe der Klägerin bestreikte, folgt, wie sie in der mündlichen Verhandlung erklärte, daraus, dass die Klägerin aus Sicht der Beklagten Einfluss nehmen kann auf die vielen mit ihr genossenschaftlich verbundenen Einzelhändler, die bislang in der Regel nicht tarifgebunden sind. Dass die Klägerin in ihren Betrieben bereits die Tarifverträge ungeachtet der Tarifzugehörigkeit ihrer Beschäftigten anwendet, macht sie daher nicht zu einem ungeeigneten Ziel der Streikmaßnahmen der Beklagten. Denn auch ein Unterstützungsstreik, der einen Arbeitgeber betrifft, der die im Hauptarbeitskampf von der Gewerkschaft verfolgte Forderung nicht selbst erfüllen oder in seinem Verband auf die Erfüllung hinwirken kann, ist nicht unzulässig, denn auch ein solcher ist nicht generell ungeeignet, den Druck auf den sozialen Gegenspieler zu verstärken und den Hauptarbeitskampf zu beeinflussen, BAG vom 19.06.2007 – 1 AZR 396/06, zit. nach juris. So existieren zwischen wirtschaftlich und regional verbundenen Arbeitgebern unabhängig von ihrer Mitgliedschaft im selben Arbeitgeberverband regelmäßig zahlreiche Verbindungen, die eine zumindest informelle Einflussnahme ermöglichen, BAG vom 18.02.2003 – 1 AZR 142/02, zit. nach juris.
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Insofern können die gegen die Beklagte gerichteten Streikmaßnahmen gerade im Hinblick auf mit ihr genossenschaftlich verbundene Unternehmen, die bislang nicht tarifgebunden sind, nicht als ungeeignet hinsichtlich der von der Beklagten verfolgten Arbeitskampfziele angesehen werden.
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(4) Die Streikmaßnahmen der Beklagten gegen die Klägerin sind darüber hinaus auch verhältnismäßig im engeren Sinn (proportional). Dies ist dann der Fall, wenn sich ein Arbeitskampfmittel unter hinreichender Würdigung der grundrechtlich gewährleisteten Betätigungsfreiheit zur Erreichung des angestrebten Kampfziels unter Berücksichtigung der Rechtspositionen der von der Kampfmaßnahme Betroffenen als angemessen darstellt. Insoweit steht der Arbeitskampfpartei jedoch keine Einschätzungsprärogative zu, da es hierbei nicht um eine tatsächliche Einschätzung, sondern um eine rechtliche Abwägung geht. Dabei ist stets zu beachten, dass es gerade das Wesen einer Arbeitskampfmaßnahme ist, durch Zufügung wirtschaftlicher Nachteile Druck zur Erreichung eines legitimen Ziels auszuüben. Unverhältnismäßig ist ein Arbeitskampfmittel daher erst, wenn es sich auch unter Berücksichtigung dieses Zusammenhangs als unangemessene Beeinträchtigung gegenläufiger, ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen darstellt, BAG vom 19.06.2007 – 1 AZR 396/06, zit. nach juris.
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Die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne erfolgt daher durch den Ausgleich widerstreitender Grundrechte im Wege der praktischen Konkordanz. Insoweit müssen die kollidierenden Grundrechtspositionen so in Ausgleich gebracht werden, dass sie für alle beteiligten Grundrechtsträger möglichst weitgehend wirksam werden, BAG vom 03.05.2022 – 3 AZR 472/21, zit. nach juris. Dabei darf kein Recht das andere Recht vollständig verdrängen, BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 09.07.2020 – 1 BvR 719/19, zit. nach juris.
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(5) Vorliegend ist ein Ausgleich zu erzielen zwischen dem Grundrecht der Beklagten auf Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG und dem ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Recht der Klägerin am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb, Art. 14 Abs. 1 GG.
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Vorliegend monierte die Klägerin, dass die Streikmaßnahmen über einen längeren Zeitraum andauerten, ohne ihr eine Verschnaufpause zu gönnen. Hierbei ist festzustellen, dass alleine die zunehmende Dauer von Streikmaßnahmen nicht zur Unverhältnismäßigkeit führen kann. Denn andernfalls wäre die Gewerkschaft ab einem bestimmten – darüber hinaus nicht objektiv bestimmbaren – Zeitpunkt daran gehindert, die Streikmaßnahmen fortzusetzen und damit ihrer Schlagkraft beraubt. Denn erst durch das grundgesetzlich verbriefte Streikrecht wird sie wirkmächtig und der Arbeitgeberseite ebenbürtig.
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Ihre Grenze finden die der Gegenseite zumutbaren Beeinträchtigungen jedenfalls an der Stelle, an der das Ziel der Maßnahmen die Existenzvernichtung der Gegenseite ist. Davon ist vorliegend auch nach dem Vortrag der Klägerin jedoch nicht auszugehen. Auch wenn die Streikmaßnahmen der Beklagten die Klägerin empfindlich treffen und auch zu nicht unerheblichen Umsatzeinbußen geführt haben mögen, ist nicht ersichtlich, dass die Klägerin durch die Maßnahmen in ihrer Existenz bedroht wäre. Insoweit führt auch der Ausgleich der widerstreitenden Grundrechtspositionen nicht dazu, die konkreten Streikmaßnahmen der Beklagten und die von ihr gewählte Streiktaktik für unverhältnismäßig im engeren Sinn zu halten.
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h) Die von der Beklagten durchgeführten Streikmaßnahmen sind auch nicht deshalb rechtswidrig, weil diesbezüglich vorab keine Urabstimmung durchgeführt worden war. Insoweit hat die Beklagte vorgetragen, dass es nach ihrer Satzung für Warnstreiks keiner Urabstimmung bedürfe. In der Satzung der Beklagten sei keine Pflicht zur Urabstimmung bestimmt, selbst bei einem Erzwingungsstreik entscheide nach der Arbeitskampfrichtlinie der Beklagten der Bundesvorstand eigenständig über die vorherige fakultative Durchführung einer Urabstimmung.
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Selbst dann jedoch, wenn für die streitgegenständlichen Streikmaßnahmen entgegen der Ansicht der Beklagten eine vorher durchgeführte Urabstimmung erforderlich gewesen sein sollte, wären in dieser Hinsicht erfolgte Kompetenzüberschreitungen nur von verbandsinterner Bedeutung und ohne Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Arbeitskampfmaßnahme, BAG vom 17.12.1976 – 1 AZR 605/75, zit. nach juris.
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2. Die Rechtswidrigkeit der durch die Beklagte gegen die Klägerin durchgeführten Streikmaßnahmen kann daher nicht festgestellt werden. Soweit die Streikmaßnahmen aber rechtmäßig waren, steht der Klägerin gegen die Beklagte kein Anspruch auf Schadensersatz zu. Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
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3. Bei seiner Entscheidungsfindung war das Gericht nicht gehindert, den Schriftsatz der Beklagten vom 12.06.2024 zur Kenntnis zu nehmen.
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Nach § 282 Abs. 1, 2 ZPO sind im Prozess Angriffs- und Verteidigungsmittel so zeitig vorzubringen, wie es nach der Prozesslage einer sorgfältigen und auf Förderung des Verfahrens bedachten Prozessführung entspricht und so zeitig, dass der Gegner etwaig erforderliche Erkundigungen noch einziehen kann.
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Zwar hat die Beklagten den Schriftsatz vom 12.06.2024 so spät eingereicht, dass er dem Klägervertreter nicht mehr vor der mündlichen Verhandlung zur Kenntnis gelangte. In dem Schriftsatz sind jedoch lediglich Rechtsausführungen enthalten, die schon nach ihrem Wortlaut nicht der Regelung des § 282 ZPO unterfallen. Zu Rechtsausführungen ist die Partei im Prozess nicht verpflichtet. In dem Schriftsatz vom 12.06.2024 sind darüber hinaus auch keine neuen, bis dahin noch nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkte enthalten.
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Die Klägerin hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, § 46 Abs. 2 ArbGG, § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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Der Streitwert wurde festgesetzt gemäß § 61 Abs. 1 ArbGG, §§ 3 ff. ZPO. Er folgt in seiner Höhe den Angaben des Klägervertreters in der mündlichen Verhandlung nach dem schätzungsweise durch die Streikmaßnahmen zu erwartenden Schaden. Die Klageanträge zu 2 und 3 wurden jeweils mit 5.000 € bewertet.
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Soweit die Berufung nicht bereits kraft Gesetzes statthaft ist (§ 64 Abs. 2b und c ArbGG), konnte sie nicht zugelassen werden, weil hierfür die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 64 Abs. 3 ArbGG fehlen.