Titel:
Erfolgreicher Eilantrag gegen Abschiebungsanordnung nach Belgien
Normenketten:
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 18 Abs. 1b
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 34a Abs. 2 S. 1, § 71 Abs. 1
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsatz:
In Belgien besteht seit dem Jahr 2021 aufgrund langjähriger Versäumnisse im Zuge der sogenannten „Aufnahmekrise“ ein Mangel an Plätzen in den Aufnahmezentren der ersten Stufe, weswegen alleinstehenden männlichen Asylbewerbern systematisch der Zugang zum Aufnahmesystem verweigert wird und sie sich auf eine Warteliste setzen lassen müssen und alleinstehenden männlichen Dublin-Rückkehrern wird der Zugang zum Aufnahmesystem systematisch verweigert. (Rn. 28 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufnahmekrise in Belgien, Systemische Mängel im belgischen Asylverfahren, Drohende Obdachlosigkeit bei Rücküberstellung nach Belgien, Keine Rücküberstellung alleinreisender Männer nach Belgien, Eilrechtsschutz, Dublin-Verfahren, Abschiebungsanordnung, Belgien, systemische Mängel
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4939
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Januar 2024 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
1
Der Antragsteller wendet sich mit dem vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzantrag gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Belgien.
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Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben dem Volk der D. zugehöriger Staatsangehöriger B. islamischen Glaubens. Er reiste nach eigenen Angaben am 25. Oktober 2023 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) durch behördliche Mitteilung am 26. Oktober 2023 schriftlich Kenntnis erlangte. Der Antragsteller stellte am 13. November 2023 einen förmlichen Asylantrag.
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Bei einer am 26. Oktober 2023 durchgeführten Eurodac-Recherche stellte das Bundesamt einen Treffer der Kategorie 1 für Belgien fest (…) nach Antragstellung und Fingerabdrucknahme am 23. Oktober 2023.
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Im Rahmen des persönlichen Gesprächs zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrages am 13. November 2023 gab der Antragsteller an, keine Familie in Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat zu haben. Er habe B. erstmalig am 9. September 2023 verlassen und sei innerhalb von 20 Monaten über Togo, Frankreich und Belgien schließlich am 25. Oktober 2023 in Deutschland eingereist. Zuerst sei er am 1. Oktober 2023 in Frankreich eingereist und habe sich dort 20 Tage in Paris aufgehalten, wo er obdachlos gewesen sei. Er sei am 23. Oktober 2023 in Belgien eingereist und habe dort internationalen Schutz beantragt. Er habe am Bahnhof gelebt. In Belgien seien ihm Fingerabdrücke abgenommen worden.
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Im Rahmen seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 17. November 2023 gab der Antragsteller unter anderem an, ohne Reisepass von Togo nach Frankreich geflogen zu sein und am 30. September 2023 in … gelandet zu sein. Er sei wegen seines fehlenden Reisepasses und Visums 15 Tage von der französischen Polizei festgehalten worden und habe sodann ein Dokument erhalten, wonach er Frankreich innerhalb von 48 Stunden verlassen sollte. Er habe keine Unterkunft gehabt und habe deswegen vier Tage in … unter Brücken übernachtet. Sodann sei er mit dem Zug über Belgien nach Deutschland gefahren. Am 22. Oktober 2023 sei der Antragsteller in der Stadt … in Belgien angekommen. Danach sei er mit dem Zug in eine andere, ihm nicht mehr bekannte Stadt in Belgien gefahren und habe dort am 23. Oktober einen Asylantrag gestellt. Eine Anhörung zu seinen Asylgründen habe in Belgien nicht stattgefunden, jedoch seien dem Antragsteller Fingerabdrücke abgenommen worden. Er habe in Belgien keine Unterkunft erhalten, weil er schon volljährig sei. Die belgischen Behörden hätten gesagt, er solle sich selbst eine Unterkunft suchen. Es sei für den Antragsteller schwierig gewesen, etwas zu essen zu finden. Er habe am Bahnhof dieser ihm nicht bekannten Stadt geschlafen. Den Antrag in Belgien habe er nur gestellt, um sich dort einige Zeit ausruhen zu können, er sei sehr müde gewesen.
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Auf Nachfrage gab der Antragsteller an, er leide an einem Magengeschwür, an Hämorrhoiden und an Augenjucken. Er sei deswegen in ärztlicher Behandlung und habe gegen die Hämorrhoiden eine Salbe bekommen. Das in der Flüchtlingsunterkunft erhaltene Heft, in dem alle gesundheitlichen Probleme aufgelistet seien, habe der Antragsteller vergessen.
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Das Bundesamt richtete am 14. Dezember 2023 auf der Grundlage des festgestellten Eurodac-Treffers ein auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO gestütztes Wiederaufnahmegesuch an Belgien, das die belgischen Behörden mit Schreiben vom 19. Dezember 2023 ebenfalls unter Bezugnahme auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO annahmen.
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Mit Bescheid vom 23. Januar 2024 wurde der Asylantrag des Antragstellers als unzulässig abgelehnt (Ziffer 1), festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2) und seine Abschiebung nach Belgien angeordnet (Ziffer 3). In Ziffer 4 des Bescheides wurde das Einreise und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 18 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids, der dem Antragsteller am 30. Januar 2024 ausgehändigt wurde, wird Bezug genommen.
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Hiergegen hat der Antragsteller am 31. Januar 2024 zu Protokoll der Geschäftsstelle des Gerichts Klage erhoben (AN 14 K 24.50066) und den gegenständlichen Antrag im einstweiligen Rechtsschutz gestellt.
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Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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Zur Begründung bezieht sie sich auf die angefochtene Entscheidung.
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Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Bundesamtsakte Bezug genommen.
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Die Entscheidung ergeht gemäß § 76 Abs. 4 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO ist hinsichtlich der Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides statthaft nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG, da die in der Hauptsache statthafte Anfechtungsklage nach § 75 Abs. 1 AsylG kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung hat. Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG fristgerecht gestellte Antrag ist auch im Übrigen zulässig.
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Der Antrag ist auch begründet.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine Ermessensentscheidung, in deren Rahmen das Aussetzungsinteresse des Antragstellers gegen das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin abgewogen wird. Grundlage ist dabei die anhand einer summarischen Prüfung erfolgende Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache (BVerwG, B.v. 7.7.2020 – 7 VR 2/10 u.a. – juris Rn. 20; B.v. 23.1.2015 – 7 VR 6/14 – juris Rn. 8).
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Die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids vom 23. Januar 2024 erweist sich bei summarischer Prüfung unter Heranziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). In der Abwägung überwiegt daher das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage.
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1. Belgien ist zwar an sich der für das Asylverfahren des Antragstellers nach der Dublin III-VO zuständige Mitgliedstaat.
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Das Bundesamt hat am 14. Dezember 2023 ein Wiederaufnahmegesuch an die belgischen Behörden gestellt und damit die sich aus Art. 23 Abs. 2 Unterabs.1 Dublin III-VO ergebende zweimonatige Frist seit der Feststellung des Eurodac-Treffers am 26. Oktober 2023 gewahrt. Die belgischen Behörden haben daraufhin die Bereitschaft zur Übernahme des Antragstellers erklärt. Auf die Zuständigkeit Belgiens gemäß den Kriterien von Kapitel III der Dublin III-VO kommt es grundsätzlich nicht an, da im Wiederaufnahmeverfahren eine solche Prüfung nicht mehr stattfindet (vgl. EuGH, U.v. 2.4.19 – C-582/17 und C-583/17 – juris).
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2. Allerdings droht dem Antragsteller bei einer Überstellung nach Belgien eine gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung aufgrund dort bestehender systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, sodass der Antragsteller nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht nach Belgien überstellt werden kann.
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a) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C 4 11/10 und C 493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung von Asylsuchenden in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) entspricht.
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Diese Vermutung kann widerlegt werden, an die Feststellung systemischer Mängel sind jedoch hohe Anforderungen zu stellen. Einzelne Grundrechtsverletzungen oder Verstöße der zuständigen Mitgliedstaaten gegen Art. 3 EMRK genügen nicht. Von systemischen Mängeln ist vielmehr erst dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende derart defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylsuchenden im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris; B.v. 6.6.2014 – 10 B 25/14 – juris).
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Mit Urteil vom 19. März 2019 (C-163/17) hat der Europäische Gerichtshof die Maßstäbe für Rückführungen im Dublin-Raum präzisiert. Aufgrund des fundamental bedeutsamen EU-Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens darf ein Asylsuchender hiernach grundsätzlich immer in den Mitgliedstaat rücküberstellt werden, der nach der Dublin-III-VO für die Bearbeitung seines Antrages zuständig ist bzw. ihm bereits Schutz gewährt hat, es sei denn, er würde dort ausnahmsweise aufgrund der voraussichtlichen Lebensumstände für längere Zeit dem „real risk“ einer Lage extremer materieller Not ausgesetzt, die gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. des insoweit inhaltlich gleichen Art. 3 EMRK verstößt, das heißt seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. dazu VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 38).
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Die vom Europäischen Gerichtshof geforderte besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre etwa dann anzunehmen, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O. Rn. 92 unter Verweis auf EGMR, U.v. 21.1.2011 – 30696/09 – M.S.S./Belgien und Griechenland; vgl. auch BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris).
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Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019, a.a.O. Rn. 93.).
27
b) Das Recht auf Aufnahme und Unterbringung sowie materielle Versorgung besteht in Belgien grundsätzlich ab der Asylantragstellung. Die Angabe im streitgegenständlichen Bescheid, dass nach der Gesetzeslage jeder Asylbewerber in Belgien vom Zeitpunkt der Antragstellung an Anspruch auf materielle Versorgung hat, trifft daher grundsätzlich zu.
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Allerdings besteht in Belgien seit dem Jahr 2021 aufgrund langjähriger Versäumnisse im Zuge der sogenannten „Aufnahmekrise“ (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Belgien, Stand: 19.12.2023, S. 7) ein Mangel an Plätzen in den Aufnahmezentren der ersten Stufe. Alleinstehenden männlichen Asylbewerbern wird infolgedessen systematisch der Zugang zum Aufnahmesystem verweigert und sie müssen sich auf eine Warteliste setzen lassen (BFA, a.a.O., S. 14).
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So verkündete die für die Unterbringung von Asylsuchenden zuständige Föderale Agentur für die Aufnahme von Asylbewerbern (F.) im September 2021, dass das Aufnahmenetzwerk unter Druck sei und die Belegungsrate am 9. September 2021 bei 96% gelegen habe. Aus diesem Grunde würden Familien und Minderjährige bevorzugt behandelt mit der Folge, dass alleinreisende männliche Asylantragsteller auch nach Asylantragstellung systematisch der Zugang zu den Aufnahmezentren verweigert werde (AIDA, Country Report Belgium, 2022 update, S. 100 f., S. 36). Bis zum März 2022 bekamen alleinstehende Männer noch vereinzelt Zugang zum Aufnahmenetzwerk, seit diesem Zeitpunkt werden sie systematisch hiervon ausgeschlossen. Dabei erhalten sie keine auf ihren Einzelfall bezogene Entscheidung, sondern werden lediglich über den Mangel an Plätzen in den Aufnahmezentren informiert und angewiesen, sich in eine Warteliste einzutragen. Die Eintragung in diese Warteliste garantiert allerdings keinen Aufnahmeplatz innerhalb einer bestimmten Frist. In der Praxis können die Asylsuchenden Zugang zu den Aufnahmezentren häufig allein über die Gerichte erlangen. Auch dann dauert es aber nach einer stattgebenden Gerichtsentscheidung noch mindestens drei Monate, bis sie tatsächlich diesen Zugang bekommen (AIDA, a.a.O. S. 100 f.).
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Auch alleinstehenden männlichen Dublin-Rückkehrern wird der Zugang zum Aufnahmesystem systematisch verweigert. Dublin-Rückkehrende, die zwar einen Asylantrag gestellt haben, Belgien aber vor der ersten Anhörung verlassen haben, werden häufig als Folgeantragsteller behandelt und haben keinen automatischen Zugang zum Aufnahmesystem (AIDA, a.a.O., S. 65). Auch sie sind faktisch auf gerichtlichen Rechtsschutz angewiesen, um Zugang zu einer Unterkunft zu bekommen, wobei auch dann die durchschnittliche Wartezeit vier bis fünf Monate beträgt und den Asylsuchenden nichts anderes übrig bleibt, als in dieser Zeit auf der Straße oder in besetzten Gebäuden zu schlafen (BFA, a.a.O., S. 19 f.; AIDA, a.a.O., S. 109 f.). Auch die von der Europäischen Asylagentur (EUAA) herausgegebenen Informationen über das Verfahren bei Dublin-Überstellungen nach Belgien (Stand 24.4.2023), die zusammen mit der belgischen Einwanderungsbehörde erarbeitet wurden, weisen auf Seite 2 (unten) ausdrücklich darauf hin, dass F. einen Platz im Aufnahmesystem wegen des großen Drucks auf das belgische Aufnahmesystem nicht garantieren kann und dass derzeit unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Kindern und Frauen Vorrang gewährt werde.
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Grund hierfür ist nach den Angaben mehrerer Nichtregierungsorganisationen die langjährige Vernachlässigung der Aufnahmezentren, von denen einige geschlossen wurden und das entsprechende Personal während niedrigerer Auslastungszeiten entlassen wurde. Auch Personal von F. hat in den Jahren 2021 und 2022 verschiedentlich gestreikt, um die zu geringe Aufnahmekapazität und ihre Arbeitsbedingungen anzuprangern (AIDA, a.a.O., S. 100).
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Berichten zufolge sind Obdachlosenunterkünfte überlastet und bieten nach einer Wartezeit lediglich kurzfristig eine Unterkunft (vgl. „The Parliament“, Bericht v. 6.11.2023, https://www.theparliamentmagazine.eu/news/article/belgiums-asylum-crisis, zuletzt besucht am 26.2.2024). Den abgewiesenen Asylsuchenden bleibt infolgedessen nichts anderes übrig, als auf der Straße oder unter Brücken zu schlafen und regelmäßig zum Ankunftszentrum zu gehen, in der Hoffnung, Zugang zu einem Aufnahmeplatz zu bekommen (AIDA, a.a.O., S. 100 f.). Die Zeit, in der sie gezwungen sind, auf der Straße zu übernachten, kann sich über einige Wochen erstrecken. Deshalb kam es in B1. zu verschiedenen Hausbesetzungen von Asylbewerbern. So haben zwischen Oktober 2022 und Februar 2023 rund 1.000 Personen in der ... ein Haus besetzt. Wegen unsicherer Wohnbedingungen und der Verbreitung ansteckender Krankheiten wurde das besetzte Haus im Februar 2023 geräumt. Im Anschluss daran wurden zwischen März und April 2023 zwei weitere Gebäude von Asylbewerbern besetzt, die wiederum evakuiert wurden (AIDA, a.a.O. S. 101 f.).
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Medizinische Hilfsorganisationen haben mehrfach auf die schwierige medizinische Situation der obdachlosen Asylsuchenden hingewiesen. Unter diesen wurden verschiedentlich ansteckende Krankheiten wie Diphtherie oder Krätze festgestellt (AIDA, a.a.O, S. 102). Das UNHCR zeigt sich besorgt darüber, dass Asylbewerber gezwungen sind, auf der Straße zu schlafen und dadurch keinen Zugang zu sanitären Einrichtungen haben und bezeichnet deren Lage – auch mit Blick auf den fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung – als prekär (vgl. Bericht des UNHCR v. 30.11.2023, https://www.unhcr.org/be/98821-unhcr-reception-crisis-in-belgium-is-concerning-but-solutions-are-at-hand-2.html, zuletzt abgerufen am 26.2.2024).
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Grundsätzlich steht der belgische Arbeitsmarkt Asylsuchenden offen, die innerhalb von vier Monaten nach Asylantragstellung noch keine Erstentscheidung in der Sache erhalten haben. Allerdings ist der Zugang zum belgischen Arbeitsmarkt für die Betroffenen der Aufnahmekrise in der Praxis stark eingeschränkt. Denn das Recht zu arbeiten ist auf der befristeten Aufenthaltserlaubnis („orange card“) festgehalten. In der Praxis steht aber eine Obdachlosigkeit der Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis entgegen, denn die ausstellenden Behörden verlangen dafür einen festen Wohnsitz (AIDA, a.a.O., S. 128 f.).
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Seit dem Beginn der Aufnahmekrise im Oktober 2021 wurden insbesondere auf den Druck von Nichtregierungsorganisationen zwar verschiedene Anstrengungen zu ihrer Lösung unternommen. So wurden beispielsweise 2021 und 2022 neue Aufnahmeplätze eröffnet, die aber für die Gesamtzahl der Asylbewerber nicht ausreichten. In einem Urteil vom 19. Januar 2022 entschied das Gericht der ersten Instanz von Brüssel, dass der belgische Staat und F. den Zugang zum Asylverfahren und zu Aufnahmebedingungen nicht sicherstellten, ordnete an, dass beide die Gewährleistung dieser fundamentalen Rechte sicherstellen sollten und setzte eine Strafe von 5.000 EUR pro Tag während der folgenden sechs Monate fest, an dem mindestens eine Person keinen Zugang zum Asylverfahren bekäme. Auch in der Folgezeit kam es jedoch nicht zu einer Verbesserung dergestalt, dass asylsuchenden Männern ein Zugang zu den Aufnahmezentren gewährt werden konnte (AIDA a.a.O. S. 19, 102 ff.; US Department of State, 2022 Human Rights Report Belgium, 20.3.2023, S. 8). Auch im Juli 2023 kam es erneut zu einer Verurteilung durch das Gericht der ersten Instanz von Brüssel (vgl. https://www.euractiv.de/section/europa-kompakt/news/belgien-wegen-fehlverhalten-im-umgang-mit-der-asylkrise-verurteilt/, zuletzt aufgerufen am 26.2.2024). Inzwischen wurde einer Gruppe belgischer Nichtregierungsorganisationen gerichtlich gestattet, 2,9 Mio. EUR an gegen F. verhängten Bußgeldern beizutreiben. Es wird beabsichtigt, mit dem Geld Unterstützungsleistungen für Asylsuchende zu bezahlen (vgl. Bericht des Brussels Times v. 4.2.2024, https://www.brusselstimes.com/907275/ ngos-allowed-to-seize-e2-9-million-from-fedasil-for-failure-to-shelter-asylum-seekers, zuletzt aufgerufen am 26.2.2024).
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Im August 2023 hat die belgische Staatssekretärin für Asyl und Migration, N. ..., angekündigt, dass F. vorübergehend keine Aufnahmeplätze für alleinstehende männliche Asylbewerber mehr zur Verfügung stellen werde, um Familien den Vorrang zu geben und zu vermeiden, dass Kinder im Winter auf der Straße landen. Hiergegen haben mehrere Verbände beim belgischen Staatsrat einen Eilantrag gestellt. Dieser hat am 13. September 2023 entschieden, dass die Entscheidung rechtswidrig sei und das Recht der Asylbewerber auf Aufnahme verletze. Allerdings erklärte die Staatssekretärin daraufhin umgehend, dass diese Aussetzung des Staatsrats nicht dafür Sorge, dass plötzlich Platz für alle da sei. Sie werde ihre Politik nicht ändern und Familien und Kindern absoluten Vorrang geben (vgl. Bericht v. 14.09.2023, https://www.euractiv.de/section/europa-kompakt/news/belgien-darf-alleinstehenden-maennlichen-fluechtlingen-aufnahme-nicht-verweigern/, zuletzt aufgerufen am 26.2.2024).
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Anhaltspunkte dafür, dass der beschriebene Zustand im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG) nicht mehr andauert, liegen nicht vor (BFA, a.a.O., S. 14; vgl. auch Bericht der Brussels Times v. 19.2.2024, https://www.brusselstimes.com/930786/inaction-of-criminal-government-criticised-by-ulb-following-asylum-seekers-eviction, zuletzt aufgerufen am 26.2.2024). Im Dezember 2023 warteten ausweislich eines Berichts des Belgisches Rundfunk- und Fernsehzentrums der Deutschsprachigen Gemeinschaft (BRF) 2.600 meist alleinstehende Männer auf eine Unterbringung, weshalb Amnesty International dazu aufrief, per E-Mails die Regierung unter Druck zu setzen (https://brf.be/national/1784177/, zuletzt aufgerufen am 26.2.2024). Aktuell wird berichtet, dass sich 3.055 Asylsuchende auf der Warteliste befinden (vgl. Bericht der Brussels Times v. 4.2.2024, https://www.brusselstimes.com/907275/ngos-allowed-to-seize-e2-9-million-from-fedasil-for-failure-to-shelter-asylum-seekers, zuletzt aufgerufen am 26.2.2024).
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Insbesondere kann insoweit nicht auf die Begründung des angefochtenen Bescheids zurückgegriffen werden, da sich die dort zitierten Quellen im Wesentlichen auf die Jahre 2013 bis 2017 beziehen und damit aus einer Zeit stammen, in der die oben dargestellte Krise in Belgien noch nicht existent war.
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c) Die Tatsache, dass der Antragsteller bei einer Rückkehr nach Belgien mit einer längerfristigen Obdachlosigkeit und einem korrespondierenden Mangel an Sanitäreinrichtungen bei unsicherem Zugang zu Nahrung konfrontiert würde, führt nach Überzeugung des Einzelrichters dazu, dass er sich – auch als alleinreisender Mann ohne nachgewiesene Erkrankungen oder sonstige Vulnerabilitäten – dort in einer solch schwerwiegenden Lage befände, dass sie nach dem oben genannten Maßstab des Europäischen Gerichtshofs mit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK gleichgesetzt werden kann (so bereits VG Ansbach, B.v. 2.1.2024 – AN 14 S 23.50884 – juris; vgl. auch VG Arnsberg, B.v. 9.2.2024 – 6 L 1243/23.A – veröffentlicht unter https://www.frnrw.de/fileadmin/frnrw/media/downloads/Themen_a-Z/Asylverfahren/Beschluss_VG_Arnsberg_Dublin_Belgien.pdf).
40
Eine Obdachlosigkeit ist hinreichend für die Annahme einer gegen diesen Maßstab verstoßenden Rückkehrsituation, wenn es dem Betroffenen trotz zumutbarer eigener Anstrengungen unmöglich bleibt, sich einen Lebensstandard oberhalb des absoluten Existenzminimums zu sichern, und ihm in dieser Situation, in der er hinsichtlich seiner elementarsten Bedürfnisse letztlich vollständig von einer öffentlichen Unterstützung abhängig ist, weder staatliche noch nichtstaatliche Akteure diejenigen Hilfen zur Verfügung stellen, die zur Wahrung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendig sind (vgl. OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – juris Rn. 61 m.w.N.; BayVGH, B.v. 11.10.2023 – 24 B 23.30525 – juris Rn. 32). Zu diesem Existenzminimum zählt neben einer grundlegenden medizinischen Versorgung und der Bereitstellung von Nahrung für Bedürftige auch die Bereithaltung von (Not-)Unterkünften, also von – kurzzeitigen – Schlafstellen und/oder Schutzräumen, die insbesondere einen ausreichenden Schutz vor extremen Witterungsverhältnissen und grundlegende sanitäre Einrichtungen bieten (vgl. OVG RhPf, U.v. 27.3.2023 – 13 A 10948/22.OVG – juris Rn. 61 m.w.N.).
41
Der Antragsteller wäre in Belgien mangels Einkommen und Vermögen vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig. Aufgrund des dargestellten Mangels an Unterbringungsplätzen im belgischen Aufnahmesystem steht zu erwarten, dass der Antragsteller bei einer Überstellung aufgrund der im streitgegenständlichen Bescheid getroffenen Abschiebungsanordnung nach Belgien dort zunächst keine Aufnahme im Aufnahmenetzwerk bekommen wird. Deshalb würde er voraussichtlich dort obdachlos sein, denn wie bereits oben dargestellt wurde, vergibt die zuständige belgische Behörde F. die vorhandenen Plätze im Aufnahmenetzwerk vorrangig an vulnerable Personen und Familien. Auch die vorhandenen Obdachlosenunterkünfte sind nach der Erkenntnislage ausgelastet. Der Antragsteller wäre daher aller Voraussicht nach über mehrere Monate gezwungen, auf der Straße, unter Brücken oder in besetzten Häusern zu nächtigen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass Hilfsorganisationen in dieser Zeit eine Unterkunft bereitstellen könnten, die i.S.d. angeführten Rechtsprechung Schutz vor extremer Witterung und Sanitäreinrichtungen bietet. Ein Ende der Obdachlosigkeit wäre erst zu erwarten, wenn der Antragsteller – ggf. nach Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes – einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung bekommt, was nach der Erkenntnislage erst nach einigen Monaten zu erwarten ist. In dieser Zeit wäre es dem Antragsteller – auch nachdem vier Monate bis zur Erstentscheidung vergangen sind – in Ermangelung des für die Ausstellung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nötigen festen Wohnsitzes faktisch unmöglich, eine Arbeit aufzunehmen und so aus eigener Kraft die Obdachlosigkeit abzuwenden. Der Antragsteller wäre also jedenfalls über einige Monate von der Versorgung mit einer Unterkunft und damit korrespondierend mit Sanitäreinrichtungen und Lebensmitteln ausgeschlossen und würde damit entgegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK in Belgien seine grundlegenden Bedürfnisse nicht befriedigen können.
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Angesichts der Tatsache, dass der belgische Staat es seit 2021 nicht geschafft hat, die unzureichende Zahl von Aufnahmeplätzen ausreichend zu erhöhen und die Bedingungen für Asylsuchende zu verbessern, ist der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vorliegend erschüttert.
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3. Nach alledem ist die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids anzuordnen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
45
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.