Inhalt

SG München, Beschluss v. 17.01.2024 – S 18 KR 1746/23 ER
Titel:

Einstweiliger Rechtsschutz auf Erteilung einer vorläufigen Bescheinigung über die Einhaltung eines Strukturmerkmals des OPS 8-552

Normenketten:
SGG § 86b Abs. 2 S. 2
SGB V § 275d Abs. 2, Abs. 4 S. 1
Leitsätze:
1. Nach § 275d Abs. 4 S. 1 SGB V dürfen Krankenhäuser, die die strukturellen Voraussetzungen nach Abs. 1 nicht erfüllen, die Leistungen ab dem Jahr 2022 nicht vereinbaren und nicht abrechnen, sodass einem Antrag auf Erteilung einer vorläufigen Bescheinigung gem. § 275d Abs. 2 S. 2 SGB V trotz eines eingelegten Widerspruchs gegen einen negativen Bescheid, der aufschiebende Wirkung hat, nicht das Rechtsschutzbedürfnis fehlt. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Solange der Therapiebereich mit entsprechenden Personal in Voll- oder auch nur in Teilzeit vorgehalten wird, kann von einem „Vorhandensein“ im Sinne des OPS 8-552 ausgegangen werden; dies erfordert keine „werktägliche“ Verfügbarkeit. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Regelungsanordnung, Rechtsschutzbedürfnis, Vorwegnahme der Hauptsache, Strukturprüfung, Prüfung von Strukturmerkmalen, Bescheinigung, OPS 8-552, Therapiebereiche, Vorhandensein, werktägliche Verfügbarkeit
Fundstelle:
BeckRS 2024, 489

Tenor

I. Der Antragsgegner wird verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig bis zum rechtskräftigen Abschluss der Strukturprüfung des OPS 8-552 (Neurologischneurochirurgische Frührehabilitation) eine Bescheinigung gemäß § 275d Abs. 2 Satz 2 SGB V über die Erfüllung der Strukturmerkmale des OPS 8-552 (Neurologischneurochirurgische Frührehabilitation) für das Krankenhaus (Standort-Nr.:; IK-Nr.:) auszustellen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung eine Bescheinigung über die Einhaltung des Strukturmerkmals „Neurologischneurochirurgische Frührehabilitation“ – OPS 8-552.
2
Die Antragstellerin als Trägerin eines zugelassenen Krankenhauses stellte am 12.06.2023 beim Antragsgegner einen Antrag auf Erteilung der Bescheinigung über die Einhaltung der Strukturmerkmale gem. § 275d Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) bezogen auf den Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) 8-552 am Standort des Krankenhauses Der Antragsgegner führte daraufhin eine turnusgemäße Strukturprüfung in Form einer Dokumentenprüfung durch und erstattete hierüber am 08.11.2023 ein Gutachten. In diesem kam er zu dem Ergebnis, dass die Strukturmerkmale nicht erfüllt seien, da die Therapiebereiche (Neuro-)Psychologie und Ergotherapie im Prüfungszeitraum nicht im geforderten Umfang zur Verfügung standen.
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Im Rahmen der Anhörung macht die Antragstellerin geltend, dass alle im OPS 8-552 aufgeführten Therapiebereiche vorhanden seien. Eine werktägliche Verfügbarkeit im Umfang von „Montag bis Freitag“ werde vom OPS 8-552 nicht gefordert. In der Klinik der Antragstellerin seien jeweils 3 Ergotherapeuten und 3 (Neuro-) Psychologen tätig, sodass diese Vorgaben erfüllt seien.
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Mit Bescheid vom 12.12.2023 lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Erteilung der Bescheinigung ab und begründete dies damit, dass die in den Therapiebereichen Ergotherapie und (Neuro-)Psychologie qualifizierten Therapeuten nicht im geforderten Umfang (mindestens von Montag bis Freitag) zur Verfügung gestanden hätten.
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Gegen diesen Bescheid hat die Antragstellerin am 21.12.2023 Widerspruch erhoben, über den bisher noch nicht entschieden wurde.
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Am 22.12.2023 hat die Antragstellerin den hiesigen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht München gestellt. Zur Begründung trägt die Antragstellerin vor, dass ein Rechtsschutzbedürfnis gegeben sei. Schließlich sei die Antragstellerin auf die vorläufige Bescheinigung angewiesen, um Planungssicherheit mit Rücksicht auf den Vorhalt des notwendigen Personals und der weiteren Erfüllung der Strukturmerkmale bis zum Abschluss des Rechtsmittelverfahren zu haben. Die vorläufige Bescheinigung über das Erfüllen der Strukturmerkmale des OPS 8-552 sei schließlich erforderlich, um die von der Strukturprüfung betroffenen Leistungen ab dem 01.01.2024 weiter vereinbaren und abrechnen zu können. Auch der bereits erhobene Widerspruch lasse trotz seiner aufschiebenden Wirkung das Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin nicht entfallen. Darüber hinaus sei auch ein Anordnungsanspruch gegeben, da die Antragstellerin sämtliche Strukturmerkmale des hier gegenständlichen OPS 8-552 erfülle. Für die Erfüllung des Strukturmerkmals des OPS 8-552 sei es nicht erforderlich, dass die vorausgesetzten Therapiebereiche werktäglich verfügbar sind. Es sei vielmehr ausreichend, dass bei der Antragstellerin insbesondere die in Rede stehenden Therapiebereiche Ergotherapie und (Neuro-)Psychologie vorhanden sind. Die vom Antragsgegner selbst hinzugeführten weiteren Anforderungen „Mindestumfang von Montag bis Freitag“ würden jeglicher rechtlicher Grundlage entbehren. Nach dem Begutachtungsleitfaden und der Anlage 6a zur Begutachtungsrichtlinie sei lediglich ein „Nachweis für das Vorhandensein einer entsprechend qualifizierten Person sowie ihrer Vertretung“ erforderlich. Auch im Vergleich zu anderen OPS-Codes fordere der OPS 8-552 gerade keine werktägliche Verfügbarkeit der Therapiebereiche. Daher könne es im Ergebnis nicht darauf ankommen, ob die Antragstellerin für einzelne Tage während des dreimonatigen Prüfzeitraums die Verfügbarkeit eines Therapiebereichs nicht nachweisen konnte. Zudem beschäftige die Antragstellerin in beiden Therapiebereichen jeweils drei Therapeuten, obwohl nach dem Begutachtungsleitfaden jeweils nur eine qualifizierte Fachkraft ausreichend gewesen wäre, sofern die Vertretung im Verhinderungsfall gesichert wäre. Dass es auch bei aller vorausschauenden Planung und selbst bei drei Therapeuten im Einzelfall mal dazu kommen könne, dass an einzelnen Tagen kein Therapeut zur Verfügung stehe, könne der Erfüllung des Strukturmerkmals und damit der Abrechenbarkeit des OPS gerade nicht entgegenstehen. Weiterhin sei auch ein Anordnungsgrund gegeben, da eine einstweilige Anordnung zur Abwendung erheblicher Nachteile auf Seiten der Antragstellerin erforderlich sei. Die Leistungen der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation Phase B nach OPS 8-552 seien die einzigen akutstationären Leistungen, die die Antragstellerin im Rahmen des Versorgungsauftrags erbringe und die einzige Basis im Rahmen des zwischen der Antragstellerin und den Kostenträgern vereinbarten Budgets. Ohne Abrechnung dieser Leistungen sei der Antragstellerin eine Leistungserbringung nicht möglich. Zudem habe die A... in Abstimmung mit dem v... per E-Mail vom 20.12.2023 mitgeteilt, dass sie keine Patienten mehr aufnehmen dürfe und allenfalls ab dem Zeitpunkt der Klageerhebung zur Zahlung (unter dem Vorbehalt der Rückforderung) bereit wären, sodass der Antragstellerin bei Fortführung der Leistungen trotz vorübergehender fehlender Abrechenbarkeit erhebliche Liquiditätsengpässe drohen würden. Würde sie hingegen die betroffenen Leistungen vorübergehend einstellen, drohe neben der möglichen Beeinträchtigung der personellen und sonstigen Ressourcen, z.B. durch Abwanderung von Personal, auch eine irreversible Erlösminderung für das Jahr 2024.
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Eine Nachholung der wegen des Fehlens der positiven Bescheinigung unterlassenen Leistungen sei der Antragstellerin nicht möglich.
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Die Prozessbevollmächtigte der Antragstellerin beantragt,
I. den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin bis zum rechtskräftigen Abschluss der Strukturprüfung des OPS 8-552 (Neurologischneurochirurgische Frührehabilitation) eine vorläufige Bescheinigung gemäß § 275d Abs. 2 Satz 2 SGB V über die Erfüllung der Strukturmerkmale des OPS 8-552 (Neurologischneurochirurgische Frührehabilitation) für das Krankenhaus M (Standort-Nr.:; IK-Nr.:
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
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Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
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Der Antragsgegner macht geltend, dass es schon am Rechtsschutzbedürfnis fehlen würde. Da der Widerspruch aufschiebende Wirkung habe, bestehe derzeit kein Vereinbarungs- und Abrechnungsverbot. Der Bescheid sei nicht bestandskräftig und die Strukturprüfung daher nicht rechtskräftig abgeschlossen, sodass weiterhin die Möglichkeit der Abrechnung zwischen Krankenhaus und Krankenkasse bestehe. Ein Anordnungsanspruch läge nicht vor, da die Antragstellerin die Voraussetzungen des OPS 8-552 nicht erfülle. Insoweit verweist der Antragsgegner auf den Bescheid vom 12.12.2023 und das laufende Widerspruchsverfahren. Im Übrigen sei auch kein Anordnungsgrund gegeben, da es der Antragstellerin zumutbar sei, den Abschluss des Verwaltungsverfahrens und ein etwaiges Gerichtsverfahren in der Hauptsache abzuwarten. Sowohl die vorgebrachten finanziellen Nachteile durch fehlende Abrechnungsmöglichkeit, als auch die drohende Personalabwanderung seien unsubstantiiert und würde weder zur Begründung des Rechtsschutzbedürfnisses noch zur Begründung der Eilbedürftigkeit reichen. Grundsätzlich bestehe für jeden Unternehmer ein Risiko zur Aufrechterhaltung seiner Infrastruktur. Faktoren wie Abwerbungen und Kündigungen qualifizierter Mitarbeiter seien allgemeine unternehmerische Risiken. Auch die Entscheidung, die Leistungserbringung (vorübergehend) einzustellen, wenn der OPS nicht vergütet wird, sei eine freie Unternehmensentscheidung, da kein Erbringungsverbot bestehe. Folglich könne auch keine Versorgungslücke bzw. Gefährdung der Patientenversorgung entstehen. Eine vorläufige Bescheinigung führe zu irreversiblen Zuständen und stelle damit eine echte Vorwegnahme der Hauptsache dar.
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Hinsichtlich der weiteren wesentlichen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf den Akteninhalt verwiesen.
II.
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Der zum zuständigen Sozialgericht München erhobene Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat Erfolg.
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1. Der Antrag ist zulässig. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Da in der Hauptsache eine Anfechtungs- und Leistungsklage auf Erteilung der Bescheinigung zu erheben wäre, ist die Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG die statthafte Rechtsschutzform.
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Vorliegend ist ein Rechtsschutzbedürfnis der Antragstellerin zu bejahen, denn mit Erlass des ablehnenden Bescheides vom 12.12.2023 darf sie keine Leistungen mehr nach dem OPS 8-552 vereinbaren und abrechnen.
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Ein Rechtsschutzbedürfnis ist gegeben, wenn die erstrebte gerichtliche Entscheidung dem Antragsteller einen rechtlichen oder tatsächlichen Vorteil bringen kann (MeyerLadewig/Keller/Schmidt SGG/Keller, 14. Aufl. 2023, SGG § 86b Rn. 7a). Es kann aber ausnahmsweise fehlen, wenn unzweifelhaft ist, dass die begehrte gerichtliche Entscheidung die rechtliche oder wirtschaftliche Stellung des Rechtsschutzsuchenden nicht verbessern würde (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28.09.2022, L 4 KR 86/22 B ER, Rn. 16 m.w.N.).
16
Nach § 275d Abs. 4 Satz 1 SGB V dürfen Krankenhäuser, die die strukturellen Voraussetzungen nach Absatz 1 nicht erfüllen, die Leistungen ab dem Jahr 2022 nicht vereinbaren und nicht abrechnen. Dem Antragsgegner ist zwar insoweit zuzustimmen, dass der Widerspruch gemäß § 86a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung hat. Ob dies aber dazu führt, dass das Strukturprüfungsverfahren im Sinne des § 275d Abs. 2 SGB V mangels Eintritts von Bestandskraft noch nicht rechtskräftig abgeschlossen war mit der Folge, dass die Klägerin bis zur Rechtskraft des Strukturprüfungsbescheids weiterhin ihre erbrachten Leistungen mit der Beklagten abrechnen darf, ist umstritten (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, s.o., Rn. 16). Zum Teil wird in der Rechtsprechung vertreten, dass der „Abschluss einer Strukturprüfung“ mit der positiven oder negativen Entscheidung der Antragsgegnerin nach § 275d Abs. 2 SGB V vorliegt (SG Aachen, Beschluss vom 01.09.2022, S 6 KR 52/22 KH ER, Rn. 12). Festzuhalten ist jedenfalls, dass die mit dem Widerspruch verbundene Vollzugshemmung für die Abrechenbarkeit rechtlich irrelevant ist, da diese nach dem Regelungssystem (§ 275d Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 SGB V) nur bei Vorliegen einer Bescheinigung über die Einhaltung der Strukturmerkmale besteht. Auch wenn der Negativbescheid aufgrund der mit der Anfechtung eintretenden aufschiebenden Wirkung nicht umgesetzt werden darf, führt die Anfechtung doch nicht zu der für die Abrechenbarkeit der Leistung zwingend vorausgesetzten Bescheinigung (Knispel, jurisPR-SozR 9/2022 Anm. 3, m.w.N.). Bei feststellenden und gestaltenden Verwaltungsakten muss die Behörde weiter nach der Sach- und Rechtslage vor Erlass des angefochtenen Verwaltungsaktes verfahren und den Bürger vorläufig so behandeln, als sei der Verwaltungsakt nicht erlassen worden (Richter in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 86a SGG, Rn. 23). Für die Antragstellerin bedeutet dies, dass sie so behandelt werden muss, als wäre noch gar keine Entscheidung des Antragsgegners ergangen. Dies ändert nach § 275d Abs. 4 Satz 1 SGB V aber nichts an dem Umstand, dass sie mangels Vorliegen einer Bescheinigung keine Leistungen mehr vereinbaren und abrechnen kann.
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Zu berücksichtigen ist zudem, dass die Antragstellerin die Mitteilung der vom 20.12.2023 so verstehen musste, dass die Krankenkassen trotz Einlegung des Widerspruchs eine Zahlung verweigern werden. Die Antragstellerin musste also damit rechnen, dass eine Abrechnung der Leistungen nach dem OPS 8-552 ab dem 01.01.2024 generell nicht (mehr) möglich ist, sodass sie zur Wahrung ihrer Rechte nur den Weg des Eilrechtsschutzes gehen konnte.
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2. Eine aus Gründen der Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebotene Vorwegnahme der Hauptsache im einstweiligen Verfahren ist in der Regel nur dann zulässig, wenn dem Antragsteller ohne den Erlass der einstweiligen Anordnung unzumutbare Nachteile drohen und für die Hauptsache hohe Erfolgsaussichten prognostiziert werden können. Voraussetzung für eine Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m.
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§§ 920 Abs. 2 und 294 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist daher, dass die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft machen kann. Anordnungsanspruch ist der materiell-rechtliche Anspruch auf die begehrte Leistung, dessen Bestehen von der Gegenseite bestritten oder nicht erfüllt wird. Ein Anordnungsgrund ist gegeben, wenn ohne eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutz der Antragstellerin schwere und unzumutbare, anders nicht anwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.10.1977 -2 BvR 42/76-, zuletzt Beschluss vom 12.05.2005 -1 BvR 569/05-). Eine Tatsache ist glaubhaft gemacht, wenn ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist. Überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordert, dass mehr dafür als dagegenspricht (Keller in: Meyer-Ladewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 16 b). Ist die Klage offensichtlich zulässig und begründet, vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund und ist dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung häufig stattzugeben; auch in diesen Fällen kann aber auf einen Anordnungsgrund nicht verzichtet werden (Keller in: Meyer-Ladewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 29). Bei offenem Ausgang ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich (Keller in: MeyerLadewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 29a). Dabei sind die Folgen gegeneinander abzuwägen, die auf der einen Seiten entstehen würden, wenn das Gericht eine einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Verfahren der Hauptsache herausstellte, dass der Anspruch doch bestanden hätte, und die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die beantragte einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellte, dass der Anspruch nicht bestand. Bei der Auslegung der anzuwendenden Vorschriften ist der besonderen Bedeutung der betroffenen Grundrechte und den Anforderungen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen; insbesondere sind die Folgen der Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes zu berücksichtigen. Je schwerer die Belastungen hieraus wiegen und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie im Falle des Obsiegens in der Hauptsache rückgängig gemacht werden können, umso weniger darf das Interesse an einer vorläufigen Regelung zurückgestellt werden. Erhebliche wirtschaftliche Nachteile für den Antragsteller können dabei ausreichen (vgl. dazu auch LSG B-W v. 2.3.2010, L 11 KR 460/10 ER-B sowie Keller in: Meyer-Ladewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 29a).
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Vorliegend ist es überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin einen materiellrechtlichen Anspruch gegen den Antragsgegner hat und ein Anordnungsgrund gegeben ist.
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a) Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Erteilung der Bescheinigung nach § 275d Abs. 2 Satz 2 SGB V, da sie hinreichend glaubhaft gemacht hat, dass sie die Voraussetzungen des OPS 8-552 erfüllt.
22
Die Abrechnungsbestimmungen sind wegen ihrer Funktion im Gefüge der Ermittlung des Vergütungstatbestandes innerhalb eines vorgegebenen Vergütungssystems eng am Wortlaut orientiert und unterstützt durch systematische Erwägungen auszulegen (vgl. BSG Urt. v. 26.9.2017 – B 1 KR 9/17 R, BeckRS 2017, 131341 Rn. 14).
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Nach dem Wortlaut des hier streitgegenständlichen Strukturmerkmals des OPS 8-552 (Version 2023) ist ein „Vorhandensein von folgenden Therapiebereichen: Physiotherapie/Krankengymnastik, Physikalische Therapie, Ergotherapie, (Neuro-) Psychologie, Logopädie/fazioorale Therapie“ erforderlich.
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Dem Gutachten des Antragsgegners vom 08.11.2023 kann unstreitig entnommen werden, dass die genannten Therapiebereiche grundsätzlich vorhanden sind. Streitig ist lediglich, ob der vom Antragsgegner geforderte Mindestumfang von Montag bis Freitag erfüllt sein muss. Dafür spricht, dass das Wort „Vorhandensein“ im Zusammenhang mit dem Vorliegen eines Strukturmerkmals so zu verstehen ist, dass ein dauerhaftes bzw. regelmäßiges und nicht nur vorübergehendes Angebot an Therapieleistungen gegeben sein muss. Nach Ansicht der erkennenden Kammer bedeutet dies aber nicht, dass die Therapieleistungen an fünf Tagen bzw. 40 Stunden pro Woche zur Verfügung stehen muss. Solange der Therapiebereich mit entsprechenden Personal in Voll- oder auch nur in Teilzeit vorgehalten wird, kann von einem „Vorhandensein“ i.S.d. OPS 8-552 ausgegangen werden. Auch der Wortlaut des OPS 8-552 lässt keine anderen Schlussfolgerungen zu. Im Gegensatz zu anderen OPS-Codes, wie z.B. der OPS 8-718.8, wonach eine werktägliche Verfügbarkeit für Logopädie und Psychotherapie erforderlich ist, sieht der OPS 8-552 bzgl. der streitigen Therapiebereiche gerade keine konkreten Zeitangaben vor. Auch der Begutachtungsleitfaden und die Anlage 6a zur Begutachtungsrichtlinie enthalten keine weitere Konkretisierung zum zeitlichen Umfang. Der Umstand, dass die Antragstellerin für einzelne Tage während des dreimonatigen Prüfzeitraums die Verfügbarkeit eines Therapiebereiches nicht nachweisen konnte, ist daher unschädlich. Der Begutachtungsleitfaden (Seite 71) sieht zwar vor, dass „für den Fall, dass die qualifizierte Person für den Therapiebereich oder das Verfahren nicht zur Verfügung steht, eine entsprechende Vertretung mit der jeweils kodespezifisch geforderten Qualifikation sicherzustellen sei“. Dies kann aber nur so verstanden werden, dass eine entsprechende Vertretung im Krankheitsfall oder Urlaub grundsätzlich sichergestellt sein muss. Dies ist vorliegend auch der Fall, da die beiden Therapiebereiche mit jeweils drei Therapeuten besetzt sind, die sich gegenseitig vertreten können. Wenn im konkreten Vertretungsfall aber die vertretende Person ebenfalls abwesend ist, kann dies nicht zum Wegfall der Voraussetzungen führen, da der OPS 8-552 wie oben bereits ausgeführt keine werktägliche Verfügbarkeit für die Therapiebereiche voraussetzt. Nach alledem steht der Antragstellerin ein Anspruch auf die Erteilung der Bescheinigung nach § 275d Abs. 2 Satz 2 SGB V zu.
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b) Die Antragstellerin kann auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft machen, zumal die Anforderungen an den Anordnungsgrund umso geringer sind, je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind (Keller in: Meyer-Ladewig u. a., Kommentar zum Sozialgerichtsgesetz, § 86 b Rd. Nr. 27). Da der Antragstellerin ein Anordnungsanspruch zusteht, erscheint es für die Antragstellerin im Hinblick auf die zu erwartenden finanziellen Nachteile unzumutbar, den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abzuwarten. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass die A... mitgeteilt hat, dass die Antragstellerin keine Patienten mehr aufnehmen dürfe, was zu einem faktischen Erbringungsverbot führen würde. Ein Nachholen der wegen des Fehlens der positiven Bescheinigung unterlassenen Leistungen wäre der Antragstellerin aber schlichtweg unmöglich, sodass sie mit erheblichen Liquiditätsengpässen zu rechnen hätte.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 197a SGG i. V.m. §§ 154 ff. Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Weder die Antragstellerin noch die Antragsgegnerin gehören zu den in § 183 SGG genannten Personen. Gem. § 154 Abs. 1 VwGO trägt der unterliegende Teil die Kosten des Verfahrens.
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4. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 53 Abs. 2 Nr. 4, 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (GKG).