Titel:
Schadensersatz und Schmerzensgeld, Impfung, Hypothetische Einwilligung, Elektronisches Dokument, vertragsärztliche Versorgung, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Schutzimpfung, Aufklärungspflicht des Arztes, Verletzung der Aufklärungspflicht, außergerichtliche Anwaltskosten, Streitwert, Elektronischer Rechtsverkehr, Amtshaftung, Verzugszinsen, Klageschrift, Schadensersatzpflicht, Termin zur mündlichen Verhandlung, Kostenentscheidung, Anderweitige Erledigung, Postzustellungsurkunde
Schlagworte:
Amtshaftung, Hoheitliches Handeln, Aufklärungspflicht, Hypothetische Einwilligung, Impfkampagne, Massenimpfung, Arztgespräch
Fundstelle:
BeckRS 2024, 48500
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 171.048,22 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten um Schadensersatz und Schmerzensgeld anlässlich einer Impfung gegen Covid-19, welche der Beklagte am 01.12.2021 an die Klägerin verabreichte.
2
Der Beklagte ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie. Die Klägerin befand sich bei ihm in orthopädischer Behandlung. Am 01.12.2021 war die Klägerin gemeinsam mit ihrem Ehemann zur Corona-Impfung in der Praxis des Beklagten. Sie erhielt dort eine Booster-Impfung mit dem Wirkstoff der Firma Moderna. Zwei vorangegangene Impfungen gegen Covid-19 hatte die Klägerin am 19.04.2021 im Impfzentrum Ulm und am 30.06.2021 bei einem Allgemeinmediziner erhalten. Dort wurde ihr am 19.04.2021 der Wirkstoff der Firma AstraZeneca und am 30.06.2021 der Wirkstoff der Firma BioNTec verabreicht.
3
Die Klägerin behauptet, sie habe einen Impfschaden erlitten. Sie habe drei bis vier Tage nach der Impfung Schmerzen im rechten Bein entwickelt. Zwei Wochen nach der Impfung habe sie eine zunehmende aufsteigende Tetraparese und ein Taubheitsgefühl in beiden Beinen entwickelt. Sie habe sich bereits am 04.02.2022 in der Notaufnahme im Klinikum Friedrichshafen vorgestellt. Bei weiterer Progredienz sei schließlich die stationäre Aufnahme am 07.02.2022 erfolgt. Elektrophysiologisch sei eine fortgeschrittene beinbetonte demyelinisierende Läsion festgestellt worden. Der Liquorbefund sei typisch für ein Guillain-Barré-Syndrom. Sie sei in der Klinik bis zum 22.02.2022 behandelt und dann nach Hause entlassen worden.
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Die Klägerin sei von dem Beklagten nicht über die Risiken der Booster-Impfung aufgeklärt worden. Insbesondere sei ihr nicht mitgeteilt worden, dass sich ein Guillain-Barré-Sydrom (GBS) ausbilden könne. Zum damaligen Zeitpunkt sei bereits bekannt gewesen, dass es dazu kommen könne. Hätte die Klägerin um die möglichen dramatischen Nebenwirkungen der Impfung gewusst, hätte sie die Impfung nicht durchführen lassen, oder sich zumindest eine zweite Meinung eingeholt. Zum damaligen Zeitpunkt sei die Epidemie bereits im Abklingen gewesen. Es sei unklar gewesen, ob eine Booster-Impfung notwendig werden und bleiben würde.
5
Die Klägerin meint, die Impfung sei insgesamt nicht von einer ordnungsgemäßen Einwilligung der Klägerin gedeckt und somit rechtswidrig. Der Beklagte hafte für alle aus der Impfung entstandenen Folgen.
6
Die Klägerin beantragt:
- 1.
-
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin materiellen Schadensersatz in Höhe von 26.048,22 € nebst Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 11.06.2023 zu bezahlen.
- 2.
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Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens aber 100.000,00 €, nebst Verzugszinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 11.06.2023 zu bezahlen.
- 3.
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Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle weiteren materiellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus der Impfung bei dem Beklagten am 01.12.2021 entstanden sind und noch entstehen werden, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind oder übergehen werden.
- 4.
-
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle weiteren, nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus der Impfung bei dem Beklagten am 01.12.2021 noch entstehen werden.
- 5.
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Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin außergerichtliche Anwaltskosten in Höhe von 1376,65 € zu bezahlen.
7
Der Beklagte beantragt,
8
Der Beklagte behauptet, er habe vor der Impfung sehr gründlich die Anamnese erhoben, um etwaige Gegenanzeigen abzuklären. Er habe der Klägerin ein Aufklärungsmerkblatt vorgelegt, sei es mit der Klägerin durchgegangen und habe sie über die Risiken aufgeklärt. Die Klägerin habe das Aufklärungsmerkblatt unterzeichnet. Der Aufklärungsbogen habe sich auf dem Stand vom 04.11.2021 befunden. Dass es bei der Gabe des Impfstoffs zu einer GBA kommen könne, sei bei den Erstellern des Aufklärungsbogens, dem RKI nicht bekannt gewesen. Die Risiken seien aber von den Hinweisen auf schwerwiegende Komplikationen wie Gesichtslähmungen, Herzmuskel- und Herzbeutelentzündung erfasst.
9
Die Klägerin habe die Impfung selbst gewünscht. Sie habe sich nicht in einem Entscheidungskonflikt befunden. Sie sei Pharmareferentin. Aufgrund ihres Berufes seien ihr die Risiken der Impfung ohnehin bekannt gewesen. Nach den Vorgaben ihres Arbeitgebers sei sie verpflichtet gewesen, die dritte Impfung vorzunehmen. Aufgrund der 3G-Regel hätte sie ansonsten nicht weiter arbeiten dürfen.
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Der Beklagte meint, er habe sich auf die Vorgaben des Robert-Koch-Instituts verlassen dürfen. Es müsse nur über solche Risiken aufgeklärt werden, die nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft tatsächlich bekannt seien.
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Außerdem meint der Beklagte, er sei schon gar nicht passivlegitimiert. Ein niedergelassener Arzt hafte nicht wegen einer vermeintlich fehlerhaft durchgeführten Schutzimpfung bzw. mangelnder Aufklärung über das Corona-Virus, da er bei Impfungen in Ausübung der ihm insoweit übertragenen, hoheitlichen Aufgaben als Beamter im haftungsrechtlichen Sinne handele. Die Verantwortlichkeit für ein etwaiges Fehlverhalten hinsichtlich der Impfung bzw. Aufklärung treffe das jeweilige Bundesland.
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Die am 15.12.2023 bei dem Landgericht Memmingen eingegangene Klageschrift vom 29.11.2023 ist dem Beklagten ausweislich der bei der Akte befindlichen Postzustellungsurkunde am 11.01.2024 zugestellt worden.
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Das Gericht hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 05.07.2024 beide Parteien persönlich informatorisch angehört und den Zeugen … uneidlich einvernommen.
14
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteivertreter nebst Anlagen sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 05.07.2024.
Entscheidungsgründe
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A. Die zulässige Klage ist unbegründet.
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I. Die Klage ist zulässig. Das Landgericht Memmingen ist gemäß §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich und gemäß §§ 12, 13 ZPO örtlich zuständig.
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II. Die Klage ist unbegründet.
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Die Klägerin hat gegen den Beklagten keine Ansprüche auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld oder Feststellung der weiteren Schadensersatzpflicht, und zwar weder gemäß §§ 630a, 280, 249, 253 BGB noch aufgrund deliktsrechtlicher Vorschriften nach §§ 823, 831, 31, 249, 253 BGB.
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1. Die Ansprüche nach diesen Normen sind gem. Art. 34 S. 1 GG ausgeschlossen, da der Beklagte bei der streitgegenständlichen Impfung in Ausübung der ihm insoweit übertragenen hoheitlichen Aufgabe als Beamter im haftungsrechtlichen Sinne handelte (so auch OLG Stuttgart, Urteil vom 15.06.2024, Az. 1 U 34/23, LG Dortmund, Urteil vom 01.06.2023, Az. 4 O 163/22, Heiden in NJW 2022, 3737 und Dutta in NJW 2022, 649, a.A. Voit in PharmR 2021, 393). Die Verantwortlichkeit für ein etwaiges Fehlverhalten des Beklagten trifft damit allein das Land Bayern.
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1.1. Zieht der Staat private Unternehmer zur Erfüllung ihm obliegender Aufgaben auf privatrechtlicher Grundlage heran, so hängt die Qualifikation der Tätigkeit des Unternehmers als hoheitlich oder nicht hoheitlich von dem Charakter der wahrgenommenen Aufgabe, der Sachnähe der übertragenen Tätigkeit zu dieser Aufgabe und dem Grad der Einbindung des Unternehmers in den behördlichen Pflichtenkreis ab. Je stärker der hoheitliche Charakter der Aufgabe in den Vordergrund tritt, je enger die Verbindung zwischen der übertragenen Tätigkeit und der von der Behörde zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe und je begrenzter der Entscheidungsspielraum des Unternehmers ist, desto näher liegt es, ihn als Beamten im haftungsrechtlichen Sinne anzusehen. Es ist darauf abzustellen, ob die auftraggebende Behörde in so weitgehendem Maße auf die Durchführung der Arbeiten Einfluss genommen hat, dass sie die Arbeiten des privaten Unternehmers wie eigene gegen sich gelten lassen und es so angesehen werden muss, wie wenn der Unternehmer lediglich als Werkzeug der öffentlichen Behörde bei der Durchführung ihrer hoheitlichen Aufgaben tätig geworden wäre (BGH, Urteil vom 18.2.2014 – VI ZR 383/12; BGH, Urteil vom 18.2.2014 – VI ZR 383/12, jeweils m.w.N.).
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1.2. Nach diesen Grundsätzen handelte der Beklagte bei der Durchführung der Impfung hoheitlich, denn der Staat bediente sich im streitgegenständlichen Zeitraum der niedergelassenen Ärzte, um sein Ziel der möglichst flächendeckenden Impfung der Bevölkerung zu realisieren. Die Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 unterscheidet sich insofern grundlegend von anderen Schutzimpfungen, bei denen der Staat lediglich eine Empfehlung ausspricht und bei denen deshalb auch ein Privater als impfende Person haftet (vgl. BGHZ 144, 1 = NJW 2000, 1784 zum oralen Polio-Impfstoff). Zu berücksichtigen ist insoweit die im streitgegenständlichen Zeitraum breit angelegte bundesweite Impfkampagne mit dem Ziel, eine möglichst hohe Impfquote zu erreichen (vgl. z.B. Bericht zum Stand der COVID-19-Impfkampagne des Bundesministeriums für Gesundheit vom 26.07.2021). Die Bundesregierung forderte die Bürger in diesem Rahmen dazu auf, sich gegen Covid-19 impfen zu lassen, um sich selbst, die Familie und den Freundes- und Kollegenkreis zu schützen. Man ging davon aus, dass jede Impfung helfe und Geimpfte andere seltener anstecken würden als Ungeimpfte (vgl. z.B. Flyer der Bundesregierung „Impfen hilft. 7 gute Gründe, sich jetzt impfen zu lassen“, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/7-gute-gruende-corona-impfung-2001630).
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Um dieses Ziel zu erreichen, schuf die Bundesregierung einen gesetzlichen Anspruch auf eine entsprechende Impfung. Gemäß § 20 i Abs. 3, S. 2 SGB V in der im streitgegenständliche Zeitraum gültigen Fassung war das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt, durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass Versicherte Anspruch auf bestimmte Schutzimpfungen haben. Hiervon hat es durch die CoronalmpfVO a.F. Gebrauch gemacht und dort in § 1 bestimmt, dass unter anderem alle in der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung Versicherten sowie alle, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatten, im Rahmen der Verfügbarkeit der vorhandenen Impfstoffe Anspruch auf eine Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 hatten. Diesen Anspruch konnte der Staat nur erfüllen, indem er sämtliche verfügbaren medizinischen Fachkräfte heranzog. So regelte § 3 Abs. 1 Nr. 4 CoronalmpfVO a.F. zunächst, dass die Impfungen und die damit zusammenhängende Aufklärung insbesondere – wie hier – durch Arztpraxen, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, erbracht wurden. Im Referentenentwurf des BMG heißt es hierzu: „Durch die immer besser werdende Verfügbarkeit der Impfstoffe ist es möglich, nunmehr auch Arztpraxen mit der Durchführung der Schutzimpfungen zu beauftragen. (…) Eine flächendeckende Verimpfung durch Arztpraxen, also der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringer und der ambulant privatärztlich tätigen Ärztinnen und Ärzten, sowie der Betriebsärztinnen und -ärzte wird ermöglicht. Arztpraxen und Betriebsärztinnen und -ärzte können Schutzimpfungen erbringen, wenn sie damit beauftragt sind. Die Beauftragung erfolgt durch die Zurverfügungstellung des Impfstoffs. Im Beschluss der Bundeskanzlerin und der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 3. März 2021 ist der Übergang in die nächste Phase der Nationalen Impfstrategie vorgesehen. In dieser Phase sollen die haus- und fachärztlichen Praxen, die in der Regelversorgung routinemäßig Schutzimpfungen anbieten, umfassend in die Impfkampagne eingebunden werden.“
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Der Beklagte erfüllte durch die Impfung also einen Anspruch des Klägers gegen den Staat, der aufgrund einer Zielvorstellung der Regierung geschaffen worden war und den der Staat aus eigener Kraft nicht hätte erfüllen können.
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1.3. Daneben spricht auch die Abrechnung und Finanzierung der Impfungen für deren hoheitlichen Charakter. So wurden in § 9 der CoronalmpfVO a.F. für die Verimpfung in Arztpraxen fallbezogene Vergütungsvorgaben aufgenommen. Die Vergütung wurde über die Kassenärztlichen Vereinigungen abgerechnet und aus Bundesmitteln refinanziert. Nach dem Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz vom 6. November 2020 beschaffte und finanzierte der Bund zudem die Impfstoffe und die Länder das notwendige Impfzubehör (vgl. RefE des Bundesministeriums für Gesundheit zur CoronalmpfV, Stand 09.03.2021). Kostenträger der Impfungen war damit im Ergebnis allein der Staat.
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Die Amtshaftung verdrängt sodann eine Haftung der impfenden Person, denn eine Eigenhaftung eines Beamten (im haftungsrechtlichen Sinne) kommt nicht in Betracht, wenn eine Amtshaftung des Staates (kombiniert aus Eigenhaftung des Beamten und Haftungsübernahme des Staates) nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG als lex specialis greift (Dutta a.a.O.).
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2. Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass außerdem keine Verletzung der Aufklärungspflicht durch den Beklagten vorliegt.
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2.1. Die Kammer ist davon überzeugt, dass der Beklagte die Klägerin ordnungsgemäß über die Risiken der verabreichten COVID-19-Impfung aufgeklärt hat. Die Klägerin hat auf dieser Grundlage der Impfung wirksam zugestimmt. Auch deshalb stehen ihr schon dem Grunde nach keine Ansprüche gegen den Beklagten zu. Die Frage, ob durch die Impfung bei der Klägerin ein Gesundheitsschaden eingetreten ist und welche Schäden gegebenenfalls verursacht wurden, kann offen bleiben.
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2.1.1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Einwilligung in eine Impfung nur wirksam, wenn über die damit verbundenen Risiken aufgeklärt wurde. Einer solchen Risikoaufklärung bedarf es auch bei einer freiwilligen Impfung, und zwar selbst dann, wenn diese öffentlich empfohlen ist (BGHZ 126, 286 = NJW 1994, 3012; BGH, NJW 1990, 2311). Entscheidend für die ärztliche Hinweispflicht ist nicht ein bestimmter Grad der Risikodichte, insbesondere nicht eine bestimmte Statistik. Maßgebend ist vielmehr, ob das betreffende Risiko dem Eingriff spezifisch anhaftet und es bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet (BGHZ 126, 386 [389] = NJW 1994, 3012; BGH, NJW 1996, 779). Grundsätzlich ist auch über äußerst seltene Risiken aufzuklären. Das gilt auch für öffentlich empfohlene Impfungen, bei denen die Grundimmunisierung der Gesamtbevölkerung zur Verhinderung einer epidemischen Verbreitung der Krankheit im öffentlichen Interesse liegt (BGH, NJW 2000, 1784 [1785]). In Fällen öffentlicher Impfempfehlung hat zwar durch die Gesundheitsbehörden eine Abwägung zwischen den Risiken der Impfung für den Einzelnen und seine Umgebung auf der einen und den der Allgemeinheit und dem Einzelnen drohenden Gefahren im Falle der Nichtimpfung auf der anderen Seite bereits stattgefunden. Das ändert aber nichts daran, dass die Impfung gleichwohl freiwillig ist und sich der einzelne Impfling daher auch dagegen entscheiden kann. Dieser muss sich daher nicht nur über die Freiwilligkeit der Impfung im Klaren sein. Er muss auch eine Entscheidung darüber treffen, ob er die mit der Impfung verbundenen Gefahren auf sich nehmen soll oder nicht (BGH, NJW 2000, 1784 [1785]; vgl. auch BGH, VersR 1959, 355). Das setzt die Kenntnis dieser Gefahren, auch wenn sie sich nur äußerst selten verwirklichen, voraus; diese Kenntnis muss ihm daher durch ärztliche Aufklärung vermittelt werden (BGH, NJW 2000, 1784 [1785 f.]).
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2.1.2. Für sogenannte Routineimpfungen ist es nach der Rechtsprechung des BGH in zeitlicher Hinsicht ausreichend, wenn der Impfling am Tag des Eingriffs aufgeklärt wird (BGH, NJW 2000, 1784 [1787]). Allerdings bedarf es zum Zwecke der Aufklärung auch in diesen Fällen des vertrauensvollen Gesprächs zwischen Arzt und Patienten (BGH, NJW 2000, 1784 [1787]; BGH, NJW 1985, 1399). Das schließt jedoch nicht die Verwendung von Merkblättern aus, in denen die notwendigen Informationen zu dem Eingriff einschließlich seiner Risiken schriftlich festgehalten sind. Derartige schriftliche Hinweise sind heute weitgehend üblich und haben den Vorteil einer präzisen und umfassenden Beschreibung des Aufklärungsgegenstands sowie der für den Arzt wesentlichen Beweisbarkeit. Sie sind insbesondere bei Routinebehandlungen, also auch bei öffentlich empfohlenen Schutzimpfungen am Platze (BGH, NJW 2000, 1784 [1787]). Allerdings vermögen solche Merkblätter nicht das erforderliche Arztgespräch zu ersetzen (BGH, NJW 1985, 1399). Der Arzt muss sich überzeugen, ob der Patient die schriftlichen Hinweise gelesen und verstanden hat und auf die individuellen Belange des Patienten eingehen und eventuelle Fragen beantworten. Doch gebietet dieses Erfordernis eines Aufklärungsgesprächs nicht in jedem Fall eine mündliche Erläuterung der Risiken (BGH, NJW 2000, 1784 [1787]). Unter Umständen, insbesondere bei öffentlich empfohlenen Impfungen, kann der Arzt ausnahmsweise davon ausgehen, dass der Patient auf eine zusätzliche gesprächsweise Risikodarstellung keinen Wert legt. Bei derartigen Routinemaßnahmen kann es genügen, wenn dem Patienten nach schriftlicher Aufklärung Gelegenheit zu weiteren Informationen durch ein Gespräch mit dem Arzt gegeben wird (BGH, NJW 2000, 1784 [1787]). Ob die Impfung in öffentlichen Impfterminen oder als Einzelimpfung vorgenommen wird, ist dabei nicht von maßgeblicher Bedeutung. Der BGH geht davon aus, dass aus dem Schweigen auf die Aussage, dass die Impfung nun vorgenommen werden könne, geschlossen werden kann, dass ein Bedürfnis nach weiterer Aufklärung nicht bestand (BGH, NJW 2000, 1784 [1787]).
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2.1.3. Bei der streitgegenständlichen Impfung wurde ein neuartiger mRNA-Impfstoff verabreicht, der vorläufig von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zugelassen wurde. Aus diesem Grunde handelte es sich nicht um eine Routineimpfung im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung. Gleichwohl sind nach Auffassung der Kammer die dargelegten Grundsätze des BGH zu den sogenannten Routineimpfungen auf den vorliegenden Fall zu übertragen (so auch LG Heilbronn, Urteil vom 14.02.2023, Az. 1 O 65/22).
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Die Ständige Impfkommission sprach für die streitgegenständliche COVID-19-Impfung eine Empfehlung aus und gab dafür eine ausführliche wissenschaftliche Begründung (Epidemiologisches Bulletin 2/2021 des Robert-Koch-Instituts, STIKO-Empfehlung zur COVID-19-Impfung). Somit beruhte die Impfung auf einer öffentlichen Empfehlung. Die Corona-Pandemie war im Jahr 2020 das bestimmende Thema in Politik und Gesellschaft. Der mRNA-Impfstoff von Moderna war seit Herbst 2020 Gegenstand der Berichterstattung in den Medien. Daher ist davon auszugehen, dass der Grund für die Impfung und der Impfstoff in der Bevölkerung allgemein bekannt war. Nach den klinischen Prüfungen, die eine hohe Wirksamkeit des Impfstoffs versprachen, war die Grundstimmung im überwiegenden Teil der Bevölkerung gegenüber der Impfung positiv. Der Andrang in den Impfzentren überstieg in der Anfangszeit bei weitem die Zahl der verfügbaren Impfdosen. Die Impfung gegen COVID-19 mit mRNA-Impfstoffen war im ersten Halbjahr 2021 eine Massenimpfung von Millionen Menschen.
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Würde man verlangen, dass vor jeder Impfung ein persönliches ausführliches ärztliches Aufklärungsgespräch erforderlich ist, wäre dies logistisch kaum zu leisten gewesen und hätte die Impfkampagne erheblich verzögert. Dies bedeutet nicht, dass auf das grundsätzliche Erfordernis eines persönlichen ärztlichen Aufklärungsgesprächs verzichtet werden kann. Bei dieser Gemengelage erscheint es aber angemessen und ausreichend, dass nach vorheriger schriftlicher Aufklärung mittels Merkblatt jedem Impfling die Möglichkeit gegeben wird, im mündlichen Arztgespräch vor der Impfung Nachfragen zu stellen und weitere Informationen einzuholen. Aufgrund der breiten öffentlichen Diskussion, dem hohen Informationsstand in der Bevölkerung und auch der hohen Impfbereitschaft konnte der Impfarzt davon ausgehen, dass der Impfling bei einer schriftlichen Aufklärung auf eine zusätzliche gesprächsweise Risikodarstellung keinen Wert legt. Schweigt der Impfling vor Verabreichung der Impfung auf die Frage des Impfarztes, ob noch Fragen bestünden bzw. ob die Impfung nun vorgenommen werden könne, kann der Arzt davon ausgehen, dass er keine weiteren Informationen zu den Risiken der Impfung möchte. Der Aufklärungspflicht ist daher Genüge getan, wenn ein Aufklärungsmerkblatt ausgehändigt wird und zusätzlich im mündlichen Arztgespräch die Möglichkeit zu Nachfragen besteht (in diesem Sinne auch Spickhoff NJW 2022, 1718 Rn. 4; auf der Heiden, NJW 2022, 3737 Rn. 23).
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2.2. Nach Überzeugung der Kammer, die auf der Anhörung der Parteien und der durchgeführten Beweisaufnahme beruht, entsprach die Aufklärung durch den Beklagten diesem Maßstab und war damit ausreichend und ordnungsgemäß. Dabei hat das Gericht die Angaben der Parteien nach §§ 141, 278 Abs. 2 Satz 3 ZPO nicht als Beweismittel, sondern wie allgemein anerkannt im Rahmen der freien Würdigung des Verhandlungsergebnisses verwertete.
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2.2.1. Das Gericht ist überzeugt, dass der Klägerin das als Anlage B3 vorgelegte Aufklärungsmerkblatt zur Schutzimpfung gegen COVID-19 mit mRNA-Impfstoffen (Stand: 04.11.2021) und der in der Hauptverhandlung vorgelegte und als Anlage zu Protokoll genommene Bogen „Anamnese, Einwilligung“ bereits bei der Vereinbarung des Termins zum Download zu Verfügung gestellt wurde.
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Der Beklagte erklärte zum Impfablauf in seiner Praxis, dass sich die Patienten online für die Impfung anmelden und bei dieser Gelegenheit den Anamnesebogen und den Aufklärungsbogen ausfüllen. Diese Unterlagen seien vom Patienten mit in die Praxis zu bringen. Sollte ein Patient die Bögen nicht mitbringen, müsse er diese im Wartezimmer ausfüllen oder einen neuen Termin vereinbaren. Die Angaben des Beklagten werden gestützt durch die als Anlagen vorgelegten Bögen. Diese sind mit dem Computer ausgefüllt und tragen die Unterschrift der Klägerin.
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In der Klageschrift ließ die Klägerin zunächst den Eindruck erwecken, ein Aufklärungsmerkblatt habe ihr vor der Impfung nicht vorgelegen (Klageschrift Blatt 5). Erst auf das mit der Klageerwiderung vom 01.02.2024 vorgelegte und von der Klägerin unterzeichnete Aufklärungsmerkblatt wurde in der Replik vom 14.03.2024 mitgeteilt, dass jedenfalls kein Aufklärungsmerkblatt mit der Klägerin durchgegangen worden sei. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 05.07.2024 gab die Klägerin an, der Beklagte habe ihr im Behandlungszimmer einen Bogen hingelegt und dann den Raum verlassen, um den Impfstoff zu holen. Sie habe den Bogen dann unterschrieben, ohne ihn zu lesen. Anhand dieses Vortrags erschließt sich jedoch nicht, wie es zu den Computereintragungen insbesondere auf dem Anamnesebogen kam. Es sind hier Informationen vermerkt, die sich aus den orthopädischen Behandlungsunterlagen nicht ergeben.
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Nach der Erinnerung des Zeugen … wurde der Aufklärungsbogen von der Arzthelferin ausgefüllt. Auf Vorhalt des Anamnesebogens relativierte er seine Angabe und wies darauf hin, dass es sich lediglich um eine Vermutung handele, dass die Arzthelferin etwas ausgefüllt habe. Aus Sicht der Kammer spricht gegen die Vermutung des Zeugen … dass die Zeugin ohne Rücksprache mit der Klägerin gar nicht in der Lage gewesen wäre, die Fragen des Anamnesebogens zu beantworten. So mag sie die Frage drei des Anamnesebogens noch mit einem Blick in den Impfpass selbst beantworten können, zur Beantwortung der weiteren Fragen wäre jedoch ein Gespräch mit der Klägerin erforderlich gewesen. Weder nach den Angaben der Klägerin noch des Zeugen … gab es ein solches Gespräch mit der Arzthelferin.
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Das Gericht ist deshalb überzeugt, dass die Klägerin sich bereits bei der Vereinbarung des Termins, das Aufklärungsmerkblatt herunterlud, ihren Nahmen und ihr Geburtsdatum am Computer eintrug und das Merkblatt ausgedruckt mit in die Praxis brachte. In zeitlicher Hinsicht hatte die Klägerin damit ausreichend Gelegenheit von dem Inhalt des Aufklärungsmerkblatts Kenntnis zu nehmen.
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2.2.2. Das Aufklärungsmerkblatt wurde vom Deutschen Grünen Kreuz Marburg in Kooperation mit dem Robert-Koch-Institut erstellt und vom Sozialministerium herausgegeben. Es befand sich auf dem aktuellen Stand. Der Beklagte durfte darauf vertrauen, dass das Aufklärungsmerkblatt, dem damaligen Stand der Forschung entsprach und über die Risiken und Nebenwirkungen der COVID-19-Impfung mit einem mRNA-Impfstoff gemäß dem damaligen Stand der Wissenschaft zutreffend informierte. Der Vorwurf der Klägerin, es sei zum damaligen Zeitpunkt bereits bekannt gewesen, dass sich durch die Impfung ein Guillain-Barré-Sydrom ausbilden könne, geht damit ins Leere. Der Beklagte als Orthopäde war nicht verpflichtet, eigene Recherchen zu den Risiken und Nebenwirkungen der Impfung zu betreiben.
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2.2.3. Nachdem die Klägerin schriftlich aufgeklärt wurde, war es für eine ordnungsgemäße Aufklärung über die Impfung ausreichend, dass die Klägerin bei der Impfung Fragen stellen konnte. Auf Grund der Angaben der Parteien in der mündlichen Verhandlung und der durchgeführten Beweisaufnahme ist die Kammer davon überzeugt, dass der Beklagte der Klägerin vor der Impfung die Möglichkeit einräumte Fragen zu stellen und diese im Einklang mit den Impfempfehlungen der Stiko beantwortete. Damit hat der Beklagte seine Aufklärungspflicht im Rahmen der dargelegten rechtlichen Grundsätze ordnungsgemäß erfüllt.
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2.2.3.1. Die Klägerin gab in ihrer informatorischen Anhörung an, es sei alles sehr schnell gegangen. Sie habe den Beklagten gefragt, ob eine dritte Impfung sinnvoll sei. Dies habe er bejaht. Es sei dann noch über den Impfstoff gesprochen worden. Der Beklagte habe gefragt, welchen Impfstoff sie wolle und welche Impfstoffe sie bei den vorherigen Impfungen bereits erhalten habe. Er habe dann eine Empfehlung für eine Impfung mit dem Wirkstoff der Firma Moderna ausgesprochen.
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2.2.3.2. Der Beklagte hatte keine konkrete Erinnerung an das Aufklärungsgespräch. Er gab an, dass häufig die verschiedenen Impfstoffe Gesprächsthema seien. Der Stiko Vorsitzende Virologe Prof. Thomas Mertens, habe die Meinung vertreten, dass es gut sei, drei verschiedene Impfstoffe zu verwenden. Er frage stets, welche Impfstoffe der Patient bereits erhalten habe und kontrolliere die Impfabstände. Vor der Impfung frage er, ob noch Fragen bestünden. Sollte dies der Fall sein, beantworte er diese.
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2.2.3.4. Der Zeuge … gab an, dass alles ziemlich schnell gegangen sei. Der Beklagte habe nur gefragt habe, welchen Impfstoff er und die Klägerin gerne hätten. Man habe den Beklagten dann nach einer Empfehlung gefragt. Daraufhin habe der Beklagte geantwortet, sie sollten es machen, wie die drei Panzerknacker und alle drei verwenden. Es sei auch nach den Nebenwirkungen der Impfung gefragt worden. Der Beklagte habe die Frage dahingehend beantwortet, dass er und die Klägerin ja bereits zwei Impfungen gehabt hätten und dass immer etwas passieren könne. Aufgrund des Vergleichs mit dem Comic, sei er das Thema eventuell etwas unbedarft angegangen und sei sich der Relevanz nicht bewusst gewesen.
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2.2.3.5. Schon aus den Angaben der Klägerin selbst und dem von ihr benannten Zeugen ergibt sich, dass die Klägerin vor der Impfung Gelegenheit hatte, Fragen an den Arzt zu stellen. Beide verwiesen darauf, dass es ziemlich schnell gegangen sei, schilderten aber auch einen Dialog mit dem Arzt. Die Klägerin hatte es nach der Überzeugung der Kammer in der Hand, sich erst nach der Beantwortung ihrer Fragen impfen zu lassen. Sie hinterließ in der mündlichen Verhandlung auch nicht den Eindruck, dass es sich bei ihr um eine ängstliche oder zurückhaltende Person handelt.
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2.2.3.6. Die Aufklärung des Beklagten stand auch im Einklang mit den Impfempfehlungen der Stiko. Diese empfahl zum damaligen Zeitpunkt allen Personen über 18 Jahren, eine Auffrischimpfung mit einem mRNA-Impfstoff durchführen zu lassen. Für Personen über 30 Jahren, zu denen auch die Klägerin zählt, hielt die Stiko die mRNA-Impfstoffe Comiranty (Biontec/Pfizer) und Spikevax (Moderna) gleich geeignet (Epidemiologisches Bulletin 48/2021 des Robert-Koch-Instituts, STIKO-Empfehlung zur COVID-19-Impfung). Der Beklagte war deshalb berechtigt, eine Impfung mit dem Wirkstoff der Firma Moderna zu empfehlen. Die allgemeine Empfehlung zur Auffrischimpfung war ebenfalls von der Stiko vorgegeben. Entgegen der Ansicht der Klagepartei war der Beklagte nicht gehalten, Alternativen zur Impfung aufzuzeigen.
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3. Zuletzt und auch nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Kammer davon überzeugt ist, dass die Klägerin die Impfung in jedem Fall hätte durchführen lassen und etwaige Aufklärungsmängel daher durch die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung geheilt sind. Die Initiative zur Impfung ging von der Klägerin aus. Sie wollte sich nach ihren Angaben im Termin noch vor ihrem Umzug impfen lassen. Dieser stand unmittelbar bevor. Vor diesem Hintergrund ist der schriftsätzliche Einwand, man hätte gegebenenfalls noch eine Zweitmeinung eingeholt für die Kammer nicht nachvollziehbar.
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Durch die damalige ausführliche Diskussion zur Coronaimpfung in den Medien musste der Klägerin bekannt sein, dass es in Einzelfällen zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen könne. Zudem war die streitgegenständliche Impfung gegen Corona die dritte Coronaimpfung der Klägerin im Jahr 2021. Bei der Anhörung im Termin gab die Klägerin an, dass sie bei den beiden vorangegangenen Impfungen eine ausführliche Aufklärung erhalten habe. Sie konnte sich hier an Details erinnern, wie dass ihr im Rahmen der ersten Impfung im Impfzentrum Ulm ein Film gezeigt wurde, der auf die Möglichkeit eines anaphylaktischen Schocks oder einer Überreaktion als Folge der Impfung hinwies. Wenn der Klägerin die Aufklärung von der ersten Impfung noch drei Jahre später derart präsent ist, muss davon ausgegangen werden, dass dies zum Zeitpunkt der Impfung beim Beklagten, knapp acht Monate später, erst recht der Fall war.
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B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
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C. Der Ausspruch der vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 S. 2 ZPO.
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D. Der Streitwert richtet sich nach § 48 Abs. 1 GKG, §§ 3 ff. ZPO.