Inhalt

ArbG Bayreuth, Endurteil v. 08.07.2024 – 1 Ca 817/23
Titel:

Konsultationsverfahren, Betriebsratsanhörung, Beteiligung des Betriebsrats, Stellungnahme des Betriebsrats, Anhörung des Betriebsrats, Massenentlassungsanzeige, Massenentlassungsrichtlinie, Interessenausgleich, Beteiligungsrechte, Kündigung der Arbeitsverhältnisse, Bestehendes Arbeitsverhältnis, Kündigungsschutzklage, Zeitpunkt der Kündigung, Ablauf der Kündigungsfrist, Ordentliche Kündigung, Längere Kündigungsfristen, Kündigungsgründe, Besonderer Kündigungsschutz, Betriebsbedingte Kündigung, Nichtigkeit der Kündigung

Schlagworte:
Kündigungsschutzklage, Nichtigkeit der Kündigung, Konsultationsverfahren, Massenentlassung, Betriebsratsbeteiligung, Betriebsstilllegung, Verfahrensfehler
Rechtsmittelinstanz:
LArbG Nürnberg, Urteil vom 24.02.2025 – 1 SLa 153/24
Fundstelle:
BeckRS 2024, 47856

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 23.11.2023 nicht aufgelöst wird, sondern über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus unverändert fortbesteht.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird festgesetzt auf 10.986,02 €.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen, betriebsbedingten Kündigung der Beklagten vom 23.11.2023 zum 30.06.2024.
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Der Kläger ist seit dem 02.09.1991 bei der Beklagten in deren Betrieb in A-Stadt bei einer Vergütung von 3.662,00 € brutto im Monat beschäftigt.
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Die Beklagte produzierte in ihrem Betrieb in der C-Straße in A-Stadt Möbel für die Möbelindustrie und beschäftigt dort rund 200 Mitarbeiter. Das Lager der Beklagten befand sich in I-Stadt Im Betrieb ist ein Betriebsrat unter dem Vorsitz des Klägers installiert.
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Die Beklagte führt Massenentlassungen in obigen Werken durch.
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Am 03.08.2023 wurde der Betriebsrat über die beabsichtigte Betriebsstilllegung informiert. Am 22.08.2023 und 31.08.2023 fanden Gespräche zum Thema Betriebsänderung, Sozialplan sowie Interessenausgleich statt.
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In diesem Zusammenhang beantragte die Beklagte am 31.08.2023 beim Arbeitsgericht Bayreuth die Bestellung einer Einigungsstelle, welche mit Beschluss vom 26.09.2023 eingesetzt wurde. Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vor dem Landesarbeitsgericht Nürnberg einigte man sich auf die Einsetzung einer Einigungsstelle unter dem Vorsitz von Herrn L.
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Diese tagte am 08. und 09.11.2023 und stellte am 09.11.2023 durch Spruch fest, dass die Verhandlungen über den Interessenausgleich gescheitert sind. Zudem wurde ein Sozialplan geschlossen, dergestalt, dass mangels wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit kein Ausgleich oder eine Minderung der wirtschaftlichen Nachteile für den Verlust des Arbeitsverhältnisses erfolgen werden. Der Betriebsrat führt hiergegen Klage beim Arbeitsgericht Bayreuth.
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Mit Schreiben an den Betriebsrat vom 30.10.2023 hat die Beklagte das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG eingeleitet und forderte den Betriebsrat auf, spätestens bis 14.11.2023 hierzu Stellung zu nehmen. Der Betriebsrat übersandte mit Schreiben vom 14.11.2023 seine Stellungnahme.
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Mit Schreiben vom 13.11.2023 hörte man den Betriebsrat zur Kündigung des Klägers an. Der Betriebsrat verweigerte die Unterzeichnung der Empfangsbestätigung für die Anhörung.
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Mit Schreiben vom 23.11.2023 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger ordentlich zum 30.06.2024.
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Gegen diese Kündigung wendet sich der Kläger mit seiner am 12.12.2023 beim Arbeitsgericht Bayreuth eingegangenen Klage.
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Er ist der Ansicht, die Kündigung sei mangels Vorliegens eines Kündigungsgrundes im Sinne von § 1 KSchG sozial ungerechtfertigt.
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Darüber hinaus werde die ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrates gem. § 102 Abs. 1 BetrVG, die rechtzeitige Konsultation/Beteiligung des Betriebsrates nach § 111 Abs. 1 BetrVG und § 17 Abs. 2 KSchG sowie die ordnungsgemäße Anzeige der Massenentlassung gemäß § 17 Abs. 1 und 3 KSchG gerügt.
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Insbesondere sei das Konsultationsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, die Kündigung sei mithin gem. § 134 BGB nichtig. Bei Einleitung des Konsultationsverfahrens am 30.10.2023 seien bereits unumkehrbare Tatsachen geschaffen worden. Dem Betriebsrat sei damit die Möglichkeit genommen worden seine Beteiligungsrechte gemäß § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG auszuüben. Die Firma M sei Eigentümerin des Grundstücks, auf dem sich der Betrieb der Beklagten befunden habe gewesen. Auch hätten die Produktionsmaschinen im Eigentum der M gestanden. Diese sei Kommanditistin der Beklagten und habe die Grundstücke bereits vor August 2023 an die Firma a veräußert. Auch seien die Produktionsmaschinen und entsprechendes Zubehör in der Zeit vom 10.08. - 15.09.2023 durch den professionellen Versteigerer I versteigert worden und von den Erwerbern kurz darauf abtransportiert worden. Des Weiteren seien im August 2023 alle Aufträge storniert und ein Auftragsannahme-Stopp verhängt worden. Es habe nur noch eine Abwicklung der Restaufträge stattgefunden. In der Folge sei Material, Halb- und Fertigwaren verkauft und später verschrottet worden. Damit habe der Betriebsrat am 30.10.2023 keine Möglichkeit mehr gehabt über eine Vermeidung oder Einschränkung von Entlassungen nach § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG zu beraten. Die Kündigung sei auch wegen § 15 KSchG unwirksam.
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Er beantragt zuletzt,
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 23.11.2023 nicht aufgelöst wird, sondern über den Ablauf der Kündigungsfrist hinaus unverändert fortbesteht.
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Die Beklagte beantragt
Klageabweisung.
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Sie trägt vor, die Beklagte habe aufgrund der wirtschaftlichen Situation Ende Juli/Anfang August 2023 die unternehmerische Entscheidung getroffen, den Geschäftsbetrieb vollständig einzustellen und die Grundstücke und Gebäude in der C-Straße in A-Stadt zu veräußern.
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Die Grundstücke hätten im Eigentum der M gestanden, welche diese an die a, ein auf dem Nachbargrundstück der Beklagten angesiedeltes Unternehmen veräußert habe. Die Übergabe des Grundstücks und damit der Vollzug des Kaufvertrages sei zum 11.11.2023 erfolgt. Die Beklagte habe weder auf die Veräußerung des Grundstücks samt Gebäuden, noch die Veräußerung der Maschinen einen Einfluss gehabt, da diese nicht in ihrem Eigentum gestanden hätten.
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Bereits Mitte August 2023 habe die Beklagte ihre Produktion eingestellt. Bis Ende September 2023 seien die Produktionshallen angesichts der geplanten Übergabe des Betriebsgeländes nahezu leergeräumt worden. Die Produktionsmitarbeiter seien mit Ausnahme derer, die für die Räumung des Betriebsgeländers zuständig waren, widerruflich freigestellt gewesen.
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Die Einstellung der operativen Betriebstätigkeit sei zum 31.10.2023 erfolgt, die Einstellung der Logistiktätigkeiten zum 31.12.2023. Spätestens zum 31.03.2024 sei der gesamte Geschäftsbetrieb der Beklagten einschließlich der letzten Abwicklungsarbeiten eingestellt worden.
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Gegenüber allen Arbeitnehmern seien betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen worden, eine Sozialauswahl sei deshalb entbehrlich. Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten gebe es nicht.
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Die Beklagte habe im Vorfeld Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich und Sozialplan geführt, die durch den Spruch der Einigungsstelle beendet worden seien. Erste Informationen seien bereits am 03.08.2023 erfolgt, am 22.08.2023 habe ein erster Verhandlungstermin stattgefunden, ein weiterer am 31.08.2023.
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Auch Konsultationsverfahren und Massenentlassungsanzeige seien gemäß § 17 KSchG ordnungsgemäß durchgeführt worden.
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Insbesondere sei auch das Konsultationsverfahren rechtzeitig durchgeführt worden.
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Hierbei sei zu berücksichtigen, dass es sich beim Konsultationsverfahren um einen laufenden Prozess handle, der jederzeit ergänzt werden könne. Die Beklagte behauptete im Schriftsatz vom 22.02.2024, Seite 11, dass das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat mit Schreiben vom 30.10.2023 eingeleitet worden sei. Zuletzt behauptet die Beklagte, sie habe dem Betriebsrat bereits in den Terminen im August deutlich gemacht, dass die Verhandlungstermine auch der Konsultation nach § 17 Abs. 2 KSchG dienen würden. Dies ergebe sich aus einer E-Mail an die Prozessvertretung des Betriebsrats vom 23.08.2023, der ein Entwurf eines Interessenausgleichs angefügt gewesen sei. Aufgrund der Besprechungstermine sei der Betriebsrat über die Hintergründe für die Kündigungen informiert gewesen. Er sei darüber informiert worden, dass alle Arbeitsverhältnisse unter Berücksichtigung der individuellen Kündigungsfristen gekündigt werden würden. In diesem Verhandlungstermin habe sie darauf verwiesen, dass eine schnelle Einigung zwischen den Betriebsparteien gefunden werden müsse. Man habe darauf hingewiesen, dass je länger sich eine Einigung zwischen den Betriebsparteien hinzögere, desto mehr Mittel müsse für die Abwicklung der Arbeitsverträge unter Einhaltung der Kündigungsfristen aufgebraucht werden. Dies habe zur Folge, dass sich das zur Verfügung stehende Budget für Abfindungen mindere. Das Abfindungsbudget habe sich aus diesem Grund fortlaufend vermindert.
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Zudem sei es nicht relevant, dass die unternehmerische Entscheidung zur Betriebsschließung bereits getroffen gewesen sei. Dem Betriebsrat stehe von Gesetzes wegen nicht die Möglichkeit zu, die unternehmerische Entscheidung vollständig zu verhindern. Die Massenentlassungsrichtlinie verbiete es den Arbeitgebern nicht, ohne Beteiligung des Betriebsrats unternehmerische Entscheidungen zu treffen. Insoweit unterscheide auch der EuGH zwischen bloßen Planungen und irreversiblen Maßnahmen zur Umsetzung dieser Planung. Dem Betriebsrat stehe insoweit nur ein Mitbestimmungsrecht hinsichtlich des „wie“ zu, nicht jedoch hinsichtlich des „ob“.
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Die Konsultationspflicht könne zudem nicht entstehen, bevor Kriterien für die beabsichtigten Entlassungen festgelegt sind. Dies setze voraus, dass sich die Planungen insoweit verdichtet haben, dass Massenentlassungsanzeigen mehr als wahrscheinlich seien.
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Die Beklagte habe umfassend Alternativen geprüft und erst im Nachgang eine unternehmerische Entscheidung getroffen.
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Insoweit erfülle das Konsultationsverfahren auch dann seinen Zweck, wenn es dem Betriebsrat ermöglicht wurde, Vorschläge zur Milderung der Folgen der geplanten Entlassungen zu unterbreiten. Es reiche auch in wirtschaftlichen Zwangssituationen, die eine Stilllegung und damit die Entlassung aller Arbeitnehmer bedingen, aus, wenn das Konsultationsverfahren zu einem Zeitpunkt eingeleitet werde, in dem jedenfalls noch die Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen möglich bleibe, also z.B. die Verschiebung des Zeitpunkts der Kündigungen. Dies sei selbst wenn man den 30.10.2023 als Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens heranziehen würde, noch möglich gewesen, da die Kündigungen noch nicht ausgesprochen gewesen seien.
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Zu diesem Zeitpunkt habe noch keine unumkehrbaren Maßnahmen bestanden. Man habe noch auf das know how der Arbeitskräfte zurückgreifen können und man habe die Betriebsstilllegung noch rückgängig machen können.
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Zudem seien die Kündigungen gleichwohl wirksam, selbst wenn der Arbeitgeber das Konsultationsverfahren später doch noch ordnungsgemäß durchführe, bei der Einleitung noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen habe und zumindest eine Milderung der Folgen der Entlassungen noch möglich wäre. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit läge nur vor, wenn die Durchführung des Konsultationsverfahrens gänzlich unterblieben sei.
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Dass die Beklagte bereits vollendende Tatsachen geschaffen habe werde bestritten, insbesondere da noch am 09.11.2023 Verhandlungen über einen Interessenausgleich und Sozialplan stattfanden.
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Im Anschluss an die Stellungnahme des Betriebsrats vom 14.11.2023 habe die Beklagte mit Schreiben vom 20.11.2023 die Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit übersandt.
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Zuletzt habe die Beklagte den Betriebsrat mit Schreiben vom 13.11.2023 ordnungsgemäß gem. § 102 BetrVG zur Kündigung der Klagepartei angehört. Der Betriebsrat habe die Frist zur Stellungnahme verstreichen lassen.
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Zum weiteren Vorbringen der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze der Parteien samt Anlagen und die Sitzungsprotokolle verwiesen, § 46 Abs. 2 ArbGG, § 313 Abs. 2 ZPO.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet. Die Kündigung vom 23.11.2023 hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht zum 30.06.2024 beendet.
I.
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Die Klage ist zulässig.
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1. Der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten ist eröffnet, §§ 2 Abs. 1 Nr.3a, 46, 48 ArbGG, §§ 17 ff. GVG. Die örtliche Zuständigkeit ist gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG, §§ 12, 17 ZPO gegeben, da die Beklagte ihren Sitz im Gerichtsbezirk des Arbeitsgerichts Bayreuth hat.
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2. Mit der im Antrag enthaltenen Feststellung, dass das Arbeitsverhältnis fortbesteht, hat der Kläger neben der Kündigungsschutzklage nach § 4 KSchG nicht noch eine allgemeine Feststellungsklage gemäß § 256 ZPO erhoben. Wie sich aus dem Klagevorbringen ergibt, wollte sich der Kläger lediglich gegen die mit Schreiben vom 23.11.2023 ausgesprochene Kündigung wenden, nachdem er weder in der Klageschrift noch im Laufe des Prozesses Ausführungen dazu machte, dass er mit der Geltendmachung weiterer Beendigungstatbestände durch die Beklagte rechne. Letzteres wäre aber für die Annahme einer zulässigen allgemeinen Feststellungsklage nach § 256 ZPO erforderlich gewesen. Somit war über den – weiteren – Fortbestehensfeststellungsantrag nicht zu entscheiden, dieser Zusatz hatte als sogenanntes unselbständiges Anhängsel ohne eigene prozessrechtliche Bedeutung zu bleiben (vgl. BAG Urteil vom 27.01.1994 – AP Nr. 28 zu § 4 KSchG 1969).
II.
40
Die Klage ist begründet.
41
Die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 23.11.2023 ist nichtig und hat das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht beendet.
42
1. Die Kündigung ist gemäß § 134 BGB iVm. § 17 Abs. 2 KSchG nichtig und hat das Arbeitsverhältnis nicht beendet, da das Konsultationsverfahren gemäß § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde.
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a) Wurde zuvor kein Konsultationsverfahren ordnungsgemäß nach § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt, ist eine im Rahmen einer Massenentlassung ausgesprochene Kündigung – unabhängig von dem Erfordernis einer ordnungsgemäßen Anzeige bei der Agentur für Arbeit nach § 17 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 KSchG – wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB nichtig. Die Durchführung des Konsultationsverfahrens ist ein eigenständiges Wirksamkeitserfordernis für die Kündigung. Dies ergibt eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 17 Abs. 2 KSchG (BAG 21.03.2013 – 2 AZR 64/12 – Rn. 19 ff. mwN.). Der in § 17 KSchG geregelte besondere Kündigungsschutz bei Massenentlassungen unterfällt in zwei getrennt durchzuführende Verfahren mit jeweils eigenen Wirksamkeitsvoraussetzungen, nämlich die in § 17 Abs. 2 KSchG normierte Pflicht zur Konsultation des Betriebsrats einerseits und die in § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG geregelte Anzeigepflicht gegenüber der Agentur für Arbeit andererseits. Das Konsultationsverfahren, das auch vor einer Betriebsstilllegung durchzuführen ist (vgl. BAG 22.09.2016 – 2 AZR 276/16 – Rn. 22), steht selbständig neben dem Anzeigeverfahren. Beide Verfahren dienen in unterschiedlicher Weise der Erreichung des mit dem Massenentlassungsschutz verfolgten Ziels (BAG 09.06.2016 – 6 AZR 405/15 – Rn. 20; 21.03.2013 – 2 AZR 60/12, Rn. 28; 13.12.2012 – 6 AZR 752/11 – Rn. 62). Jedes dieser beiden Verfahren stellt ein eigenständiges Wirksamkeitserfordernis für die im Zusammenhang mit einer Massenentlassung erfolgte Kündigung dar (BAG 09.06.2016 – 6 AZR 405/15 – aaO.; 20.01.2016 – 6 AZR 601/14 – Rn. 15). Die Konsultationspflicht erschöpft sich nicht nur in einer Auskunftserteilung und Anhörung (ErfK/Kiel § 17 KSchG Rn. 24). Nach § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG muss der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat die Möglichkeiten beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen abzumildern. Die Pflicht zur Beratung i.S.v. § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG geht dabei über eine bloße Anhörung deutlich hinaus. Der Arbeitgeber hat mit dem Betriebsrat über die Entlassungen bzw. die Möglichkeiten ihrer Vermeidung ernstlich zu verhandeln, ihm dies zumindest anzubieten (BAG 26.02.2015 – 2 AZR 371/14 mwN.). Das Konsultationsverfahren soll dem Betriebsrat Einfluss auf die Willensbildung des Arbeitgebers ermöglichen (vgl. BAG 26.01.2017 – 6 AZR 442/16 – Rn. 25). Welche Informationen dazu erforderlich sind, hängt vom konkreten Einzelfall ab. Hat der Betriebsrat, etwa durch Verhandlungen über den Interessenausgleich oder auf andere Weise, schon Kenntnisse über die Umstände der beabsichtigten Massenentlassung erlangt, genügen auch schlagwortartige Informationen. Die danach erforderlichen Auskünfte sind seitens des Arbeitgebers zwar nicht unbedingt zum Zeitpunkt der Eröffnung der Konsultationen zu erteilen, er hat sie aber „im Verlauf des Verfahrens“ zu vervollständigen und alle einschlägigen Informationen bis zu dessen Abschluss zu erteilen (EuGH 10.09.2009 – C-44/08 – [Akavan Erityisalojen Keskusliitto] Rn. 52, 53; BAG 26.02.2015 – 2 AZR 955/13 – Rn. 29). Die Unterrichtungspflicht kann daher flexibel gehandhabt werden, jedoch darf der Arbeitgeber bei Einleitung des Verfahrens noch keine unumkehrbaren Maßnahmen getroffen und damit noch keine vollendeten Tatsachen geschaffen haben (BAG 13.06.2019 – 6 AZR 459/18 – Rn. 41 mwN.).
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Lediglich im Hinblick auf das behördliche Anzeigeverfahren nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG erscheint es als rechtlich unklar, ob bei Verstößen zwingend von der Rechtsfolge des § 134 BGB auszugehen ist. Der sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts hat im Hinblick auf Fehler im Verfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG in seiner Entscheidung vom 23.05.2024 – Az. 6 AZR 155/21, erneut entschieden, dass, sofern der Arbeitgeber das Konsultationsverfahren gar nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt hat, die Kündigung sowohl nach Auffassung des erkennenden (vgl. zuletzt BAG 27. Januar 2022 – 6 AZR 155/21 (A) – Rn. 22, BAGE 177, 74; 13. Juni 2019 – 6 AZR 459/18 – Rn. 39, BAGE 167, 102) als auch des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts (seit BAG 21. März 2013 – 2 AZR 60/12 – Rn. 19 ff., BAGE 144, 366) gemäß § 134 BGB grundsätzlich nichtig ist und hieran beide betroffenen Senate des Bundesarbeitsgerichts ungeachtet ihrer Überlegungen zu der für Fehler im Anzeigeverfahren erforderlichen Sanktion festhalten (BAG 23.05.2024 – 6 AZR 155/21, Rn. 14; 14. Dezember 2023 – 6 AZR 157/22 (B) – Rn. 51; 1. Februar 2024 – 2 AS 22/23 (A) – Rn. 19).
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Nach diesen Grundsätzen, denen sich das Gericht anschließt, hat die Beklagte das Konsultationsverfahren nicht ordnungsgemäß durchgeführt, da sie das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG erst eingeleitet hat, nachdem unumkehrbare Maßnahmen getroffen waren.
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aa) Entgegen der Ansicht der Beklagten wurde das Konsultationsverfahren nicht bereits Anfang August oder am 23.08.2023 eingeleitet. Zwar können Interessenausgleich und Konsultationsverfahren verbunden werden (vgl. ErfK/Kiel § 17 KSchG Rn. 26 mwN.). Voraussetzung ist aber, dass der Betriebsrat klar erkennen kann, dass die Handlungen des Arbeitgebers (auch) der Erfüllung der Konsultationspflicht aus § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG dienen sollen (BAG 13.06.2019 – 6 AZR 459/18 – Rn. 42). Vorliegend fehlt es an einem solchen Hinweis durch den Arbeitgeber. Im Gegenteil: Durch die separaten Anhörungen und Mitteilungen zu Interessenausgleich und Massenentlassungen hat die Beklagte gezeigt, dass die Verfahren gerade nicht gemeinsam, sondern getrennt durchgeführt werden sollen. Der Vortrag, die Beklagte habe am 23.08.2023 deutlich gemacht, dass die Verhandlungstermine auch der Konsultation dienen würden und dass dies den Formulierungen aus dem übersandten Entwurf des Interessenausgleichs entnommen werden könne, kann nicht durchgreifen. In der EMail vom 23.08.2023 ist mit keinem Wort von einem Konsultationsverfahren die Rede. Die Formulierung im Entwurf Interessenausgleich entspricht der üblichen Formulierung, die Betriebsparteien in Interessenausgleichen vereinbaren, um den Erfordernissen des § 17 Abs. 1 und 3 Genüge zu tun. Dass der Betriebsrat mit dieser Formulierung in einem noch zu verhandelnden Entwurf eines Interessenausgleichs erkennen sollte und musste, dass damit gleichzeitig das Konsultationsverfahren eingeleitet werden soll, ist mit dem objektiven Empfängerhorizont nicht vereinbar. Eine solche Rechtsfolge konnte sich aus dem Schreiben nicht ergeben. Vielmehr muss der Betriebsrat aktiv darauf hingewiesen werden, dass das Konsultationsverfahren eingeleitet werden soll. Nur dann ist ihm auch bewusst, dass er von nun an seine Beteiligungsrechte wahrzunehmen hat.
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Dieses Ergebnis wird auch aus dem vorgelegten Schreiben der Beklagten an den Betriebsrat vom 30.10.2023 deutlich. Hier wird in keinster Weise darauf verwiesen, dass das Konsultationsverfahren bereits vorher eingeleitet gewesen sein sollte und nunmehr „nochmals“ eingeleitet oder etwa „vervollständigt“ werde. Vielmehr heißt es im Schreiben auf Seite 1, zweiter Absatz eindeutig, dass „mit dem nachfolgenden Schreiben“ das Verfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG eingeleitet werde und Unterlagen zur Verfügung gestellt würden. Dies deckt sich auch mit dem zunächst erbrachten Sachvortrag der Beklagten, die im Schriftsatz vom 22.02.2024 zunächst vorgetragen hatte, dass das Verfahren gemäß § 17 Abs. 2 KSchG mit Schreiben vom 30.10.2023 eingeleitet worden sei.
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Zudem wurden am 23.08.2023 dem Betriebsrat nicht vollständig die nach § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG notwendigen Angaben übermittelt. Dies konnte bereits deshalb nicht erfolgen, da einige Mitarbeiter im Laufe des August und September das Unternehmen verließen. § 17 Abs. 2 S. 1 KSchG basiert auf der Massenentlassungsrichtlinie und sieht ein ganz klares Verfahren vor. Wie die Beklagte selbst ausführt, hat der Arbeitgeber den Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG schriftlich insbesondere zu unterrichten über die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen und die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Dieses hat die Beklagte vorliegend nicht eingehalten. Zwar kann das Konsultationsverfahren nach seiner Einleitung konkretisiert werden, jedoch muss im Zeitpunkt der Einleitung ein Mindestmaß an Pflichtangaben des § 17 Abs. 2 KSchG vorliegen. Dies war zum 23.08.2023 nicht der Fall. Eine Vorverlagerung ohne konkrete Darlegung durch den Arbeitgeber, dass es sich hierbei auch um die Einleitung des Konsultationsverfahrens handelt, ist nicht ausreichend.
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bb) Wie die Beklagte in Ihrem Schreiben vom 30.10.2023 selbst ausführt, leitete sie an diesem Tag das Konsultationsverfahren nach § 17 Abs. 2 KSchG ein. Entgegen ihrer Ansicht zu diesem Zeitpunkt sei die Einleitung rechtzeitig erfolgt, hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits unumkehrbare Tatsachen geschaffen. Der Arbeitgeber hat das Konsultationsverfahren einzuleiten, sobald sich seine Planungen so weit verdichtet haben, dass Massenentlassungen mehr als wahrscheinlich erscheinen und die Anzahl der beabsichtigten Entlassungen und die Grundsätze der Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer erkennbar sind (vgl. Münchner Handbuch zum Arbeitsrecht, § 121 Bd. 2, Individualarbeitsrecht II, Rn. 128.). Arbeitgeber und Betriebsrat haben insbesondere die Möglichkeit zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern, § 17 Abs. 2 S. 2 KSchG. Nach der Rechtsprechung des EuGH muss das nach Art. 2 RL 98/59 vorgesehene Konsultationsverfahren vom Arbeitgeber zu dem Zeitpunkt eröffnet sein, zu dem eine strategische und betriebswirtschaftliche Entscheidung getroffen wurde, die ihn zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen (vgl. EuGH Urteil v. 22.02.2024, NZA 6/2024 S. 392). Die Konsultationen sollen sich gem. Art. 2 Abs. 2 UAbs. 1 RL 98/59 insbesondere auf die Möglichkeit erstrecken geplante Massenentlassungen zu vermeiden oder zu beschränken. Eine Konsultation, die beginnt, obwohl bereits eine Entscheidung getroffen wurde, die derartige Massenentlassungen notwendig macht kann sich damit nicht mehr auf die Prüfung etwaiger Alternativen erstrecken diese Massenentlassungen zu vermeiden. Der Unternehmer beginnt mit der Durchführung der Betriebsänderung, wenn er unumkehrbare Maßnahmen ergreift und damit vollendete Tatsachen schafft. Eine Betriebsänderung in Form der Stilllegung besteht in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für unbestimmte, nicht nur vorübergehende Zeit. Ihre Umsetzung erfolgt, sobald der Unternehmer unumkehrbare Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergreift (BAG, Urteil v. 14.04.2015, NZA 2015, S. 1212 ff., Rn. 21). Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn er die bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Zweck der Betriebsstilllegung kündigt (BAG, Urteil v. 23.09.2003, NZA 2004, S. 440). Die bloße Einstellung einer Geschäftstätigkeit kann grundsätzlich rückgängig gemacht werden. Anders ist dies dann zu sehen, wenn ein Arbeitgeber – etwa durch die Veräußerung der Betriebsmittel – bereits mit der Auflösung der betrieblichen Organisation beginnt (BAG, Urteil v. 14.04.2015, S. 2014).
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Vorliegend hat die Beklagte nicht nur mit der Auflösung der betrieblichen Organisation begonnen. Diese war mit Ausnahme der Kündigung der Arbeitsverträge vollendet. Zum Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens war das Grundstück bereits an die Firma a verkauft, der Vollzug der Übergabe war für den 11.11.2023 avisiert. Alle für die Produktion notwendigen Maschinen waren bereits im August 2023 veräußert worden. Es wurde im August 2023 ein Auftragsannahmestopp verhängt und alle Aufträge storniert. Die Produktion wurde ebenfalls im August 2023 eingestellt. Das für die Möbelproduktion notwendige Material wurde ebenfalls spätestens im September 2023 veräußert. Der Betrieb der Beklagten bestand im Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens ausschließlich noch aus den – zum Großteil freigestellten – Mitarbeitern. Da es sich bei der Beklagten um einen Betrieb handelt, der dem produzierenden Gewerbe zugeordnet wird, kann gerade nicht bei der Frage, ob unumkehrbare Tatsachen bei Einleitung des Konsultationsverfahrens vorliegen allein die noch nicht vorgenommenen Kündigungen der Arbeitsverträge ausschlaggebend sein. Die Arbeitskräfte sind in solch einem Betrieb ohne die erforderliche Infrastruktur (Gebäude, Maschinenpark und Material) nicht einsetzbar. Es ist auch lebensfremd zu behaupten, dass die theoretische Möglichkeit bestünde aufgrund der widerruflichen Freistellung auf die sofortige Rückkehr der Arbeitskräfte an den Arbeitsplatz drängen zu können und damit jederzeit auf das know how zurückgreifen zu können. Ohne Gebäude, Produktionsmaschinen und Material besteht schlichtweg keine Organisationseinheit mehr, in der die Mitarbeiter eingesetzt werden können. Die Auflösung der betrieblichen Organisation war mit Ausnahme der Kündigung der Arbeitsverhältnisse abgeschlossen.
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Auch aus der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 13.06.2019 – Az. 6 AZR 459/18, Rn. 45 am Ende wird deutlich, dass für die Annahme des Vorliegens unumkehrbarer Maßnahmen und vollendeter Tatsachen bei Einleitung des Konsultationsverfahrens (vgl. insoweit Rn. 41 des genannten Urteils) nicht allein maßgeblich ist, ob im Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens bereits Kündigungen erklärt worden sind, da das Bundesarbeitsgericht in dem dort entschiedenen Fall darauf abstellt, dass einerseits weder Kündigungen erklärt, noch andererseits Gerätschaften an das Mutterunternehmen zurückgegeben worden sind. Diese Rechtsauslegung erscheint auch im Lichte der Rechtsprechung des EuGH in oben zitiertem Urteil v. 22.02.2024, NZA 6/2024 S. 392, wonach das Konsultationsverfahren vom Arbeitgeber zu dem Zeitpunkt eröffnet sein muss, zu dem eine strategische und betriebswirtschaftliche Entscheidung getroffen wurde, die ihn zwingt, Massenentlassungen ins Auge zu fassen oder zu planen, als europarechtlich geboten.
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(1) In diesem Zusammenhang spielt es auch keine Rolle, ob die Beklagte auf die Entscheidung zum Verkauf der Grundstücke und der Maschinen hat Einfluss nehmen können, da beides nicht in ihrem Eigentum stand. Eine Einflussnahme auf die Entscheidung der jeweiligen Eigentümer ist nicht von Bedeutung. Wobei vorliegend bereits fraglich ist, ob Firma M welche Eigentümerin der Grundstücke sowie die Maschinen war überhaupt eine unbeteiligte Dritte war, war sie doch Kommanditistin der Beklagten. Im Ergebnis kommt es jedoch darauf nicht an. Entscheidend ist für die ordnungsgemäße Durchführung des Konsultationsverfahrens, dass dieses rechtzeitig eingeleitet wird. In dem Moment, in dem der Beklagten bekannt war, dass beabsichtigt ist, das Grundstück samt Gebäude sowie die Maschinen, die von ihr benutzt werden, zu verkaufen, hätte das Konsultationsverfahren eingeleitet werden müssen. Nur in diesem Zeitpunkt wäre es dem Betriebsrat möglich gewesen seine Beteiligungsrechte wahrzunehmen. Zu diesem Zeitpunkt hätte noch die Möglichkeit bestanden über die Vermeidung von Entlassungen, die Beschränkung von Entlassungen und deren Folgenabmilderung zu beraten. Am 30.10.2023 war dieser Zeitpunkt deutlich überschritten, da vollendete Tatsachen geschaffen waren.
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(2) Wenn sich die Beklagte darauf beruft, dass es dem Betriebsrat am 30.10.2023 noch möglich gewesen wäre die Folgen der Entlassungen abzumildern, indem man über das Herausschieben der Kündigungszeitpunkte bzw. den Interessenausgleich noch sprechen konnte, erfüllt dies nicht den Sinn und Zweck der Vorschrift des § 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG. Diese lautet explizit: „Arbeitgeber und Betriebsrat haben insbesondere die Möglichkeit zu beraten, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern.“ Nach dem insofern klaren Wortlaut stehen die drei Möglichkeiten nicht alternativ zueinander, sondern kumulativ im Hinblick auf die Folgenabmilderung. Des Weiteren hatte der Betriebsrat nach Ansicht der Kammer auch überhaupt keine Möglichkeit der Abmilderung der Folgen der Massenentlassungen.
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(a) Die hypothetische Möglichkeit des Hinausschiebens der Kündigungszeitpunkte stellt eine reine Schutzbehauptung der Beklagten dar. Eine solche ist lediglich auf dem Papier denkbar. Betriebswirtschaftlich widerspricht sie den tatsächlichen Gegebenheiten. Schon aufgrund der Gefahr einer Insolvenzverschleppung ist es völlig lebensfremd, wenn ein Unternehmen, das dem produzierenden Gewerbe zuzuordnen ist und weder über ein Grundstück samt Gebäude, noch über Maschinen und Material verfügt, bereit ist die Kündigungszeitpunkte der Mitarbeiter mit der Folge der Lohnzahlungsverpflichtung hinaus zu schieben. Ohne zu erwartende Einnahmen würde dies keiner wirtschaftlich sinnvollen unternehmerischen Entscheidung entsprechen, zumal ein großer Teil der Arbeitskräfte über sehr lange Kündigungsfristen verfügt. Die Beklagte selbst behauptet im Schriftsatz vom 18.06.2024, Seite 7, dass die wirtschaftliche und finanzielle Situation der Beklagten äußerst prekär gewesen sei. Dies umso mehr, als in den Verhandlungen vor der Einigungsstelle zum Sozialplan samt Spruch mit „Sozialplan Null“ seitens der Beklagten behauptet worden ist, dass keine Mittel für Abfindungszahlungen verfügbar seien, was ebenfalls gegen die Möglichkeit der Verlängerung der Kündigungszeitpunkte spricht.
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(b) Auch das Argument, der Betriebsrat habe noch im Rahmen der Interessenausgleichsverhandlungen über mögliche Abfindungen verhandeln können, kann nicht durchgreifen. Die Beklagte trägt selbst vor, dass des dem Betriebsrat bereits im August 2023 klargemacht worden sei, dass jeder weitere Monat, in dem man sich nicht einige Geld kosten werde und ein zeitnahes Vorgehen notwendig sei, da andernfalls die vorhandenen liquiden Mittel für die Kündigungsfristen aufgebraucht werden müssten und damit für Abfindungszahlungen nicht weiter zur Verfügung stehen würden. Dies hat sich im Rahmen des Einigungsstellenverfahrens bewahrheitet.
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Mit dieser Aussage war dem Betriebsrat nach Ansicht der Kammer bewusst, dass es keine Abfindungen geben werde, wenn die Kündigungen nicht im September ausgesprochen werden können. Dem Betriebsrat war es dadurch am 30.10.2023 nicht mehr möglich, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten, um die Massenentlassung zu verhindern oder jedenfalls zu beschränken und deren Folgen zu mildern. Im Übrigen spricht diese Aussage der Beklagten gerade auch nicht für die von ihr vorgetragene potentielle Bereitschaft des Herausschiebens etwaiger Kündigungsfristen.
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(c) Eine Verhandlungsbereitschaft des Arbeitgebers mit dem Betriebsrat Gespräche zu führen bestand ebenfalls nicht mehr. Dem Betriebsrat wurde im Schreiben vom 30.10.2023 eine Frist gesetzt, bis zu der er sich zu äußern habe. Auf die Einwände wurde zu keinem Zeitpunkt eingegangen. Es war dem Schreiben nach dem objektiven Empfängerhorizont auch zu entnehmen, dass es weiter Diskussionen nicht geben werde. Eine Beteiligung des Betriebsrats an der Willensbildung zum Stilllegungsbeschluss war zu keinem Zeitpunkt möglich. Auch musste der Betriebsrat den Eindruck gewinnen, dass es nur dann Abfindungen als Abmilderung für den Verlust des Arbeitsplatzes geben werde, wenn der Betriebsrat dem gesamten Verfahren möglichst zeitnah zustimmt. Nur so konnte man den Hinweis verstehen, dass es ein Abfindungsbudget gebe, wenn die Kündigungen im September ausgesprochen werden könnten.
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Die Beklagte hatte nach ihrem eigenen Vortrag ihre Produktion bereits Mitte August 2023 eingestellt, bis Ende September 2023 waren die Produktionshallen nahezu leergeräumt. Zum 31.10.2023 hat die Beklagte ihre operative Betriebstätigkeit vollständig eingestellt. Am 11.11.2023 wurde schlussendlich auch der zuvor geschlossene Kaufvertrag offiziell vollzogen. Die Beklagte hatte damit ihre Planungen vor Einleitung des Konsultationsverfahrens bereits umgesetzt bzw. hat mit deren Vollzug begonnen. Es bestand daher kein nennenswerter Handlungsspielraum mehr. Der Betriebsrat hätte im Rahmen des Konsultationsverfahrens nicht einmal mehr versuchen können, auf das „Wie“ der geplanten Entlassungen Einfluss zu nehmen. Weder über die Möglichkeit der Veräußerung von Betriebsteilen, noch über die Art und Dauer der Ausproduktion noch über den Zeitpunkt der Stilllegung hätte noch verhandelt werden können. Auch eine Abmilderung der Folgen stand im Zeitpunkt der Einleitung des Konsultationsverfahrens nicht mehr im Raum, die Organisation war in ihrer Gesamtheit bereits zerschlagen.
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b) Ist das Konsultationsverfahren vor Ausspruch der Kündigungen gänzlich unterblieben oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt worden, sind und bleiben die Kündigungen nach § 134 BGB nichtig, denn das Konsultationsverfahren dient vorrangig der Vermeidung von Kündigungen. Dieser Zweck kann durch eine Nachholung der Konsultationen im Anschluss an den Ausspruch der Kündigung nicht mehr erreicht werden. Es wäre nicht gewährleistet, dass die Beratungen von Arbeitgeber und Betriebsrat zur Vermeidung von Kündigungen ergebnisoffen durchgeführt werden (vgl. BAG Vorlagebeschluss v. 1.2.2024, NZA 2024, S. 259). Die Ansicht der Beklagten, dass die Nichtigkeit der Kündigungen nur dann eintrete, wenn das Konsultationsverfahren überhaupt nicht durchgeführt wurde, entspricht nicht der in § 17 Abs. 2 KSchG i.V.m. der Massenentlassungsrichtlinie verankerten mittelbar drittschützenden Wirkung dieser Vorschrift. Im vorliegenden Fall wurde das Verfahren zu einem Zeitpunkt eingeleitet, in dem die Organisation in ihrer Gesamtheit mit Ausnahme des Ausspruchs der Kündigungen zerschlagen war. Zu diesem Zeitpunkt macht die Durchführung des Konsultationsverfahrens überhaupt keinen Sinn mehr, da der Betriebsrat seine Beteiligungsrechte in keiner Weise mehr ausüben kann. Diese Situation ist vergleichbar mit einem nicht durchgeführten Konsultationsverfahren. Auch da hat der Betriebsrat keine Möglichkeit mehr seine Beteiligungsrechte wahrzunehmen. Eine andere Ansicht würde der Umgehung der Vorgaben des § 17 Abs. 2 KSchG und somit einem Missbrauch durch den Arbeitgeber Tür und Tor öffnen.
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2. Die Kündigung ist nichtig aufgrund des nicht ordnungsgemäß durchgeführten Konsultationsverfahrens. Auf die Frage, ob die Betriebsratsanhörung wirksam war, die Massenentlassungsanzeige ordnungsgemäß erfolgte oder die Kündigung an sich sozial gerechtfertigt ist, kommt es nicht an. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob die Kündigung wegen § 15 KSchG unwirksam ist.
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Damit hat die Kündigung vom 23.11.2023 das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht zum 30.06.2024 beendet. Die Klage ist begründet.
III.
62
Die Kostenentscheidung beruht auf § 46 Abs. 2 ArbGG, § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO und begründet sich mit dem Unterliegen der Beklagten.
IV.
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Der Streitwert war gemäß §§ 61 Abs. 1, 46 Abs. 2 ArbGG, §§ 3 ff. ZPO, § 42 Abs. 2 Satz 1 GKG auf drei Bruttomonatsgehälter festzusetzen.