Inhalt

SG Augsburg, Endurteil v. 26.03.2024 – S 16 R 946/21
Titel:

Rente wegen Erwerbsminderung, Widerspruchsbescheid, versicherungsrechtliche Voraussetzungen, ungewöhnliche Leistungseinschränkung, Außergerichtliche Kosten, allgemeiner Arbeitsmarkt, Verwaltungsverfahren, SGB VI, Volle Erwerbsminderung, Stundung, Kostenentscheidung, Schmerzsymptomatik, Medizinische Voraussetzungen, Verteilung der Arbeitszeit, Leistungsfähigkeit, Übliche Bedingungen, Medizinisches Gutachten, Klageabweisung, Erfolgsaussichten der Klage, mündlich Verhandlung

Schlagworte:
Erwerbsminderung, Rentenanspruch, Gutachten, Leistungsvermögen, Gesundheitsstörungen, Arbeitsmarktbedingungen, Klageabweisung
Rechtsmittelinstanzen:
LSG München, Beschluss vom 02.04.2025 – L 6 R 326/24
BSG Kassel, Beschluss vom 10.06.2025 – B 5 R 46/25 AR
Fundstelle:
BeckRS 2024, 47814

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 25.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2021 wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

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Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
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Der 1970 geborene Kläger beantragte erstmals am 08.12.2016 eine Rente wegen Erwerbsminderung bei der Beklagten. Beim Kläger wurde ein Grad der Behinderung von 30 anerkannt. Der damalige Erstantrag wurde mit Bescheid vom 07.02.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2017 wurde bindend, nachdem die hiergegen unter dem Aktenzeichen S 1 R 56/18 wegen fehlender Erfolgsaussichten in der mündlichen Verhandlung vom 29.05.2019 zurückgenommen wurde.
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Am 02.02.2021 beantragte der Kläger erneut eine Rente wegen Erwerbsminderung. Nachdem eine von der Beklagten veranlasste orthopädische Begutachtung durch G am 04.10.2021 ein sechs- und mehrstündiges Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erbrachte, wurde auch der neuerliche Antrag mit Bescheid vom 25.10.2021 abgelehnt.
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Hiergegen richtete sich der Widerspruch des Klägers vom 23.11.2021. Er teilte mit, er halte G für befangen. Er sei nun schon zwei Mal von ihm untersucht worden. Außerdem sei sein Sohn psychisch krank und im J D-Stadt [Patient].
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Auf Basis des Gutachtens im Verwaltungsverfahren wurde der Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2021 als unbegründet abgewiesen.
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Hiergegen richtet sich die vom Kläger am 23.12.2021 erhobene Klage. Er teilte mit, er erhebe Klage gegen den Bescheid vom 25.10.2021 und erbitte die erneute Überprüfung.
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Das Gericht hat Befundberichte von E sowie von C angefordert. Bevor es F mit einer Begutachtung auf psychiatrischem Gebiet beauftragt hat. In seinem Gutachten vom 24.10.2023 kommt dieser zu den folgenden Diagnosen:
* Lendenwirbelsäulensyndrom mit geringer Wurzelläsion S1 rechts (Reflexbefund) ohne funktionell relevante neurologische Ausfälle.
* Gelenkbeschwerden bei Gicht ohne begleitende Nervenschäden.
* Depressive Entwicklung (nach ICD-10: Dysthymia, F34.1) mit begleitender leichter neurasthenischer Symptomatik.
* Chronische Schmerzen mit somatischer und psychogener Komponente (ICDlO: F45.41).
* somatoforme Schmerzstörung
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Der Kläger sei deshalb qualitativ in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt. Aufgrund der Gesamtheit der Erkrankungen seien schwere Arbeiten nicht mehr ausführbar. Wegen des Lendenwirbelsäulensyndroms und Gelenkerkrankungen seien schwere Hebe- und Tragearbeiten nicht mehr möglich, ebenso keine Arbeiten in Zwangshaltung, mit häufigem Bücken, Treppen- und Leiternsteigen wie auch unter Einwirkung von Zugluft, Kälte oder Nässe. Wegen der depressiven Erkrankung und der Schmerzsymptomatik mit somatoformer Komponente könne der Kläger keine Zeitdruckarbeiten ausführen, keine Nachtschichtarbeiten, keine extremen Wechselschichtarbeiten, keine Arbeiten mit besonderen Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit wie auch an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen. Wegen einer Stimmungslabilität hält der Gutachter auch häufigen oder gar konfliktreichen Publikumsverkehr für nicht möglich.
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Weder auf neurologischem noch auf psychiatrischem Fachgebiet sei aber ein Befund zu erheben, der zu einer Minderung der zeitlichen Leistungsfähigkeit führe. Auch das depressive Syndrom sei nach dem Untersuchungsbefund nicht so ausgeprägt, dass deswegen eine Minderung der zeitlichen Leistungsfähigkeit auf weniger als 6 Stunden täglich anzunehmen wäre.
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Bei neurasthenischer Symptomatik, über die vor allem eigenanamnestisch berichtet wird, und vor allem anhaltender Schmerzsymptomatik mit somatoformer Komponente seien zur Bewertung der Erwerbsfähigkeit auch anamnestische Angaben zur üblichen Lebensgestaltung zu berücksichtigen, die einen Rückschluss auf die Belastbarkeit auch im beruflichem Bereich erlauben könnten. Aus den Angaben des Klägers zur üblichen Tagesgestaltung ergebe sich aus Sicht des Gutachters kein Rückschluss auf eine Minderung der zeitlichen Leistungsfähigkeit auf weniger als 6 Stunden täglich an einem leidensgerechten Arbeitsplatz. Schließlich sei auch zu bedenken, dass therapeutische Möglichkeiten nicht ausgeschöpft seien. Eine psychotherapeutische Mitbetreuung erfolge nur in langen zeitlichen Abständen, keinesfalls im Sinne einer konsequenten Psychotherapie. Nervenärztliche/psychiatrische Behandlung nehme der Kläger schon seit Jahren nicht mehr in Anspruch. Eine medikamentöse Behandlung mit Antidepressiva erfolge nicht.
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Stationäre Therapiemaßnahmen z.B. in Form einer stationären psychiatrischen Krankenhausbehandlung oder einer psychosomatisch/psychotherapeutisch ausgerichteten Rehabilitationsmaßnahme seien ebenfalls noch nicht erfolgt. Somit sei zumindest die Möglichkeit einer Besserung der depressiven Erkrankung wie auch somatoformer Schmerzsymptomatik durch Therapieintensivierung gegeben. Nach diesen verschiedenen Gesichtspunkten sei eine Minderung der zeitlichen Leistungsfähigkeit auf weniger als 6 Stunden täglich nicht zu belegen. Der Kläger könne somit zumindest leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes täglich 6 und mehr Stunden verrichten.
12
Mit Schreiben vom 31.10.2023 hat das Gericht den Kläger auf den Abschluss der gerichtlichen Ermittlungen und die geringen Erfolgsaussichten der Klage hingewiesen. Der Kläger hat am 03.11.2023 telefonisch reagiert. Er behielt sich einen Antrag nach § 109 SGG vor. Mit der Begutachtung durch F sei er nicht einverstanden. Er werde diesen anzeigen, da er ihn stundenlang Stromschlägen ausgesetzt habe. Mit Schreiben vom 16.11.2023 teilte der Kläger abschließend schriftlich mit, dass er die Klage nicht zurücknehme und eine mündliche Verhandlung wünsche. Am Tag vor der mündlichen Verhandlung teilte er mit, aus Krankheitsgründen und weil er seine Mutter pflegen müsse nicht zur Verhandlung kommen könne. Seine Frau bekomme keinen Urlaub und sein Sohn befinde sich in der Psychiatrie. Er hoffe aber auf einen positiven Ausgang des Verfahrens.
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Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 25.10.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.11.2021 zu verurteilen ihm eine Rente wegen Erwerbsminderung nach den gesetzlichen Vorschriften zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Für den weiteren Sach- und Streitstand wird ergänzend auf die Gerichts- und Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

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Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
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Anspruchsgrundlage für die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI). Danach haben Versicherte bei Vorliegen der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 bzw. § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und 3 SGB VI) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VI) bzw. auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (§ 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Hingegen ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
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Unter den „üblichen Bedingungen“ i.S. des § 43 SGB VI ist das tatsächliche Geschehen auf dem Arbeitsmarkt und in den Betrieben zu verstehen, d.h. unter welchen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt die Entgelterzielung üblicherweise tatsächlich erfolgt. Hierzu gehören sowohl rechtliche Bedingungen, wie etwa Dauer und Verteilung der Arbeitszeit, Pausen- und Urlaubsregelungen, Beachtung von Arbeitsschutzvorschriften sowie gesetzliche und tarifvertragliche Vorschriften, als auch tatsächliche Umstände, wie z.B. die für die Ausübung einer Verweisungstätigkeit allgemein vorausgesetzten Mindestanforderungen an Konzentrationsvermögen, geistige Beweglichkeit, Stressverträglichkeit und Frustrationstoleranz (vgl. z.B. Zweng/Scheerer/Buschmann/Dörr, Handbuch der Rentenversicherung – SGB VI, a.a.O. Rn 86 ff, Stand September 2009). Üblich sind Bedingungen, wenn sie nicht nur in Einzel- oder Ausnahmefällen anzutreffen sind, sondern in nennenswertem Umfang und in beachtlicher Anzahl (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2011 – B 13 R 78/09 R –, BSGE 109, 189-199, SozR 4-2600 § 43 Nr. 16, Rn. 29).
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Nach diesen Grundsätzen kann der Kläger vorliegend keinen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung gegen die Beklagte geltend machen, da er die medizinischen Voraussetzungen offensichtlich nicht erfüllt.
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Das Gericht stützt seine Einschätzung dabei maßgeblich auf die Gesamtschau des Gutachtens von G aus dem Verwaltungsverfahren sowie führend auf das ausführliche durch das Gericht eingeholten Gutachten von F. Keiner der Gutachter sieht den Kläger als in einer Weise gesundheitlich eingeschränkt, dass eine quantitative Einschränkung des Leistungsvermögens gegeben wäre. Die Gutachten sind allesamt in sich schlüssig und widerspruchsfrei und stützen sich auch gegenseitig.
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Folgende Gesundheitsstörungen sind hiernach beim Kläger maßgeblich zu berücksichtigen:
* Lendenwirbelsäulensyndrom mit geringer Wurzelläsion S1 rechts (Reflexbefund) ohne funktionell relevante neurologische Ausfälle.
* Gelenkbeschwerden bei Gicht ohne begleitende Nervenschäden.
* Depressive Entwicklung (nach ICD-10: Dysthymia, F34.1) mit begleitender leichter neurasthenischer Symptomatik.
* Chronische Schmerzen mit somatischer und psychogener Komponente (ICDlO: F45.41).
* somatoforme Schmerzstörung
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Eine Einschränkung in qualitativer Hinsicht ist hierdurch dahingehend nachvollziehbar begründet, dass der Kläger schwere Arbeiten nicht mehr ausführen kann. Schwere Hebe- und Tragearbeiten sind ebenso nicht mehr möglich wie Arbeiten in Zwangshaltung, mit häufigem Bücken, Treppen- und Leitemsteigen wie auch unter Einwirkung von Zugluft, Kälte oder Nässe. Wegen der depressiven Erkrankung und der Schmerzsymptomatik mit somatoformer Komponente kann der Kläger keine Zeitdruckarbeiten ausführen, keine Nachtschichtarbeiten, keine extremen Wechselschichtarbeiten, keine Arbeiten mit besonderen Anforderungen an die nervliche Belastbarkeit wie auch an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen. Wegen einer Stimmungslabilität ist auch häufiger oder gar konfliktreicher Publikumsverkehr nicht möglich. Mit diesen Einschränkungen ist allerdings weder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen noch eine spezifische Leistungsbehinderung zu bejahen (vgl. BSG, Urteil vom 1. März 1984, 4 RJ 43/83, SozR 2200 § 1246 Nr. 117 mit Hinweis auf BSG, Urteil vom 30. November 1982, 4 RJ 1/82, SozR 2200 § 1246 Nr. 104).
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Zusammenfassend wurden die vorhandenen Befunde von allen Gutachtern nachvollziehbar dahingehend bewertet, dass dem Kläger noch mindestens leichte Arbeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs- und mehrstündig möglich sind.
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Die Klage war insgesamt abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.