Titel:
Fehlende Mitwirkungsbereitschaft der Eltern führt zur Kindeswohlgefährdung
Normenketten:
BGB § 1666, § 1666a
GG Art. 6 Abs. 2 S. 2
Leitsätze:
1. Der Begriff der Kindeswohlgefährdung erfasst eine Vielzahl von möglichen, sehr unterschiedlichen Fallkonstellationen. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es widerspricht den Kindeswohlinteressen, wenn die Eltern ihre Mitwirkung ungeachtet der aktuellen Bedürfnisse des Kindes bewusst verhindern, insbesondere dann, wenn die Notwendigkeit einer Frühförderung oder kinderpsychiatrischen Behandlung offenkundig sind. (Rn. 13 – 16) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kindeswohl, elterliche Sorge, Mitwirkung, Ergänzungspflegschaft
Rechtsmittelinstanz:
OLG Bamberg, Beschluss vom 11.03.2024 – 2 UF 37/24 e
Fundstelle:
BeckRS 2024, 4764
Tenor
1. Den gemeinsam für das Kind A, geboren am […], zum Teil sorgeberechtigten Eltern D (Vater), geboren am […] und C (Mutter), geboren am […], wird das Recht zur Vermögenssorge, das Recht zur Gesundheitsfürsorge, das Recht zur Regelung der Passangelegenheiten, das Recht zur Beantragung von Leistungen nach dem gesamten SGB, das Recht zur Regelung der schulischen Angelegenheiten und der Kindergartenangelegenheiten, einschließlich des Rechts zur Regelung von pädagogischen und schulischen Fördermaßnahmen entzogen.
2. Soweit die Rechte den Eltern entzogen wurden, wird die Ergänzungspflegschaft angeordnet und die Rechte übertragen auf:
3. Die Anordnungen mit Beschluss des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 29.07.2021, Aktenzeichen 6 F 603/20, bleiben von dieser Entscheidung unberührt.
4. Von einer Erhebung der Gerichtskosten wird abgesehen. Die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens werden nicht erstattet.
5. Der Verfahrenswert wird auf 4.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Gegenstand des Hauptsacheverfahrens ist die Entscheidung über den Entzug weiterer Teilbereiche der elterlichen Sorge der gemeinsamen sorgeberechtigten Eltern des Kindes A, geboren am […].
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Dieses Verfahren nahm seinen Ausgang in einer Anregung des Jugendamtes des Landratsamtes M. vom 11.08.2023.
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Das Kind befindet sich seit April 2021 in der Pflegefamilie […]. Den gemeinsam sorgeberechtigten Eltern wurde im gerichtlichen Verfahren des Amtsgerichts Aschaffenburg, Aktenzeichen 6 F 574/20 zunächst vorläufig das Recht zur Aufenthaltsbestimmung für das im Tenor genannte Kind entzogen und auf das Jugendamt als Ergänzungspfleger übertragen. Nach umfassender Beweiserhebung, insbesondere nach Einholung eines familienpsychologischen Gutachtens in dem weiteren entsprechenden Hauptsacheverfahren des Amtsgerichts Aschaffenburg, Aktenzeichen 6 F 603/20 wurde durch nunmehr bestandskräftigen Beschluss des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 29.07.2021 den sorgeberechtigten Eltern das Recht zur Aufenthaltsbestimmung für das eben genannte Kind entzogen. Insoweit wird umfassend auf das beigezogene Verfahren des Amtsgerichts Aschaffenburg, Aktenzeichen 6 F 603/20 Bezug genommen.
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Die beteiligten Eltern haben ein weiteres Kind F, geboren am […], welches unmittelbar nach der Geburt in Obhut genommen wurde, da es hier zu einem erheblichen Alkoholkonsum der Kindesmutter während der Schwangerschaft gekommen ist. Insoweit wird Bezug genommen auf das gesonderte Hauptsacheverfahren des Amtsgerichts Obernburg a.M., Aktenzeichen 4 F 165/21.
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In der Folge konnten für das Kind A Umgangskontakte mit den Eltern eingerichtet werden. Diese funktionieren im Wesentlichen auch einvernehmlich und problemlos.
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In der weiteren Entwicklung für das Kind A zeigte sich ein erheblicher Förderbedarf. Insoweit kam es zu einer Verweigerung durch die noch sorgeberechtigten Eltern, die Anträge zur Frühförderung für das eben genannte Kind zu unterschrieben. Genauso wirkten die Eltern bei der Beschaffung der Pässe nicht mit, ebenso wenig bei der Zuführung zu einer kinderpsychiatrischen Anbindung.
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Das Gericht hat dem Kind mit Beschluss vom 01.09.2023 einen Verfahrensbeistand bestellt.
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Das Gericht hat die Eltern im Erörterungstermin vom 21.09.2023 persönlich angehört. Das Kind wurde im Beisein des Verfahrensbeistandes durch das Gericht am 28.09.2023 persönlich angehört. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die entsprechenden Vermerke.
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Der Kindsvater teilte dem Gericht, u.a. auch in dem weiteren Verfahren Aktenzeichen 4 F 165/21 mit, dass er keinen Wohnsitz mehr in Deutschland habe, er werde nunmehr in Rumänien leben. Lediglich eine postalische Erreichbarkeit über einen Arbeitgeber gab der Vater gegenüber dem Gericht an. Zugleich teilte der Vater mit, dass er durch Urteil des Amtsgerichts Arad in Rumänien vom 26.07.2023 die Ausübung der elterlichen Sorge verfügt bekommen habe. Insoweit legte der Kindsvater die Ablichtung des zivilrechtlichen Urteils Nummer 2818 in dem weiteren Verfahren Aktenzeichen 4 F 165/21 mit entsprechender Übersetzung vor. Trotz Aufforderung erfolgte keine Übersendung einer beglaubigten Abschrift des Urteils vom 26.07.2023 an das Gericht. Mit Schreiben vom 06.11.2023 übersandte der Kindsvater eine Bescheinigung über das eben genannte rumänische Urteil. Auf die Bescheinigung Blatt 155 d.A. wird Bezug genommen.
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Das Gericht hat den Pflegeeltern […] mit Verfügung vom 22.11.2023 Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben, um aus deren Sicht wesentliche Umstände, die die Entwicklung des Kindes betreffen oder die aus sonstigen Gründen für das Verfahren von Relevanz sein könnten mitzuteilen. Die Pflegeeltern haben hierzu mit Schreiben vom 01.12.2023, eingegangen bei Gericht am 13.12.2023, Stellung genommen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf den gesamten Akteninhalt.
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Den gemeinsam sorgeberechtigten Eltern sind die aus dem aus der Entscheidung ersichtlichen Teilbereiche der elterlichen Sorge zur Abwendung der bestehenden Gefahr für das Kind zu entziehen, §§ 1666, 1666a BGB. Das Wohl des Kindes ist zur Überzeugung des Gerichts gefährdet. Es besteht die begründete Besorgnis, dass bei Nichteingreifen das Kindeswohl weiterhin beeinträchtigt wird. Gefährdung des Kindeswohls gemäß § 1666 BGB heißt, dass ein Schaden des Kindes bereits eingetreten ist oder eine gegenwärtige, in einem solchen Maße vorhandene Gefahr besteht, dass sich bei weiterer Entwicklung eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt (BVerfG FamRZ 2010, 713, BGH FamRZ 2017, 212 mwN; Palandt/Götz, § 1666 Rn. 10). Generell ist für Maßnahmen nach § 1666 BGB erforderlich, dass eine konkrete Gefährdung des Kindeswohls vorliegt, zu deren Abwendung die sorgeberechtigten Personen nicht gewillt oder in der Lage sind, sodass das Wächteramt des Staates nach Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG zum Tragen kommt (BVerfG FamRZ 2017, 524 ff.; OLG Karlsruhe Beschluss v. 03.03.2017, Az: 18 UF 159/16). Insoweit hat das Kind einen grundrechtlichen Anspruch auf Schutz des Staates (BVerfG aaO). Dabei kann das erforderliche Maß der Gefahr nicht abstrakt generell festgelegt werden. Denn der Begriff der Kindeswohlgefährdung erfasst eine Vielzahl von möglichen, sehr unterschiedlichen Fallkonstellationen. Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss in jedem Fall auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen (OLG Karlsruhe aaO). Nach allgemeinen Grundsätzen der Gefahrenabwehr bestimmt sich die notwendige Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts in Relation zur Wertigkeit des bedrohten Rechtsguts und der zeitlichen Nähe. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt (BGH FamRZ 2017, 212 OLG Karlsruhe FamRZ 2009, 1599; Staudinger/Coester BGB, § 1666 Rn. 91; MünchKomm/Olzen, BGB, § 1666 Rn. 50). Schließlich muss der drohende Schaden für das Kind erheblich sein.
13
Gemessen anhand dieser Grundsätze ist das Gericht der Überzeugung, dass die beteiligten Eltern nicht gewillt sind, dem Kind A die notwendige Unterstützung und Förderung zuteilwerden zu lassen, weshalb ihnen die weiteren aus dem Tenor ersichtlichen Teilbereiche der elterlichen Sorge zu entziehen sind.
14
Entgegen der Auffassung des Kindsvaters ist in diesem Verfahren nicht über die Änderung der sorgerechtlichen Entscheidung des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 29.07.2021 zu entscheiden, sondern vielmehr über den Entzug weiterer Teilbereiche der elterlichen Sorge. Die Überprüfung der Entscheidung des Amtsgerichts Aschaffenburg erfolgt gemäß § 166 Abs. 2 FamFG vom Ausgangsgericht.
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Nach dem Ergebnis der Erörterung ist das Gericht der Überzeugung, dass die Eltern keine nachvollziehbare Begründung abgegeben konnten, weshalb die Anmeldung zur Frühförderung und zur kinderpsychiatrischen Behandlung und auch die Mitwirkung bei der Passbeschaffung nicht erfolgten. Vielmehr ist das Gericht in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Verfahrensbeistandes der Überzeugung, dass die Eltern die Mitwirkung bewusst verhindern und eine allgemeine Blockadehaltung in der Erwartung der Rückgabe des Kindes ausleben, ungeachtet der aktuellen Bedürfnisse des Kindes, die hier in Bezug auf die Notwendigkeit der Frühförderung offenkundig sind. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Eltern – trotz anderslautender Ankündigung im Termin vom 21.09.2023 – bis heute der Frühförderung nicht zugestimmt haben. Insoweit ist die Hoffnung zur Kooperation, die durch die Entscheidung des Amtsgerichts Aschaffenburg in die Eltern gesetzt wurde, indem nur „minimale“ Sorgerechtsanteile entzogen wurden, von den Eltern selbst wieder zunichte gemacht worden.
16
Dieser Zustand ist unter Berücksichtigung der Kindeswohlinteressen nicht länger hinnehmbar.
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Das deutsche Gericht war nicht gehindert, in diesem Hauptsacheverfahren abschließend zu entscheiden. Die Entscheidung des Amtsgerichts Arad in Rumänien durch Urteil vom 26.07.2023 steht dem nicht entgegen. Im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung des rumänischen Amtsgerichts bestand aufgrund von Art. 7 Brüssel IIb-VO eine Zuständigkeit des deutschen Gerichts, da das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat. Die Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen in einem anderen Mitgliedsstaat richten sich nach den Art. 30 ff Brüssel IIb-VO. Dies gilt in diesem Fall aber auch für die in Deutschland ergangenen Entscheidungen, also auch für die Entscheidung vom 29.07.2021 im Verfahren Az: 6 F 603/20 des Amtsgerichts Aschaffenburg. Es nicht ersichtlich, dass diese Entscheidung durch das Amtsgericht Arad eine Berücksichtigung gefunden hat bzw. anerkannt wurde.
18
Die Entscheidung ist gemäß § 166 Abs. 2 FamFG in angemessenen Abständen zu überprüfen.
19
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2 FamFG.
20
Die Wertfestsetzung folgt aus § 45 FamGKG.