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VG Bayreuth, Urteil v. 06.11.2024 – B 6 K 24.552
Titel:

spezialpräventive Ausweisung, Wiederholungsgefahr, keine erfolgreiche Gewalttherapie, faktischer Inländer

Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, 3
AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a Buchst. a, b
AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 1
Leitsatz:
Die Ausweisung eines Ausländers, der eine schwerwiegende Straftat begangen hat, ist rechtmäßig, auch wenn er ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht besitzt. (Rn. 37, 38)
Schlagworte:
spezialpräventive Ausweisung, Wiederholungsgefahr, keine erfolgreiche Gewalttherapie, faktischer Inländer
Fundstelle:
BeckRS 2024, 47377

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland sowie ein auf sieben Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot.
2
Der Kläger wurde am … im Bundesgebiet geboren. Sein Vater war als Gastarbeiter bereits im Jahr 1965 nach Deutschland gekommen. Seine Mutter zog am 23.08.1990 im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland. Für beide Eltern war es die zweite Ehe. Beide haben jeweils drei Kinder aus früheren Beziehungen sowie eine gemeinsame Tochter, die jüngere Schwester des Klägers. Drei der Halbgeschwister leben in der Türkei. Der Vater des Klägers arbeitete zunächst in der … in …, später bei verschiedenen anderen Arbeitgebern. Nach Auskunft der Deutschen Rentenversicherung … war er seit dem 01.01.1993 arbeitslos. Ab dem 01.03.1995 bezog er Rente wegen Arbeitslosigkeit. Der bereits zuvor schwer kranke Vater des Klägers verstarb am …2009. Die Mutter des Klägers verfügte vom 21.06.1991 bis Januar 1996 über mehrere, teils unterbrochene, teils sich überschneidende Arbeitsgenehmigungen bei verschiedenen Arbeitgebern. Ob sie tatsächlich gearbeitet hat, ist nicht aktenkundig. Im Rahmen ihrer Anträge auf Verlängerung ihres Aufenthaltsrechts gab sie stets an, vom Einkommen des Ehemannes bzw. später von Sozialleistungen zu leben. Eigenes Einkommen machte sie nie geltend. Die Mutter spricht nach wie vor kein Deutsch.
3
Der Kläger wuchs zweisprachig auf. Am 04.03.2009 wurde ihm eine Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG erteilt. Der Kläger hat die Schule nach der 9. Klasse mit einem qualifizierenden Schulabschluss verlassen. Nach dem Schulabschluss nahm er eine vierjährige Ausbildung zum … auf. Während der Ausbildung begann er regelmäßig auf Partys zu gehen. Im dritten Ausbildungsjahr hat er die Ausbildung abgebrochen und ist nach … zurückgekehrt. Nach verschiedenen Maßnahmen des Arbeitsamtes absolvierte der Kläger von 2013 bis 2016 eine Ausbildung zum …, die er jedoch im dritten Lehrjahr aus gesundheitlichen Gründen abbrechen musste. Neben der Ausbildung hatte er verschiedene Nebenjobs. Im Jahr 2017 nahm er eine Arbeit bei einer Leiharbeitsfirma auf. Später konnte er aufgrund seiner gesundheitlichen Probleme eine Umschulung zum … bei der Firma … in … beginnen, der er bis zu seiner Inhaftierung am 22.04.2019 nachging. Parallel war er stundenweise als …-Mitarbeiter tätig. Er verfügt über eine Ausbildung zur … nach § 34a GewO und war über zehn Jahre lang im …verein aktiv und absolvierte auch Wettkämpfe.
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Der Kläger ist nicht verheiratet und hat keine Kinder. Er nimmt keine Drogen. Seit seiner Kindheit leidet er unter Asthma. Bis zu seiner Inhaftierung wohnte er bei seiner Mutter. Während der Untersuchungshaft kam es zur Trennung von seiner Freundin …, mit der er zuvor knapp ein Jahr liiert war.
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Im Jahr 2007 trat der Kläger erstmals strafrechtlich in Erscheinung. Am 24.01.2010 hat das Amtsgericht … das Verfahren … wegen Unterschlagung nach Ermahnung und Erbringung von Arbeitsleistungen gemäß § 47 JGG eingestellt. Im Juli 2009 hat der Kläger seiner Schwägerin auf offener Straße zwei Ohrfeigen verpasst und sie auf Türkisch beschimpft. Anlass waren innerfamiliäre Streitigkeiten. Die Schwägerin wollte sich vom Bruder des Klägers trennen und trug nach Auffassung des Klägers Kleidung, die für eine Türkin nicht angemessen gewesen sei. Der Kläger wurde deswegen mit Urteil des Amtsgerichts … vom 01.04.2010 (Az. …) der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig gesprochen; ihm wurde die Auflage erteilt, 40 Stunden gemeinnützige unentgeltliche Arbeit zu leisten. Abermals strafrechtlich in Erscheinung getreten ist der Kläger am 13.10.2016. Damals schlug er seine Mutter und nötigte eine Zeugin, die einschreiten wollte, indem er ihr gegenüber äußerte „Fahr weiter, sonst mach ich Dich kalt!“ und mit der Hand gegen ihr Auto schlug. Bei einer durch die Polizei im Anschluss durchgeführten Personenkontrolle trug der Kläger ein Einhandmesser bei sich. Er wurde wegen versuchter Nötigung zu einer Geldstrafe von dreißig Tagessätzen verurteilt (Amtsgericht …, Strafbefehl vom 27.01.2017, rechtskräftig seit 07.03.2016, Az. …).
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Darüber hinaus existieren zum Kläger folgende polizeiliche Erkenntnisse (vgl. Aktenvermerk, Bl. 690 der Strafakte): Am 07.04.2014 kam es zu einer Schubserei zwischen dem Kläger und Frau … auf einem Radweg; eine Anzeige wurde nicht erstattet. Am 16.07.2015 kam es abermals zu einer Streitigkeit zwischen den vorgenannten Personen, nachdem … ihr Verlöbnis mit dem Kläger auflösen wollte. Nach ihrer Schilderung soll der Kläger sie immer wieder zu Hause und an ihrer Arbeitsstelle aufgesucht haben. Er sollte ein Messer bei sich führen, welches aber nicht aufgefunden werden konnte. Dem Kläger wurde ein Platzverweis erteilt, dem er nachkam. In der Folge soll er sich laut Angaben von Frau … immer noch telefonisch gemeldet haben; eine Anzeige wurde diesbezüglich nicht erstattet. Am 14.11.2015 um 3.25 Uhr teilte … mit, dass der Kläger vor ihrer Haustüre stehe und ständig klingle. Der Kläger wurde seitens der Polizei vor Ort angetroffen und gab an, sich mit seiner Ex-Verlobten aussprechen zu wollen. Er begab sich anschließend zurück nach … Eine Anzeige wurde auch insoweit nicht erstattet. Am 19.11.2015 erstattete … Anzeige gegen den Kläger, da sie nach der Trennung telefonisch bedroht und auch bereits im Juli 2013 von ihm ins Gesicht geschlagen worden sein soll. Das Verfahren wurde seitens der Staatsanwaltschaft … (Az. …*) gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Am 18.01.2016 soll der Kläger laut der Mutter der … an der Wohnung sturmgeklingelt haben. Er wurde durch die Polizei vor Ort angetroffen. Ihm wurde abermals ein Platzverweis erteilt, welchem er nachkam. Eine Anzeige wurde nicht erstattet. Am 28.06.2016 wurde der Kläger vor dem Hotel „…“ telefonierend, schreiend und mit einem langen Messer in der Hand angetroffen. Bei einer Durchsuchung wurde ein Küchenmesser (Klingenlänge 16 cm) und ein Hammer, welcher im Hosenbund steckte, festgestellt. Der Kläger erklärte, beides zu seinem eigenen Schutz mit sich zu führen. Es läge ein Streit mit einer Person vor, deren Namen er nicht nennen wollte. Am 10.09.2016 teilte … bei der Polizeiinspektion … mit, dass der Kläger am 09.09.2016 bei ihrer Wohnung aufgetaucht wäre. Nach einer Unterhaltung auf dem Gehweg habe er sie gegen eine Hausmauer gedrückt und beleidigt. Das Verfahren (Az. …*) wurde gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt. Am 14.09.2016 teilte … der Polizeiinspektion … mit, dass der Kläger am 14.09.2016 trotz gerichtlichen Kontaktverbots bei ihr angerufen habe; das Verfahren wurde seitens der Staatsanwaltschaft … (Az. …*) gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Am 17.03.2018 erstattete … Anzeige gegen den Kläger. Vorausgegangen war ein Treffen der beiden am 16.03.2018, im Rahmen dessen der Kläger von Herrn … die Bestätigung haben wollte, dass er dessen Schwester … heiraten dürfe. Als Herr … dies in einem späteren Telefonat ablehnte, soll er vom Kläger beleidigt und bedroht worden sein. Am 17.03.2018 soll der Vater der … diese zur Arbeit gefahren haben, wo der Kläger ihr auflauerte. Es soll im Anschluss zu einer wechselseitigen Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und dem Vater gekommen sein. Das diesbezügliche Verfahren wurde mit Beschluss des Amtsgerichts … gemäß § 153 Abs. 2 StPO (Az. …*) eingestellt. Am 26.03.2018 erstattete Frau … Anzeige gegen den Kläger. Sie führe seit ca. fünf Monaten eine Beziehung mit ihm. Er wolle bereits heiraten, sei sehr eifersüchtig und kontrolliere sie. Er habe hierzu auch Mitstudenten mit ihrer Überwachung und dem Fertigen von Lichtbildern beauftragt. Er kontrolliere auch regelmäßig ihr Handy und würde Löschungen vornehmen. Der Kläger soll ihr Bilder geschickt haben, auf denen sie mit ihrer Mutter beim Einkaufen zu erkennen gewesen sei. Er habe mitgeteilt, dass er jederzeit überall sein könne und sie nicht sicher vor ihm wäre. Er soll auch Bilder einer Waffe übersandt haben. Im Rahmen einer anschließenden Durchsuchung in der Wohnung des Klägers wurde eine Schreckschusspistole sowie Munition sichergestellt. Das Verfahren wurde mit Beschluss des AG … (Az. …*) gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt.
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Mit Urteil des Landgerichts … vom 18.03.2020 – … wurde der Kläger wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag nach den Ausführungen des Landgerichts … folgender Sachverhalt zugrunde:
„Am Ostermontag, den 23.04.2019, etwa gegen 03:15/03:20 Uhr kam es im Innenhof des Anwesens … in … zu einer Auseinandersetzung zwischen dem späteren Geschädigten … und dem Angeklagten, die zunächst verbal begonnen hatte und in der Folge mit Fäusten geführt wurde. Der Auseinandersetzung vorausgegangen war, dass der Angeklagte die Zeugin …, der der Geschädigte nahestand, in der Diskothek angemacht und angefasst, nach deren Aufforderung jedoch von ihr abgelassen hatte.
Im Verlauf der mit gegenseitigen Kopf- und Körpertreffern verbundenen Auseinandersetzung zog der Angeklagte unbemerkt vom Gegner ein von ihm mitgeführtes Einhandmesser und stach damit auf den Geschädigten mehrfach ein. Dabei war ihm die Lebensgefährlichkeit seiner Messerangriffe bewusst. Er traf seinen Gegner insgesamt fünfmal. Einer der Stiche drang auf Höhe der Achselhöhle links in den Brustkorb des Geschädigten ein, stach die Lunge an und es bildete sich ein Pneumothorax. Mit dem letzten, mit heftiger Wucht geführten Stich rammte der Angeklagte dem Geschädigten das von ihm mitgeführte Einhandmesser, Klingenlänge 8,5 cm, bis zum Schaft auf Höhe der linken Schläfe so in den Schädel, dass es arretiert in den Schädelknochen steckenblieb und nicht mehr herausgezogen werden konnte.
Bei dem Stich in den linken Oberkörper und dem Stich in den Kopf des Geschädigten handelte der Angeklagte mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz. Der als möglich erkannte Tod seines Gegners war ihm egal.
Der Angeklagte entfernte sich anschließend vom Tatort in dem Bewusstsein, auch wenn er seinen Messerangriff nicht mehr fortsetzen konnte, seinem Opfer bereits so schwere Verletzungen zugefügt zu haben, dass diese zeitnah tödlich wirken.
Der lebensgefährlich verletzte Geschädigte konnte aufgrund sofortiger ärztlicher Hilfe und glücklicher Umstände gerettet werden.
Der Angeklagte handelte bei voll erhaltener Einsichts- und Steuerungsfähigkeit. (…)
II. Sachverhalt
1. Vorgeschichte
Am Ostersonntag, dem 21.04.2019, besuchte der Angeklagte mit seinem Freund … ab ca. 22/23 Uhr im Rahmen der … Partynacht die Diskothek …, …, in … Wie verabredet trafen der Angeklagte und … gegen 01:00 bis 02:00 Uhr des Ostermontags, 22.04.2019, in der Diskothek … auf die 19-jährige … und deren Freundin … … entfernte sich im Verlauf des Abends mit der Zeugin … in Richtung einer nahegelegenen Tiefgarage, um dort mit ihr ungestört zu sein.
Der Angeklagte, der … bereits im Vorfeld über Instagram kontaktiert und ihr mitgeteilt hatte, wie schön sie sei, machte sich nun an die Zeugin … heran. Er machte ihr Komplimente und fasste sie an, er legte seinen Arm um ihre Hüfte und versuchte, sie zu küssen.
… gab dem Angeklagten deutlich zu verstehen, dass sie nichts von ihm wolle und sein Verhalten missbillige. Daraufhin ließ der Angeklagte von ihr ab.
Gegen 02:40 Uhr erhielt der Nebenkläger und spätere Geschädigte … in der Diskothek … Einlass. Er war mit … verabredet und traf sich mit ihr. Er hatte mit ihr vorher gemeinsam den Abend begonnen und war wegen starken Andrangs zunächst von den Türstehern nicht gleich zusammen mit … eingelassen worden. Er und … waren kurz davor, eine nähere Beziehung zu beginnen.
2. Tatgeschehen
… teilte … nach ihrem Zusammentreffen in einem Gespräch vor der Diskothek … mit, dass der Angeklagte sie kurz vorher in der Diskothek bedrängt und angefasst habe und außerdem versucht habe, sie gegen ihren Willen zu küssen. Sie konfrontierte … damit, dass er nicht da gewesen sei, um ihr zu helfen.
Als der Angeklagte und … kurze Zeit nach 03:00 Uhr an … und … vorbeigingen, zeigte … auf den Angeklagten und sagte, „das ist er“. … sagte darauf zu … „das werden wir gleich klären“ und folgte sofort dem Angeklagten. Er wollte ihn auf den Vorfall mit … ansprechen und deswegen zur Rede stellen.
Im nahegelegenen Innenhof der Wohnanlage … sah … den Angeklagten stehen. Er tippte den Angeklagten an und fragte ihn, ob er … sei, was dieser bejahte.
Anschließend fragte er ihn vorwurfsvoll: „Warum fasst du meine Freundin an?“ sowie „Was soll das? Warum machst du so etwas?“.
Dem Angeklagten, der mit … im Vorfeld noch nie Probleme hatte und ihn nicht kannte, war sofort klar, dass es um … ging. Im weiteren Verlauf fielen vom Geschädigten auch die Worte „Was bist du für ein Ehrloser? Hast du keinen Stolz?“. Der Angeklagte war hierüber verärgert und wurde wütend.
Der zufällig anwesende Diskothekenbesucher …, der den Streit mitbekam, versuchte, beruhigend auf beide Kontrahenten, die ihm persönlich bekannt waren, einzuwirken und diese zu trennen. Er redete auf den … ein, die Auseinandersetzung zu unterlassen. Dieser gab ihm zu verstehen, dass er die Sache jetzt klären wolle.
Anschließend schob … den Angeklagten einige Meter zurück und versuchte, auch diesen zu beruhigen und von einer Auseinandersetzung abzuhalten.
Als … wegen einer weiteren kämpferischen Auseinandersetzung von Bekannten in der Nähe die beiden verließ, ging der Angeklagte wieder auf … zu.
Der Angeklagte versetzte dem Geschädigten sogleich mit beiden Händen einen kräftigen Stoß gegen den Oberkörper. Der Geschädigte schubste seinerseits zurück. Der Angeklagte schlug daraufhin mit der Faust in Richtung des Geschädigten. Dieser schlug zurück.
Zwischen den Kontrahenten entwickelte sich eine körperliche Auseinandersetzung zur Klärung ihrer Meinungsverschiedenheit, die kräftemäßig ausgeglichen verlief. Beide schlugen und trafen jeweils gegenseitig mit ihren Faustschlägen, die mit beiden Händen erfolgten, ins Gesicht und auf den Oberkörper des jeweiligen Gegners.
Insgesamt gab es eine Vielzahl von wechselseitigen Faustschlägen, wobei keiner der beiden Kämpfer eine überlegene Position einnahm.
Vom Geschädigten … unbemerkt, zog der Angeklagte, um die tätliche Auseinandersetzung um jeden Preis siegreich zu beenden, im weiteren Kampfverlauf aus seiner Kleidung ein von ihm zu Eigenschutzzwecken mitgeführtes Einhandmesser (Klingenlänge 8,5 cm, Klingenbreite bis zu 2,5 cm, Klinge einseitig geschliffen und spitz zulaufend) und öffnete dieses.
Ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund stach er, wobei der Geschädigte dies bis zuletzt nicht bemerkte, mit dem Messer in der rechten Hand mehrfach auf … ein. Die genaue Reihenfolge der Stiche – mit Ausnahme des letzten Stiches – konnte nicht sicher festgestellt werden. Insgesamt traf der Angeklagte den Geschädigten mindestens fünfmal und fügte ihm dadurch seiner Absicht entsprechend Messerstichverletzungen an der linken Brustseite, am linken Unterarm, am rechten Oberarm, in der linken Achselregion und an der linken Schläfe zu.
Der Stich, der unterhalb der linken Achsel seitlich in den Brustkorb des Geschädigten eindrang, führe zu einer ca. 2,5 cm breiten, sofort stark blutenden Wunde. Die genaue Tiefe des Stiches konnte wegen des Eindringens in eine Körperhöhle nicht festgestellt werden, jedoch wurde durch diesen Stich die Lunge des Geschädigten angestochen.
Der durch die Messerstiche erlittene Blutverlust, resultierend vor allem durch den in den Brustkorb eingedrungenen Stich, hatte zur Folge, dass der Geschädigte … zunehmend schwächer wurde und der Angeklagte die Oberhand in der Auseinandersetzung gewann.
Mit dem letzten, mit heftiger Wucht geführten Stich, zielte der Angeklagte in Richtung des Kopfes des Gegners. Die Klinge des Messers drang bis zum Schaft ca. 8,5 cm tief im Bereich der linken Schläfe vollständig in den Kopf des Geschädigten ein. Der Stichkanal lief knapp unterhalb des linken Auges. Das Messer durchdrang mehrere Knochen, zuletzt die Nasenscheidewand. Die Messerspitze endete im Bereich unterhalb des rechten Nasenflügels mit der Schneide direkt angrenzend an eine Kopfarterie, die nur zufällig nicht verletzt wurde.
In dieser Position blieb das Messer in den Schädelknochen des … so fest stecken, dass es nicht mehr herausgezogen werden konnte.
Bei Ausführung der Stiche war dem Angeklagten bewusst, dass diese zu lebensgefährlichen Verletzungen führen können, was er zumindest billigend in Kauf nahm. Sowohl bei dem Stich in den Brustkorb links als auch bei dem Stich in den Kopf nahm der Angeklagte den Tod des … zumindest billigend in Kauf. Er wusste, dass sein Gegner durch diese Stiche nicht nur lebensgefährliche, sondern tödliche Verletzungen erleiden kann. Dies war ihm egal, weil er „um jeden Preis“ Sieger des Zweikampfes sein wollte.
Nach dem letzten Stich taumelte … und drehte sich zweimal um die eigene Achse. Als der in der Nähe befindliche …, ein Freund des Geschädigten, dies bemerkte, stürzte er zu seinem Freund und stütze ihn. Dies nahm auch der Angeklagte wahr.
Der Angeklagte, der das fest im Kopf des Gegners steckende Messer sah, erkannte, dass er weitere Messerangriffe in Richtung seines Opfers mangels Waffe nicht mehr ausführen konnte. Für sein Vorhaben, seinem Gegner lebensgefährliche Messerstiche mit in Kauf genommenen tödlichen Verlauf beizubringen, stand ihm ein gleichwertiges Tatwerkzeug nicht mehr zur Verfügung.
Der Angeklagte beendete seine Angriffe und verließ den Tatort in dem Bewusstsein, mangels Waffe den Messerangriff nicht fortsetzen zu können. Er ging andererseits in diesem Moment angesichts des schwer taumelnden Gegners, der gestützt werden musste und dem das Tatmesser im Kopf steckte, auch davon aus, dass er seinem Opfer durch die mehreren Stiche, insbesondere in Brust und Kopf, bereits so schwere Verletzungen zugefügt hatte, dass diese unweigerlich zeitnah einen tödlichen Verlauf nehmen und das Opfer daran sterben werde.
Der Angeklagte sah, dass er den Zweikampf durch seinen Messereinsatz gewonnen hatte. Ein weiteres Tätigwerden hielt er in Wahrnehmung des schwer getroffenen und zusammenbrechenden Gegners … nicht mehr für erforderlich und überließ sein Opfer dem zu erwartenden Schicksal, dass es an den zugefügten Verletzungen verstirbt.
3. Geschehen nach der Tat
Der Angeklagte entfernte sich in Richtung der Straße … Straße und begab sich zu seinem Pkw, welchen er wenige hundert Meter entfernt geparkt hatte. Er versuchte, mehrere Personen, unter anderem …, telefonisch zu kontaktieren, um zu erreichen, dass die Polizei nicht verständigt wird. Sodann fuhr er mit seinem Pkw zu seiner Freundin … in … und traf dort ca. 10 Minuten nach der Tat gegen 03:30 Uhr ein.
Gegen 04:00 Uhr wurde er in der Wohnung der … widerstandslos festgenommen.
In der Zwischenzeit hatte sich der Geschädigte, gestützt von …, in Richtung eines Durchgangs zur … Straße geschleppt. Dort brach er im Bereich einer Treppe zusammen. Eine zufällig vorbeikommende Polizeistreife leistete sofort erste Hilfe und setzte einen Notruf ab.
Der Polizeibeamte … drückte die stark blutenden Wunde im Bereich der rechten Achselregion fachgerecht ab. Infolge des starken Blutverlusts verlor der Geschädigte das Bewusstsein. Es bestand akute Lebensgefahr. Der Geschädigte wurde mit dem Rettungswagen ins Klinikum … verbracht.
Das Messer steckte derart im Kopf fest, dass es für den Transport nicht mehr fixiert werden musste. Im Klinikum … wurde die lebensgefährliche Stichverletzung im linken Oberkörper mit Beteiligung des linken Lungenflügels, es hatte sich ein Pneumothorax gebildet, provisorisch mit einer Thorax-Drainage versorgt. Anschließend wurde der Geschädigte mittels Rettungshubschrauber in das Uniklinikum … verlegt.
In einer Notoperation konnte das Messer entfernt werden, das von beiden Operateuren mit bloßer Muskelkraft nicht herausgezogen werden konnte und nur mittels Einsatzes von Hammer und Behelfswerkzeugen gelöst werden konnte.
Der Geschädigte konnte am 27.04.2019 aus dem Klinikum entlassen werden. In der Folge zeigten sich noch über Monate Probleme beim Essen und Bewegen des Kiefers.
Der Geschädigte musste über mehrere Wochen Schmerzmedikamente nehmen. Größere körperliche Dauerschäden werden nur durch einen glücklichen Zufall voraussichtlich nicht zurückbleiben.
Der Geschädigte hat im Gesichtsbereich links eine ca. 3 cm lange Narbe, die noch kosmetisch operiert werden soll. Bei Berührung im linken Wangenbereich verspürt er nach wie vor Schmerzen. Darüber hinaus wird er nachts noch von Albträumen gequält, in denen ihm sein Freund … zuruft „du hast ein Messer im Kopf“ und in denen er das verzweifelte Schreien und Weinen der … hört.
Der Angeklagte hatte im Verlauf des Abends nur geringe Mengen Alkohol getrunken und war deshalb zur Tatzeit nicht rechtserheblich relevant alkoholisiert.
Er war weder in seiner Einsichts- noch in seiner Steuerungsfähigkeit beeinträchtigt. Der Angeklagte war voll schuldfähig.“
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Im Rahmen der Beweiswürdigung führt die 1. Strafkammer des Landgerichts … als Schwurgericht zur voll erhaltenen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zur Tatzeit aus, dass die Feststellungen auf den Ausführungen des Sachverständigen Dr. …, Facharzt für Psychiatrie und Oberarzt am BKH … für Forensische Psychiatrie, beruhten. Demnach liege beim Kläger keine überdauernde psychiatrische Erkrankung vor. Es habe das Vorliegen einer narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung festgestellt werden können, die jedoch als bloßer Charakterzug des Klägers weit von einem Krankheitswert entfernt sei. Die Steuerungsfähigkeit des Klägers sei bei der Tatbegehung auch nicht aus sonstigen Gründen erheblich vermindert gewesen. Es habe weder eine relevante Angst- und Panikstörung noch ein affektiver Ausnahmezustand vorgelegen. Der Kläger habe aus freier Entscheidung („um als Sieger vom Platz zu gehen“) das Messer gezogen und zugestochen, so dass eine rechtserhebliche Einschränkung der Steuerungsfähigkeit sicher nicht vorliege.
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Im Rahmen der Strafzumessung nahm das Schwurgericht weder einen minder schweren Fall nach § 213 Abs. 1 StGB (Fall der Provokation durch eine Misshandlung oder schwere Beleidigung) noch einen sonstigen minder schweren Fall des Totschlags gemäß § 213 Abs. 1 Alt. 2 StGB an. Zu Gunsten des Klägers wurde in Rechnung gestellt, dass er in der Hauptverhandlung eingeräumt habe, an der Auseinandersetzung beteiligt gewesen zu sein und mit seinem Messer zugestochen zu haben, dass er selbst nicht nur unerheblich verletzt worden und nur geringfügig vorbestraft gewesen sei sowie dass er von seinem Opfer angesprochen, durch dessen Äußerungen gereizt worden sei und diese ihn infolge seiner narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung stärker getroffen hätten als einen anderen. Überdies wurde berücksichtigt, dass es sich beim Einsatz des Messer um einen Spontanentschluss in einem zunächst einvernehmlichen dynamischen Kampfgeschehen gehandelt habe, die Tat mit „nur“ bedingtem Tötungsvorsatz begangen worden sei, das Opfer die Tat überlebt habe und der Kläger in seinem letzten Wort sein Bedauern gegenüber dem Geschädigten zum Ausdruck gebracht habe. Das Schwurgericht führte jedoch weiter aus, dass entscheidende Gründe auch zu Lasten des Klägers sprechen würden. Insoweit sei insbesondere das gesamte Tatbild zu berücksichtigen gewesen. Der Kläger habe vorliegend ein besonders gefährliches Tatmittel (Einhandmesser mit Klingenlänge 8,5 cm) verwendet, insgesamt fünfmal zugestochen und zwei äußerst gefährliche Tathandlungen (Stiche in die Lunge und in den Kopf) begangen. Er habe zwei Tatbestände (versuchter Totschlag und vollendete gefährliche Körperverletzung) verwirklicht. Auch der Umstand, dass das Tötungsdelikt im Versuchsstadium stecken geblieben sei, könne aufgrund der maximalen Nähe zur Tatvollendung, die nur durch das sofortige professionelle ärztliche Eingreifen und viel Glück verhindert worden sei, nicht zur Bejahung eines minderen schweren Falles angenommen werden.
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Mit Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 22.09.2020 (Az. …*) wurde die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts … vom 18.03.2020 als unbegründet verworfen (Bl. 94 des Vollstreckungsheftes). Der Kläger saß zunächst ab 22.04.2019 in Untersuchungshaft und verbüßt seit 23.09.2020 Strafhaft.
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Mit Schreiben vom 26.11.2020 hörte die Stadt … den Kläger zur beabsichtigten Ausweisung an. Im Rahmen zweier Schreiben führte er aus, dass er sein ganzes Leben im Bundesgebiet verbracht habe. Sein Vater sei als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Als Sohn einer Gastarbeiterfamilie sei er zweisprachig aufgewachsen und könne sich nun auf den Ausweisungsschutz nach Art. 14 ARB 1/80 berufen. Er habe gearbeitet und sei lange Zeit am Arbeitsmarkt tätig gewesen. … sei seine Heimat und er habe keine Sozialbindungen in der Türkei. Seine Familie, Freunde und Eltern seien im Bundesgebiet. Seine Mutter sei auf Pflege angewiesen. Er habe keine kriminelle Energie und keine Suchtproblematik. Die Tat sei im Affekt geschehen und unter großem Adrenalineinfluss. Er stehe auf einer Warteliste für eine Sozialtherapie gegen Gewalt. Er wolle auch gerne eine Ausbildung in der JVA beginnen. Seine Mutter werde ihn nach der Haftentlassung wieder bei sich aufnehmen. Er habe eine feste Wohnanschrift und Bekannte könnten ihm nach der Haft sofort einen Arbeitsplatz besorgen. Am 13.01.2020 hatte die vom Kläger bevollmächtigte Schwester einen Termin zur persönlichen Vorsprache beim Ausländeramt der Stadt … Sie teilte im Namen ihres Bruders mit, dass sie, der Kläger und die Mutter eine enge Beziehung hätten. Vor seiner Inhaftierung habe der Kläger sich um die hilfsbedürftige Mutter gekümmert. Zu den Verwandten in der Türkei hätten sie keinen Kontakt. Der Kläger sei vor ca. zehn Jahren zuletzt im Urlaub in der Türkei gewesen. Wenn sie in der Türkei Urlaub gemacht hätten, dann in Hotels, nicht bei Familienangehörigen. Die Schwester sowie die Mutter könnten im Falle einer Abschiebung nicht in die Türkei ziehen, da sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland hätten.
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Eine Anfrage der Beklagten bei der Deutschen Rentenversicherung ergab, dass der Kläger vom 03.09.2012 bis 16.12.2013 (1 Jahr und 3 Monate), vom 11.03.2014 bis 05.02.2016 (1 Jahr und 11 Monate), vom 19.05.2017 bis 17.11.2017 (6 Monate) und vom 21.12.2017 bis 22.04.2019 (1 Jahr und 4 Monate) sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Weiter sind geringfügige Beschäftigungen vom 01.02.2010 bis 31.07.2013 (3 Jahre und 6 Monate) mit durchschnittlich 65,00 Euro monatlichem Einkommen, vom 01.12.2013 bis 01.07.2014 (7 Monate) und vom 11.10.2015 bis 31.12.2017 (2 Jahre und 3 Monate) mit durchschnittlich maximal 330,00 Euro Einkommen aufgelistet.
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Mit Bescheid der Stadt … vom 12.02.2021 wurde der Kläger aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Ziffer 1) und aufgrund der Ausweisung ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen, das auf die Dauer von sieben Jahren befristet wurde; die Frist sollte mit der Ausreise beginnen (Ziffer 2). Darüber hinaus wurde die Abschiebung aus der Haft nach Vollziehbarkeit des Bescheids in die Republik Türkei oder in einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf, angeordnet. Sollte der Kläger bei Vollziehbarkeit des Bescheids nicht mehr in Haft sein, wurde er aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland 30 Tage nach Eintritt der Vollziehbarkeit des Bescheids zu verlassen; widrigenfalls wurde ihm die Abschiebung in die Republik Türkei oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Ziffer 3).
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger durch Urteil des Landgerichts … vom 18.03.2020 zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden sei. Aufgrund dessen werde der Tatbestand der besonders schwerwiegenden Auseisungsinteressen nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und Abs. 1 Nr. 1a Buchst. a AufenthG erfüllt. Bei der Würdigung der Tat gelte es besonders zu beachten, dass sich der Einsatz des Messers als Waffe aus einem zuvor ausgeglichenen Faustkampf, der durch eine relativ harmlose Frage nach der Ehre des Klägers ausgelöst worden sei, entwickelt habe. Der Kläger habe dabei das Messer als Waffe eingesetzt, ohne dass sein Kontrahent dies mitbekommen und sich entsprechend habe verhalten können. Dies obgleich sich der Kläger durch seine jahrelange Erfahrung als …, auch in Wettkämpfen, und seine Ausbildung gemäß § 34a GewO als … ohnehin im Vorteil befunden habe. Der massive Gewalteinsatz, der nur geendet habe, da das Messer mit reiner Muskelkraft nicht mehr aus dem Kopf des Opfers zu entfernen gewesen sei, spreche deutlich zu Lasten des Klägers. Gerade aufgrund seiner Vorbildung als … und … wäre der Kläger zu einem äußerst sorgsamen und zurückhaltenden Verhalten in Gewalt- und Kampfsituationen verpflichtet gewesen. Dass die Eskalation der Gewalt nach den Aussagen des Klägers auf eine verstärkte Adrenalinausschüttung zurückzuführen gewesen sei, entschuldige die Tat in keiner Weise. Es deute vielmehr auf eine generelle Gewaltbereitschaft des Klägers hin, wenn sich dieser durch eine Provokation und dementsprechend gebildetes Adrenalin gleich zu solch massiven Gewalttaten hinreißen lasse. Auch widerspreche sich der Kläger in seinen Stellungnahmen selbst, wenn er angebe, keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darzustellen und in einer Ausnahmesituation gehandelt zu haben, andererseits aber auf der Warteliste für eine Gewalttherapie stehe, die das Vorliegen von Gewaltproblemen gerade voraussetze.
15
Demgegenüber erfülle der Kläger ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, da er sich seit mehr als fünf Jahren, nämlich seit seiner Geburt, rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte und eine Niederlassungserlaubnis besitze. Er sei in Deutschland aufgewachsen, habe einen Schulabschluss erzielt und zwei Ausbildungen begonnen, die er jeweils aufgrund äußerer Umstände habe abbrechen müssen. Andererseits sei er jedoch auch noch stark in türkischen Traditionen und im türkischen Kulturkreis verwurzelt. Er sei zweisprachig aufgewachsen. Seine Mutter, mit der er bis zu seiner Inhaftierung zusammengelebt habe, spreche nach wie vor kein Deutsch. Die Familie gelte als streng gläubig. Auch sei es im Jahr 2009 zu einem tätlichen Angriff auf die Schwägerin gekommen, weil sich diese vom Bruder getrennt habe und nach Auffassung des Klägers nicht türkisch genug gekleidet habe. Eine langfristige Beziehung habe der Kläger kurz vor der Hochzeit beendet, da die Braut nicht – wie in der Türkei üblich – zu ihrem Mann habe ziehen wollen. Besonders ins Gewicht falle, dass der Kläger, nach seinen Angaben gegenüber dem gerichtlich bestellten psychiatrischen Sachverständigen Dr. …, nach der Tat selbst überlegt habe, in die Türkei zu fliehen. Er sehe die Türkei somit offensichtlich als ein Land an, in welchem er für sich Schutz suchen könne. Nicht zuletzt würden für eine starke Verwurzelung im türkischen Kulturkreis die Umstände sprechen, die zu dem versuchten Totschlag geführt hätten. Die massive Gewaltanwendung sei durch die Frage des späteren Opfers, „Hast du keine Ehre?“ ausgelöst worden. Die Bedeutung der persönlichen Ehre sei eindeutig im türkischen Kulturkreis angesiedelt und nicht im deutschen. Im Bundesgebiet lebten zwar auch Familienangehörige des Klägers, allen voran seine Mutter und seine jüngere Schwester, jedoch lägen hier keine rechtlich schützenswerten Bindungen vor. Auch sein Vorbringen, seine Mutter pflegen zu wollen, ändere daran nichts. Zudem sei ihm die Pflege während seines mehrjährigen Aufenthalts in der JVA auch nicht möglich. Überdies lebe die jüngere Schwester bei der Mutter und könne diese entsprechend unterstützen. Soweit die Schwester des Klägers vorgebracht habe, dass sie und die Mutter dem Kläger im Falle einer Abschiebung nicht in die Türkei folgen könnten, sei festzustellen, dass beide wirtschaftlich nicht in Deutschland integriert seien; die Mutter überdies auch sprachlich nicht. Zudem hätten beide die türkische Staatsangehörigkeit. Zumindest Besuche in der Türkei würden kein Problem darstellen. Der Kläger sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. In die Abwägung sei auch seine Erwerbsbiographie einzustellen. Er sei immer wieder verschiedenen Beschäftigungen nachgegangen. Weiter sei zu würdigen, dass der Kläger bislang im Bundesgebiet lediglich einmal vorbestraft sei. Ausweislich der Ausführungen des Strafurteils habe der Kläger nach wie vor Familienangehörige, namentlich drei Halbgeschwister, in der Türkei. Auch wenn er angebe, keinerlei Kontakt zu diesen zu unterhalten, so könne er im Notfall aufgrund der familiären Verbundenheit (es handele sich um Halbgeschwister mütterlicherseits und die Mutter könne sicher einen Kontakt herstellen) in der Türkei auf ein soziales Umfeld zurückgreifen. In Anbetracht all dieser Umstände und bei sorgfältiger Abwägung der verschiedenen Belange komme man zu dem Ergebnis, dass der, wenn auch langjährige, Aufenthalt mit einer Niederlassungserlaubnis und unter Ausübung von Beschäftigungen hinter den deutlich überwiegenden Ausweisungsinteressen zurückstehen müsse.
16
Der Kläger verfüge auch nicht über die besonders geschützte Rechtsposition des Art. 14 ARB 1/80. Er könne nach Art. 7 ARB 1/80 kein Assoziationsrecht von seinen Eltern ableiten. Ein zunächst infolge seiner Beschäftigungen gemäß Art. 6 1. Spiegelstrich ARB 1/80 entstandenes Assoziationsrecht sei durch die Inhaftierung des Klägers wieder entfallen. Selbst wenn man vorliegend das Bestehen eines Assoziationsrechts annehmen würde, würde der Ausweisungsschutz nicht durchgreifen und nicht zu einem anderen Ergebnis der Abwägung führen. Beim Kläger bestehe ausweislich der Ausführungen des Strafurteils eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung ohne Krankheitswert. Zudem sei das Tatgeschehen von der harmlosen Provokation, ob der Kläger keine Ehre habe, ausgelöst worden. Wenn bereits derart geringfügige Anlässe zu einer solch massiven Tat führten, stünden im Hinblick auf die Persönlichkeit des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit weitere Gewalttaten zu befürchten.
17
Da der Kläger wegen einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen werde und von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehe, sei hinsichtlich der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots der Fristrahmen des § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG eröffnet. Der Kläger habe aus nichtigem Anlass eine besonders schwere Straftat begangen. Er habe sich wegen einer Frage nach seinem Ehrgefühl auf eine körperliche Auseinandersetzung eingelassen und nachdem diese trotz seiner Kenntnisse und Erfahrungen als … und der Ausbildung im …-Bereich, ausgeglichen verlaufen sei, habe er ein Messer gegen seinen unbewaffneten Kontrahenten eingesetzt. Vor derart gefährlichen Verhaltensweisen gelte es die Bevölkerung im Bundesgebiet zu schützen, was eine möglichst lange Abwesenheit verlange. Andererseits sei der Kläger im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen und habe hier Familienangehörige. Er gebe auch an, seine Mutter pflegen zu wollen. Er habe also ein großes persönliches Interesse an einer möglichst zeitnahen Rückkehr. Nach Abwägung dieser widerstreitenden Interessen erscheine eine Frist von sieben Jahren vorliegend geeignet, angemessen, aber auch erforderlich.
18
Die Abschiebung sei nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzudrohen gewesen. Solange sich der Kläger in Haft befinde, sei die Androhung der Abschiebung gemäß § 59 Abs. 5 i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG entbehrlich.
19
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 09.03.2021, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am selben Tag eingegangen, hat der Kläger Klage erhoben und beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 12.02.2021 aufzuheben.
20
Zur Begründung verweist der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 20.07.2021 vollumfänglich auf das klägerische Vorbringen vom 20.12.2020 bzw. 28.12.2020 (Bl. 344ff. der Ausländerakte). Mit Schriftsatz vom 25.08.2022 führt er weiter aus, dass der Kläger derzeit eine Ausbildung zum … absolviere. Disziplinarische Vorkommnisse in der JVA seien dem Klägerbevollmächtigten nicht bekannt, sodass davon ausgegangen werde, dass der Kläger sich beanstandungsfrei verhalten habe.
21
Mit Schriftsatz vom 26.07.2021 beantragt die Stadt …,
die Klage abzuweisen.
22
Zur Begründung wurde auf die Ausführungen des Bescheids vom 04.01.2021 Bezug genommen. Das klägerische Vorbringen vom 20.12.2020 und vom 28.12.2020 sei darin bereits vollumfänglich gewürdigt worden.
23
Mit Schriftsatz vom 12.09.2022 übermittelte die Beklagte den Führungsbericht der JVA … vom 08.09.2022. Demnach habe das Verhalten des Klägers in Haft bisher keinen Anlass zu Beanstandungen gegeben. Er werde von den mit ihm betrauten Bediensteten des allgemeinen Vollzugsdienstes als gesprächig und offen angesehen und trete freundlich sowie höflich auf. Sein Verhalten gegenüber Bediensteten sei anständig und höflich, gegenüber Mitgefangenen verträglich und gutmütig. Seine Fehler und Schwächen sehe er ein. Er sei arbeitswillig. Der Kläger befinde sich seit September 2021 in der betrieblichen Ausbildung zum …, welche laut Ausbildungsvertrag bis zum 31.08.2024 dauere. Seine Arbeitsleistung werde als schwankend und oberflächlich beschrieben. Der Kläger bemühe sich, sei jedoch leicht ablenkbar und leichtfertig. Der Sachverständige Dr. … sehe in seinem forensisch-psychiatrischen Gutachten vom 01.12.2019 beim Kläger eine narzisstische Akzentuierung der Persönlichkeit. Der Kläger habe bereits während der Untersuchungshaft mehrfach eigeninitiativ das Gespräch mit der sozialtherapeutischen Abteilung für Gewaltstraftäter gesucht. Er habe berichtet, schon häufiger wegen seines Temperaments in Konfliktsituationen geraten zu sein und deswegen an sich arbeiten zu wollen. Da eine Sozialtherapie, auch in Anbetracht des bedrohten Rechtsguts (das Opfer habe nur dank glücklicher Umstände überlebt) indiziert scheine, sei der Kläger auf die Warteliste gesetzt und am 09.06.2022 in der Abteilung aufgenommen worden. Der Kläger werde regelmäßig von seiner in … lebenden Mutter besucht, außerdem sporadisch von seinem Cousin und von Freunden. Auch telefonisch halte er Kontakt mit den besagten Personen. Vollzugsöffnende Maßnahmen seien nicht gewährt worden.
24
Mit Schriftsatz vom 12.10.2022 regte die Stadt … an, mit einer Entscheidung im Klageverfahren abzuwarten, bis das Ergebnis des Abschlusses der Sozialtherapie vorliege. Mit Schriftsätzen vom 31.01.2023 bzw. 01.02.2023 erklärten der Klägerbevollmächtigte sowie die Stadt … ihr Einverständnis mit einem Ruhen des Verfahrens. Mit Beschluss vom 03.03.2023 wurde auf Antrag der Beteiligten und aus Gründen der Prozesswirtschaftlichkeit das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Unter dem 09.08.2023 wurde das Verfahren B 6 K 21.261 statistisch als erledigt behandelt, nachdem es länger als sechs Monate ruhte.
25
Ausweislich eines Führungsberichts der JVA … vom 08.09.2023 (Bl. 120f. des Vollstreckungsheftes) habe der Kläger seit Januar 2023 zusätzlich zu den regelmäßigen therapeutischen Einzelgesprächen an den für ihn vorgesehenen Gruppenmodulen teilgenommen. Dem Kläger sei es gelungen, eine tragfähige, vertrauensvolle Beziehung zum behandelnden Team aufzubauen. Er habe sich stets absprachefähig gezeigt. Den therapeutischen Angeboten sei er mit zunehmender Offenheit begegnet; er bringe sich interessiert und aktiv ein und habe vermehrt die Bereitschaft zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit problematischen Einstellungen sowie Persönlichkeitseigenschaften und zur Bearbeitung strafrelevanter Themen gezeigt. Eine Verbesserung des emotionalen Zugangs sei augenscheinlich. Seine Tat bereue und bedauere er und könne sie sich kaum erklären. Angesichts des Vollstreckungstandes und der positiven Entwicklung des Klägers in Haft würden zunächst Ausgänge und bei positivem Verlauf Hafturlaube zur Vorbereitung der Entlassung für therapeutisch sinnvoll erachtet. Eine erste Ausführung in Verbindung mit einem Kennenlerngespräch mit der Mutter des Klägers habe am 16.08.2023 im Rahmen der sozialtherapeutischen Behandlung im Stadtgebiet … stattgefunden und sei ohne Beanstandungen verlaufen. Die Mutter werde als geeignete Abholperson für künftige Lockerungen eingeschätzt. Eine positive Sozialprognose könne aufgrund der fehlenden Erprobung in Lockerungen aktuell nicht gestellt werden. Zudem sei die sozialtherapeutische Behandlung noch nicht abgeschlossen, die persönlichkeitsimmanenten Risikofaktoren des Klägers bedürften einer weiteren therapeutischen Bearbeitung. Dem Führungsbericht der JVA … vom 09.02.2024 (Bl. 128f. des Vollstreckungsheftes) ist zu entnehmen, dass der Kläger seit 07.10.2023 Vollzugslockerungen in Form von Ausgängen erhalte, die er mit seiner Mutter verbringe. Als nächster Lockerungsschritt sei in naher Zukunft die Gewährung von Hafturlaub geplant. Der Kläger nehme weiterhin am Behandlungsprogramm der Sozialtherapeutischen Abteilung für Gewaltstraftäter teil. Die Gruppenphase werde voraussichtlich im Juni dieses Jahres abgeschlossen sein. Der Kläger zeige sich weiterhin absprachefähig. Ein Abschluss des kompletten Behandlungsprogramms sowie die Erarbeitung eines Rückfallkonzepts würden von Seiten der Therapeutischen Abteilung als unabdingbar für eine vorzeitige Entlassung angesehen.
26
Mit Schriftsatz vom 20.06.2024 übersandte die Stadt … den Führungsbericht der JVA … vom 19.06.2024. Insoweit wird ausgeführt, dass dem Kläger bis April 2024 Vollzugslockerungen in Form von Ausgängen gewährt worden seien. Ein erster Hafturlaub sei vom 26.04.2024 bis 29.04.2024 genehmigt worden. Aufgrund von Fehlverhalten während des Hafturlaubs hätten Vollzugslockerungen seitdem nicht mehr stattgefunden. Der Kläger habe im Hafturlaub die Diskothek „…“ in … aufgesucht. Dabei handele es sich um den Tatort der begangenen Straftat. Mit dem Kläger seien im Vorfeld der Lockerungen im Rahmen der Therapie eingehend die für ihn kritischen Orte und Verhaltensweisen besprochen worden. Eine Problemeinsicht bezüglich der Freizeitgestaltung seines ersten Hafturlaubs sei trotz Nachbesprechung nicht ersichtlich gewesen. Am 13.06.2024 habe der Kläger letztlich von der Sozialtherapeutischen Abteilung für Gewaltstraftäter abgelöst werden müssen, da er Gefühle für eine Psychologin der Abteilung entwickelt und Stalking-Verhalten gezeigt habe. Im Oktober 2023 habe der Kläger romantische Gefühle gegenüber seiner Bezugstherapeutin offenbart, woraufhin in Rücksprache mit der sozialtherapeutischen Leitung und ausführlicher Fallbesprechung ein Therapeutenwechsel stattgefunden habe. Infolgedessen sei dem Kläger zunächst ein adäquater Umgang mit seinen Emotionen gelungen und er habe ein ausreichendes Maß an Offenheit und Selbstreflexion bezüglich der Situation aufbringen können. In Anbetracht der Tatsache, dass der Kläger bereits in der Vergangenheit mehrfach mit Stalking-Verhalten gegenüber seinen (Ex-)Partnerinnen polizeilich auffällig geworden sei, sei eine Aufarbeitung der nun gezeigten parallelen Verhaltensweisen aus therapeutischer Sicht unabdingbar gewesen. Es sei dem Kläger jedoch trotz intensiver Gruppen- und Einzelbetreuung nicht gelungen, sich tiefgreifend mit der bestehenden Problematik auseinanderzusetzen und besprochene Vereinbarungen einzuhalten. So sei er zunächst vereinzelt durch inadäquates Verhalten in Bezug auf Nähe und Distanz gegenüber der Psychologin aufgefallen. In der Folgezeit hätten sich die problematischen Gedanken des Klägers verstärkt; er habe Zusammenhänge konstruiert und Stalking-Verhalten gegenüber der Psychologin gezeigt. Am 11.06.2024 habe der Kläger letztendlich geäußert, dass er die Psychologin heiraten wolle, er sie analysiert und studiert habe und wisse, dass sie ihn ebenfalls lieben würde. Auch habe er Details aus ihrem Tagesablauf genannt und der Psychologin unterstellt, Lockerungsanträge des Klägers aus Eifersucht zu sabotieren. Dem Kläger sei es derzeit kaum noch möglich, einen Realitätsbezug herzustellen und sein problematisches Verhalten gegenüber der Kollegin zu hinterfragen. Zum Schutz der Psychologin habe der Kläger anstaltsintern verlegt werden müssen. Dem Kläger sei im Therapieverlauf mehrfach deutlich kommuniziert worden, dass erneute Annäherungsversuche eine Ablösung von der Therapeutischen Abteilung zur Folge haben würden. Auch die damit verbundenen geringen Erfolgsaussichten im Hinblick auf die Bewährungsaussetzung und die drohenden ausländerrechtlichen Konsequenzen hätten den Kläger nicht davon abgehalten, sich unangebracht zu äußern und zu verhalten. In Zusammenschau mit den Erkenntnissen aus den Ermittlungsakten sowie dem aktuell einschlägig gezeigten Stalking-Verhalten sei von einem hohen Gefährdungspotential sowie einem hohen Risiko für erneute (Gewalt-)Straftaten auszugehen. Dem Kläger sei es trotz zweijähriger, intensiver therapeutischer Behandlung nicht gelungen, problematische Verhaltens- und Denkmuster zu erkennen und nachhaltig zu verändern. Von einer positiven Prognose könne daher nicht mehr ausgegangen werden.
27
Ausweislich einer Haftzeitübersicht vom 19.06.2024 endet die Strafhaft des Klägers am 19.10.2026, der Ablauf von zwei Dritteln ist auf den 19.04.2024 datiert.
28
Unter dem 21.06.2024 wurde das aufenthaltsrechtliche Verfahren unter dem Az. B 6 K 24.552 wiederaufgenommen.
29
Mit Schriftsatz vom 09.07.2024 führt der Klägerbevollmächtigte aus, dass dem Kläger aktuell lediglich Vollzugslockerungen in Form von Hafturlaub nicht mehr gewährt würden. Der Kläger absolviere nach wie vor seine Ausbildung zum …, hierfür habe er zum Besuch der Berufsschule auch nach dem gegenständlichen Vorfall die Haftanstalt verlassen dürfen, was ohne Beanstandungen verlaufen sei. Ferner sei zu berücksichtigen, dass der Kläger sein Fehlverhalten (Besuch der Diskothek …*) selbst offengelegt habe. Richtig sei, dass der Kläger seitens der JVA – einseitig – von der Sozialtherapeutischen Abteilung für Gewaltstraftäter abgelöst worden sei. Der Kläger wolle hiergegen vorgehen.
30
Mit Schreiben vom 01.08.2024 und vom 20.08.2024 wandte sich der Kläger an das Ausländeramt der Stadt … und führte aus, dass er seine …ausbildung inzwischen erfolgreich abgeschlossen habe (Theorie: 1,3 (sehr gut); Praxis: 2,2 (gut)). Aufgrund der aktuellen Nachfrage nach qualifizierten Fachkräften im …handwerk und des enormen Mangels an …, solle der Kläger als gebürtiger … trotzdem aus seiner Heimatstadt abgeschoben werden. Wenn die Stadt … zu einem außergerichtlichen Deal mit dem Kläger bereit sei und die Einreisesperre von sieben auf drei Jahre reduziere und das „Schengen-Verbot“ aufhebe bzw. jedenfalls im gleichen Umfang reduziere, wäre der Kläger bereit, seine Klage eventuell zurückzunehmen. Mit Schriftsatz vom 27.08.2024 übersandte der Klägerbevollmächtigte das Prüfungszeugnis über die bestandene Gesellenprüfung des Klägers im Ausbildungsberuf … Unter dem 12.09.2024 teilte die JVA … mit, dass der Kläger am 01.08.2024 in die JVA … verlegt worden sei. Ausweislich der Führungsberichte der JVA … vom 28.08.2024 (Bl. 172f. des Vollstreckungsheftes) und vom 03.09.2024 (Bl. 153f. des Vollstreckungsheftes) sei der Kläger weder in der JVA … noch in der JVA … disziplinarisch geahndet worden. Über seine Strafe spreche er nicht. In der JVA … hätten bislang drei Telefonate mit seiner Mutter und Schwester stattgefunden. Bei einem Verbleib in Deutschland verfüge er über Wohnraum bei seiner Mutter in … Er gebe an, eine Arbeitsstelle als … beim Backhaus … – … in Aussicht zu haben. Dem Kläger sei es trotz zweijähriger, intensiver therapeutischer Behandlung nicht gelungen, problematische Verhaltens- und Denkmuster zu erkennen und nachhaltig zu verändern. Von einer positiven Prognose könne daher nicht mehr ausgegangen werden, es bestehe weiterhin ein hohes Gefährdungspotential sowie ein hohes Risiko für erneute (Gewalt-)Straftaten. Trotz sozialem Empfangsraum in Deutschland sei ihm keine positive Legalprognose zu stellen.
31
Ergänzend wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegten Behördenakten sowie die gerichtlicherseits beigezogenen Straf- und Strafvollstreckungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
32
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
33
Die im streitgegenständlichen Bescheid der Beklagten vom 12.02.2021 verfügte Ausweisung des Klägers aus der Bundesrepublik Deutschland, die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sieben Jahre, die Abschiebungsanordnung aus der Haft heraus, die Ausreiseaufforderung für den Fall, dass die Abschiebung aus der Haft heraus nicht möglich sein sollte sowie die Abschiebungsandrohung in die Türkei sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
34
1. Die in Ziffer 1 des gegenständlichen Bescheids verfügte Ausweisung ist rechtmäßig.
35
Die Ausweisungsverfügung findet in § 53 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 53 Abs. 3 AufenthG ihre Rechtsgrundlage. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18; U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8 m.w.N.).
36
a) Zwar erscheint zweifelhaft, ob dem Kläger – wie von ihm geltend gemacht – ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 bzw. Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zusteht. Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 ist im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Denn aus dem eindeutigen Abstellen auf die Arbeitnehmereigenschaft der Bezugsperson folgt, dass die Arbeitnehmereigenschaft im Zeitpunkt des Familiennachzugs bestehen und die Bezugsperson während der ersten drei Aufenthaltsjahre dem regulären Arbeitsmarkt angehören muss (vgl. AAH Assoziationsrecht EU-Türkei Ziffer 4.8.3, S. 55f. unter Verweis auf OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 9.10.2008 – 11 N 52.08/11 S 67.08 – S. 6). Der Kläger wurde am … in der Bundesrepublik geboren. Sein Vater bezog ab 01.03.1995 Rente wegen Arbeitslosigkeit, so dass er bereits zwei Jahre und fünf Monate nach der Geburt des Klägers aus dem regulären Arbeitsmarkt ausschied. Die Mutter des Klägers dürfte als Bezugsperson ebenfalls ausscheiden, da unklar ist, ob sie von den ihr im Zeitraum vom 21.06.1991 bis Januar 1996 erteilten Arbeitsgenehmigungen überhaupt Gebrauch gemacht hat. Im Rahmen ihrer Anträge auf Verlängerung ihres Aufenthaltsrechts gab sie stets an, vom Einkommen ihres Ehemannes bzw. später von Sozialleistungen zu leben. Ebenso dürfte Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 im Fall des Klägers ausscheiden. Zwar hat er im Rahmen der verbüßten Strafhaft erfolgreich eine Berufsausbildung zum … abgeschlossen. Auch reicht es für die Erlangung des Aufenthaltsrechts aus Art. 7 Satz 2 ARB 1/80 aus, dass die Beschäftigungszeiten des Elternteils zu einem beliebigen Zeitpunkt in der Vergangenheit absolviert worden sind. Allerdings war der Kläger bei Aufnahme der Berufsausbildung in der JVA bereits infolge des gegenständlichen Bescheids der Stadt … vom 12.02.2021 aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen und durfte sich damit nur infolge der aufschiebenden Wirkung der von ihm erhobenen Klage in Deutschland aufhalten und einer Beschäftigung nachgehen. Er hatte deshalb auf dem Arbeitsmarkt nicht, wie es erforderlich ist, eine rechtlich gesicherte, sondern nur eine vorübergehende Position inne, mit der in der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts geklärten Folge, dass eine ordnungsgemäße Beschäftigung i.S.d. Assoziationsratsbeschlusses nicht vorlag (vgl. BVerwG, B.v. 8.5.1996 – 1 B 136/95 – juris Rn. 14 m.w.N.). Auch die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 dürften im Fall des Klägers nicht gegeben sein. Das aus Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 abgeleitete Aufenthaltsrecht ist nach einem dreistufigen Modell gestaffelt. Grundsätzlich sind vom türkischen Arbeitnehmer die drei Stufen – nach ein-, drei- und vierjähriger Beschäftigung – nacheinander und ununterbrochen zu durchlaufen (vgl. Kurzidem in: BeckOK AuslR Kluth/Heusch, 42. Edition, Stand: 01.07.2024, Art. 6 EWG-Türkei, Rn. 27). Der Kläger kann vor seiner Inhaftierung jedoch auf keine dreijährige Beschäftigung bei dem gleichen Arbeitgeber zurückblicken.
37
b) Letztlich kann aber dahinstehen, ob dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 6 bzw. 7 ARB 1/80 zusteht, denn selbst bei Annahme eines solchen ist die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung rechtmäßig.
38
Steht dem Ausländer ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 zu, sind an die Qualität der erforderlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erhöhte Anforderungen zu stellen. Er darf nach § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, und wenn die Ausweisung zur Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Bei der Feststellung der in § 53 Abs. 3 AufenthG genannten schwerwiegenden Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (zu diesem Maßstab vgl. EuGH, U.v. 8.12.2011 – C-371/08, Ziebell – juris Rn. 82ff.), handelt es sich um eine Prognose, die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eigenständig zu treffen haben (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Die Indizien, die für diese Prognose heranzuziehen sind, ergeben sich nicht nur aus dem Verhalten im Strafvollzug und danach. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2000 – 9 C 6.00 – BVerwGE 112, 185, juris Rn. 14; vgl. auch BVerwG, B.v. 4.5.1990 – 1 B 82.89 – NVwZ-RR 1990, 649, juris Rn. 4). Für die Annahme einer konkreten Wiederholungsgefahr als Tatbestandsvoraussetzung einer spezialpräventiven Ausweisung genügt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der erneuten Begehung vergleichbarer (nicht gleichartiger) Straftaten durch den Ausländer. Bei besonders schweren und schädlichen Delikten sind an den Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts regelmäßig nur geringe Anforderungen zu stellen (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 10; U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18).
39
Anlass für die Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers vom 18.03.2020 zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Bei der abgeurteilten Tat handelt es sich um eine gravierende Straftat gegen das Leben und die körperliche Unversehrtheit, mithin höchst- bzw. hochrangige, durch die Verfassung geschützte Rechtsgüter.
40
aa) Auch besteht zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls und des Gewichts der bedrohten Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit eine hinreichend hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere neuerlicher Gewaltdelikte, ausgeht. Zunächst ist festzuhalten, dass der Anlasstat ein besonders verwerfliches Tatbild zugrunde liegt. Denn der Kläger setzte ausweislich der Feststellungen des rechtskräftigen Urteils des Landgerichts … vom 18.03.2020 in einem zunächst ausgeglichenen Faustkampf in einer für seinen Gegner nicht erkennbaren Weise ein besonders gefährliches Tatmittel (Einhandmesser, 8,5 cm Klingenlänge) ein und stach damit insgesamt fünfmal zu. Mit den Stichen in den Brustkorb (Lunge) sowie den Kopf des Geschädigten beging er zwei äußerst gefährliche Tathandlungen. Der Stich, der unterhalb der linken Achsel seitlich in den Brustkorb des Opfers eindrang, führte zu einer 2,5 cm breiten, sofort stark blutenden Wunde. Infolge dieses Stiches wurde die Lunge des Opfers angestochen und es bildete sich ein Pneumothorax, der im Klinikum … mittels einer Thorax-Drainage notversorgt werden musste. Mit dem letzten, mit heftiger Wucht geführten Stich, zielte der Kläger in Richtung des Kopfes des Opfers, wobei die Klinge des Messers bis zum Schaft ca. 8,5 cm tief im Bereich der linken Schläfe vollständig in dessen Kopf eindrang. Der Stichkanal lief knapp unterhalb des linken Auges. Das Messer durchdrang mehrere Knochen, zuletzt die Nasenscheidewand. Die Messerspitze endete im Bereich unterhalb des rechten Nasenflügels mit der Schneide direkt angrenzend an eine Kopfarterie, die nur zufällig nicht verletzt wurde. In dieser Position blieb das Messer in den Schädelknochen des Opfers so fest stecken, dass es nicht mehr herausgezogen werden konnte. Nach einer ersten Notversorgung im Klinikum … musste das Opfer in Anbetracht der Kopfverletzung mittels Rettungshubschrauber in das Uniklinikum … verlegt werden, wo das Messer in einer Notoperation entfernt werden konnte. Dabei gelang es den beiden Operateuren nicht, das Messer mit bloßer Muskelkraft herauszuziehen, vielmehr konnte es nur mittels Einsatzes von Hammer und Behelfswerkzeugen gelöst werden. Für das Opfer bestand infolge der vorgenannten Verletzungen akute Lebensgefahr. Damit lag auch eine maximale Nähe zur Tatvollendung vor. Dass es zu dieser nicht kam, war letztlich darauf zurückzuführen, dass eine zufällig vorbeikommende Polizeistreife sofort erste Hilfe leistete und einen Notruf absetzte. Der Kläger selbst verließ den Tatort, überließ das Opfer seinem Schicksal und versuchte zunächst durch Anrufe verschiedener Personen zu verhindern, dass die Polizei verständigt wird. Zu Lasten des Klägers ist hinsichtlich der Anlasstat weiter in Rechnung zu stellen, dass letztendlich eine Banalität, nämlich die Frage nach dem Ehrgefühl des Klägers, zu der gewalttätigen Auseinandersetzung führte und der Kläger das Messer während des anfangs ausgeglichenen Kampfes ausweislich der Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteils nicht etwa zog, um ernsthafte Verletzungen von sich abzuwenden, sondern aus dem niederen Motiv, als Sieger vom Platz zu gehen. Entgegen der anderslautenden Behauptung des Klägers, an der er auch im hiesigen Verhandlungstermin festhielt und damit seine noch immer unzureichende Schuldeinsicht zu erkennen gab, handelte er beim Einsatz des Messers auch nicht in einem affektiven Ausnahmezustand. Vielmehr kam die sachverständig beratene Strafkammer zu dem Ergebnis, dass der Kläger das Messer aufgrund einer freien Entscheidung zog und damit zustach. Auch lag nach den Ausführungen des psychiatrischen Gutachters weder eine relevante akute Angst- und Panikstörung noch eine sonstige psychiatrische Erkrankung vor. Festgestellt wurde lediglich das Vorliegen einer narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung, die nach den Ausführungen des Facharztes für Psychiatrie allerdings als bloßer Charakterzug des Klägers weit von einem Krankheitswert entfernt ist.
41
Zwar können die inzwischen im Bundeszentralregister getilgten Verurteilungen aus dem Jahr 2010 dem Kläger im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und zu seinen Lasten verwertet werden (§ 51 Abs. 1 BZRG). Allerdings ergibt sich auch aus dem rechtskräftigem Strafbefehl des AG … vom 27.01.2017 wegen Nötigung einer Passantin, nachdem diese einschreiten wollte, weil der Kläger seine Mutter schlug, dass der Kläger mit der hier in Rede stehenden Anlassverurteilung nicht erstmals gewalttätig in Erscheinung trat, es sich also gerade nicht um einen einmaligen „Ausrutscher“ handelte. Dafür streiten auch die im Rahmen eines polizeilichen Aktenvermerks vom 19.06.2019 aufgeführten Erkenntnisse über das Verhalten des Klägers im Zeitraum zwischen 2014 und 2018, die überwiegend Nachstellungen des Klägers gegenüber seiner Ex-Verlobten sowie einer weiteren Ex-Freundin betrafen. Zwar ist dem Kläger zuzugeben, dass die betreffenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahren – so denn jeweils Anzeigen durch die betroffenen Frauen oder deren jeweiliges Umfeld erstattet wurden – allesamt eingestellt wurden. Allerdings handelte es sich insoweit nicht ausnahmslos um Einstellungen mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO. Vielmehr wurden die betreffenden Verfahren mehrfach aufgrund von Opportunitätsentscheidungen der Strafgerichte wegen geringer Schuld (§ 153 Abs. 2 StPO) eingestellt. Somit ist diesbezüglich weder ein hinreichender Tatverdacht beseitigt noch die Unschuld des Klägers festgestellt worden. Überdies ist hinsichtlich des Stalking-Verhaltens gegenüber seiner Ex-Verlobten in Rechnung zu stellen, dass dem Kläger zur Gefahrenabwehr zwei Platzverweise erteilt wurden und die Ex-Verlobte überdies ein gerichtliches Kontaktverbot gegen den Kläger erwirkte. Darüber hinaus ist dem vorgenannten Aktenvermerk zu entnehmen, dass der Kläger sich anlässlich der Anlasstat nicht erstmals mit einem gefährlichen Werkzeug bzw. einer Waffe in der Öffentlichkeit bewegte. So wurde er bereits am 28.06.2016 telefonierend, schreiend und mit einem langen Messer in der Hand (Küchenmesser mit 16 cm Klingenlänge) sowie einem Hammer im Hosenbund von Polizeibeamten vor dem Hotel „…“ angetroffen. Darüber hinaus wurde im Rahmen einer Durchsuchung im Jahr 2018 in der Wohnung des Klägers eine Schreckschusspistole sowie Munition sichergestellt. Zudem trug der Kläger im Zeitpunkt der polizeilichen Kontrolle wegen des Nötigungssachverhalts vom 13.10.2016 (Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 27.01.2017) ebenfalls ein mit dem Messer der Anlasstat vergleichbares Einhandmesser bei sich.
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Angesichts dessen erscheint höchst befremdlich, dass der Kläger im Termin zur mündlichen Verhandlung abermals behauptete, dass Einhandmesser in der Nacht der Anlasstat nur zufällig eingesteckt gehabt zu haben, obgleich bereits das Schwurgericht ausführte, dass es sich dabei um eine reine Schutzbehauptung des Klägers handelt und seine damalige Freundin im Rahmen ihrer Zeugenaussage ausführte, dass der Kläger ihr das Messer einige Tage vor der Tat gezeigt und ihr erklärte hatte, dass er dieses zu Eigensicherungszwecken mit sich führe. Das Einlassungsverhalten des Klägers im Rahmen der mündlichen Verhandlung belegt somit letztlich, dass er seine Fehler noch immer nicht einsieht und eine kritische Auseinandersetzung mit der von ihm begangenen schweren Straftat bislang nicht erfolgreich stattgefunden hat.
43
Dass der Kläger unter einem Aggressionsproblem leidet, hat er überdies selbst im Rahmen von Gesprächen mit der Sozialtherapeutischen Abteilung für Gewaltstraftäter der JVA … eingeräumt. Ausweislich des Führungsberichts vom 08.09.2022 hat der Kläger eigeninitiativ das Gespräch mit den Therapeuten gesucht und berichtet, schon häufiger wegen seines Temperaments in Konfliktsituationen geraten zu sein. Zwar gab er an, deswegen an sich arbeiten zu wollen. Die in der Folge begonnene Sozialtherapie musste jedoch am 13.06.2024 aufgrund des Verhaltens des Klägers abgebrochen werden. Es ist daher mitnichten so, dass das klägerische Aggressionspotential inzwischen erfolgreich therapiert worden wäre. Zwar führte er im Verhandlungstermin aus, inzwischen sozialer und erwachsener geworden zu sein und vier von fünf Modulen der Gewalttherapie erfolgreich abgeschlossen zu haben. Allerdings zeigen seine weiteren Ausführungen – respektive sein Festhalten am vorgeblichen affektiven Ausnahmezustand im Zeitpunkt des Zustechens, das nur „zufällige“ Mitsichführen des Messers sowie die Behauptung, dass der rechtskräftigen Verurteilung wegen Nötigung ein falscher Sachverhalt zugrunde gelegt worden sei –, dass sich der Kläger nach wie vor in Rechtfertigungs- und Beschönigungstendenzen verliert und das Unrecht seiner Taten noch immer nicht vollends einsieht. Dies gepaart mit dem bislang nicht erfolgreich therapierten Aggressionsproblem und der beim Kläger laut dem forensischen Gutachter bestehenden narzisstischen Persönlichkeitsakzentuierung lässt auf ein hohes Rückfallpotential im Hinblick auf Gewaltdelikte schließen.
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Für eine im Falle des Klägers bestehende Wiederholungsgefahr sprechen darüber hinaus die Führungsberichte der Justizvollzugsanstalten … vom 19.06.2024 und … vom 28.08.2024 sowie 03.09.2024. Insoweit wird ausgeführt, dass der Kläger anlässlich eines Hafturlaubs im April 2024 die Diskothek „…“, mithin den Tatort der Anlasstat, besuchte und in der Folge keine Problemeinsicht zeigte. Hinsichtlich der Ablösung des Klägers von der Gewalttherapie wird ausgeführt, dass er im Oktober 2023 romantische Gefühle gegenüber seiner Bezugstherapeutin offenbart habe, woraufhin in Rücksprache mit der sozialtherapeutischen Leitung und ausführlicher Fallbesprechung ein Therapeutenwechsel stattgefunden habe. Infolgedessen sei dem Kläger zunächst ein adäquater Umgang mit seinen Emotionen gelungen und er habe ein ausreichendes Maß an Offenheit und Selbstreflexion bezüglich der Situation aufbringen können. Letztendlich sei es ihm jedoch trotz intensiver Gruppen- und Einzelbetreuung nicht gelungen, sich tiefgreifend mit der bestehenden Problematik auseinanderzusetzen und besprochene Vereinbarungen einzuhalten. So sei er zunächst vereinzelt durch inadäquates Verhalten in Bezug auf Nähe und Distanz gegenüber der Psychologin aufgefallen. In der Folgezeit hätten sich die problematischen Gedanken des Klägers verstärkt, er habe Zusammenhänge konstruiert und Stalking-Verhalten gegenüber der Psychologin gezeigt. Am 11.06.2024 habe der Kläger schließlich geäußert, dass er die Psychologin heiraten wolle, er sie analysiert und studiert habe und wisse, dass sie ihn ebenfalls lieben würde. Auch habe er Details aus ihrem Tagesablauf genannt und ihr unterstellt, seine Lockerungsanträge aus Eifersucht zu sabotieren. Die JVA … führt weiter aus, dass es dem Kläger derzeit kaum noch möglich sei, einen Realitätsbezug herzustellen und sein problematisches Verhalten gegenüber der Psychologin zu hinterfragen. Zum Schutz der Psychologin habe er anstaltsintern verlegt werden müssen. Dies alles obgleich dem Kläger im Therapieverlauf mehrfach deutlich kommuniziert worden sei, dass erneute Annährungsversuche eine Ablösung von der therapeutischen Abteilung zur Folge haben würden. Auch die damit verbundenen geringen Erfolgsaussichten im Hinblick auf eine Bewährungsaussetzung und die drohenden ausländerrechtlichen Konsequenzen hätten den Kläger nicht davon abgehalten, sich unangebracht zu äußern und zu verhalten. Beide Justizvollzugsanstalten gehen in ihren Führungsberichten in Zusammenschau mit den Erkenntnissen aus den Ermittlungsakten sowie dem aktuell einschlägigen Stalking-Verhalten von einem hohen Gefährdungspotential sowie einem hohen Risiko für erneute (Gewalt-)Straftaten aus, da es dem Kläger trotz zweijähriger, intensiver therapeutischer Behandlung nicht gelungen sei, problematische Verhaltens- und Denkmuster zu erkennen und nachhaltig zu verändern. Das in den Führungsberichten geschilderte Verhalten des Klägers spiegelte sich auch in seinen Einlassungen in der mündlichen Verhandlung wider. So beschrieb er die Psychologin als schwierige Person, äußerte die Vermutung, dass diese und seine Ex-Freundin sich kennen würden, zwischen der Psychologin und ihm gegenseitige Gefühle entstanden seien und seine Bezugstherapeutin seine Lockerungsanträge bewusst sabotiert habe. Überdies führte er aus, während der Haft auch im Übrigen ungerecht behandelt worden zu sein und unterstellte den Beschäftigten der Justizvollzugsanstalten eine Misshandlung von Schutzbefohlenen. Der Kläger geht davon aus, dass die Bediensteten der JVA um die Wichtigkeit des Erfolgs der Sozialtherapie für seinen weiteren Aufenthalt in Deutschland gewusst und diese daher gezielt hintertrieben hätten. Hinsichtlich des Besuchs des Tatorts im Rahmen seines ersten Hafturlaubs führte er aus, dass man ihm im Vorfeld kommuniziert habe, dass er feiern gehen und dies auch in der Diskothek „…“ tun könne. Lediglich seine Bezugstherapeutin habe damit im Nachgang ein Problem gehabt. Belege für die Ausführungen des Klägers lassen sich dem Vollstreckungsheft nicht entnehmen. Auch ist in Rechnung zu stellen, dass der Kläger bereits in der Vergangenheit mit Stalking-Verhalten auffiel. In Anbetracht des Umstands, dass er sich im Verhandlungstermin auch hinsichtlich der Anlasstat wiederholt in den o.g. Rechtfertigungs- und Beschönigungstendenzen verlor, belegen seine Einlassungen zum Therapie- und Haftverlauf eindrücklich, dass es ihm an der erforderlichen Selbstreflexion und Problemeinsicht nach wie vor fehlt.
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Soweit der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung erklärte, dass seine Gewalttherapie bereits weit vorangeschritten gewesen sei, er sich aktuell um eine Fortführung bemühe und während der Haft nie disziplinarisch auffällig geworden sei, lässt sich durch diese Ausführungen die nach wie vor bestehende Rückfallgefahr nicht ausräumen. Das Verhalten des Klägers während der Haft, ist für die Frage eines späteren straffreien Lebens in Freiheit nur bedingt aussagekräftig, da es im geschützten und kontrollierten Rahmen des Strafvollzugs, der die Möglichkeit zur Begehung von Straftaten wesentlich verringert, und unter dem Druck der gegenständlichen Ausweisung stattfand (vgl. BayVGH, B.v. 17.4.2023 – 19 CS 23.123 – juris Rn. 22). Zwar zeichneten die Führungsberichte der JVA … aus den Jahren 2022 und 2023 sowie vom 09.02.2024 noch ein weitgehend positives Bild des Klägers. Es wurde aber stets klargestellt, dass eine positive Sozialprognose vor Abschluss der sozialtherapeutischen Behandlung nicht gestellt werden könne. Noch im September 2023 wurde ausgeführt, dass die persönlichkeitsimmanenten Risikofaktoren des Klägers einer weiteren Behandlung bedürften. Zum hier maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung war die Sozialtherapie des Klägers nicht erfolgreich abgeschlossen, sondern musste aufgrund seines Verhaltens abgebrochen werden. Für die Gefahrenprognose ist auf die Verhältnisse im aktuellen Zeitpunkt abzustellen. Es ist insbesondere nicht erforderlich, mit der ausländerrechtlichen Gefahrenprognose bis zum Zeitpunkt der voraussichtlichen Haftentlassung des Klägers – nach Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung oder nach Vollstreckung der gesamten Strafe – abzuwarten. Dass sich der Kläger ohne Aussicht auf eine bevorstehende vorzeitige Entlassung in Haft befindet, schließt nicht aus, dass sein Verhalten eine gegenwärtige, ein Grundinteresse der Gesellschaft berührende Gefahr im Sinne des hier angewendeten § 53 Abs. 3 AufenthG bilden kann, weil dieser Umstand keinen Bezug zu seinem persönlichen Verhalten hat (vgl. BayVGH, B.v. 27.9.2017 – 10 ZB 16.283 – juris; B.v. 27.10.2017 – 10 ZB 17.993 – juris Rn. 16; EuGH, U.v. 13.7.2017 – C-193/16 – juris). Der Kläger hat mithin kein Recht darauf, dass die Beklagte mit der Ausweisung zuwartet, bis sich die Ziele und (ggf. positiven) Wirkungen des deutschen Strafvollzugs bei ihm manifestiert haben. Er kann nicht beanspruchen so lange therapiert zu werden, bis ihm möglicherweise eine günstige Sozialprognose gestellt werden kann (z.B. OVG Saarland, B.v. 1.4.2021 – 2 A 279/20, FSt 18/2022, S. 710 – Nr. 224; BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 23).
46
bb) Die Beklagte hat die vorliegend bestehenden Ausweisungsinteressen mit den Bleibeinteressen des Klägers rechtmäßig abgewogen. Zu Lasten des Klägers sprechen besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen, zu seinen Gunsten jedoch auch ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse. Insgesamt überwiegt im Rahmen der Abwägung das öffentliche Interesse an der Ausweisung gegenüber dem Interesse des Klägers an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet.
47
(1) Infolge der Verurteilung durch das Landgericht … vom 18.03.2020 (Az. …*) wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten bestehen beim Kläger besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a Buchst. a und b AufenthG.
48
(2) Diesen steht ein vertyptes, besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse des Klägers gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber. Denn er hält sich bereits seit seiner Geburt rechtmäßig im Bundesgebiet auf und verfügt seit März 2009 über eine Niederlassungserlaubnis.
49
(3) Ein Ausländer kann – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen – nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 – 2 BvR 304/07 – juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht; BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – juris Rn. 39). Im Falle der Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen führt § 53 Abs. 3 AufenthG nicht zu einer Verdrängung der wertenden und gewichtenden Ausweisungsbestimmungen nach §§ 53 Abs. 1, 54, 55 AufenthG; ihnen kommt auch im Rahmen des § 53 Abs. 3 AufenthG die Bedeutung von gesetzlichen Umschreibungen spezieller Interessen mit dem jeweiligen Gewicht zu (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24). Im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit der Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG ist zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation der Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 BV 13.421 – juris Rn. 77 m.w.N.). Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des EuGH für die Ausweisung von Unionsbürgern und Assoziationsberechtigten entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 27.9.2017 – 10 ZB 16.823 – juris Rn. 20; B.v. 7.3.2024 – 19 ZB 22.2263 – juris Rn. 37f.).
50
Bei der Ausweisung hier geborener bzw. als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer („faktische Inländer“) ist der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Im Hinblick auf den Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet seit seiner Geburt und seiner insoweit geltend gemachten Stellung als „faktischer Inländer“ ist zu berücksichtigen, dass die Bezeichnung eines Ausländers als „faktischer Inländer“ nicht davon entbindet, die im jeweiligen Einzelfall gegebenen Merkmale der Verwurzelung zu prüfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht auch für sogenannte „faktische Inländer“ kein generelles Ausweisungsverbot (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn .19; B.v. 25.8.2020 – 2 BvR 640/20 – juris Rn. 24). Auch nach der Rechtsprechung des EGMR bietet Art. 8 EMRK bei sogenannten „Zuwanderern der zweiten Generation“ keinen absoluten Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung (vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 „Üner“ – juris Rn. 54; BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 28). Im Rahmen der Ermittlung der privaten Belange ist in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bindungen können Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht von Bedeutung sein, der rechtliche Status, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, der Grund für die Dauer des Aufenthalts und Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Bindungen des Ausländers im Inland sind in Beziehung zu setzen zu den (noch vorhandenen) Bindungen an seinen Heimatstaat. Hierzu gehört die Prüfung, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Lebensalters, seiner persönlichen Befähigung und seiner familiären Anbindung im Heimatland von dem Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft entwurzelt ist (BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 29).
51
Zwar bestehen auf Seiten des Klägers neben dem o.g. vertypten besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse zahlreiche weitere, unvertypte Bleibeinteressen. So ist in die Abwägung insbesondere einzustellen, dass der Kläger im Bundesgebiet einen qualifizierenden Schulabschluss erlangt hat, hier vor seiner Inhaftierung berufstätig war – wenn auch für häufig wechselnde Arbeitgeber, kurzfristig und in mehreren (teils unverschuldet) abgebrochenen Ausbildungsverhältnissen – und während der Strafhaft eine Berufsausbildung zum … erfolgreich abgeschlossen hat. Auch gab er an, bereits jetzt über zahlreiche Arbeitsplatzangebote örtlicher … nach seiner Haftentlassung zu verfügen. Darüber hinaus erklärte der Kläger im Verhandlungstermin, zuletzt vor etwa zehn Jahren in der Türkei gewesen zu sein und das Land lediglich als Urlauber zu kennen. Er unterhalte keinen Kontakt zu seinen dort lebenden Halbgeschwistern und könne einen solchen auch nicht über seine Mutter herstellen, da deren in der Türkei lebende Kinder adoptiert worden seien und sie ihrerseits nicht in Kontakt zu ihnen stehe. Zudem lebt die Kernfamilie des Klägers, insbesondere seine pflegebedürftige Mutter sowie seine Schwester, in Deutschland.
52
Bei der Abwägung ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Kläger in Deutschland geboren ist und sein ganzes bisheriges Leben hier verbracht hat. Hinzu treten sein Recht auf Privatleben (Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 8 Abs. 1 EMRK) sowie ein Anspruch auf Achtung seiner familiären Bindungen nach Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG. Das Gewicht dieser Umstände ist, soweit es nicht schon über § 55 AufenthG erfasst wird, aus § 53 Abs. 2 AufenthG und den verfassungs- und konventionsrechtlichen Wertungen mit Blick auf die Folgen der Ausweisung auf diese Umstände zu ermitteln. Wegen der bestehenden beachtlichen Gefahr weiterer Straftaten und dem damit verbundenen konkreten öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung führt jedoch insbesondere weder der Umstand, dass der Kläger in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, noch der Umstand, dass seine Familie, vor allem die Mutter sowie aktuell noch die Schwester, in Deutschland leben, dazu, dass das Bleibeinteresse das Ausweisungsinteresse überwiegt. Art. 6 Abs. 1 GG gewährt nicht von vornherein einen Schutz vor Ausweisung, sondern verpflichtet dazu, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – NVwZ 2013, 1207, Rn. 12). Die Beziehung zwischen Eltern und volljährigen Kindern und sonstigen erwachsenen Angehörigen ist in ihrem verfassungsrechtlichen Kern nicht auf eine Lebens- oder Haushaltsgemeinschaft, sondern in aller Regel auf eine Begegnungsgemeinschaft angelegt und kann deshalb regelmäßig durch wiederholte Besuche oder Brief- und Telefonkontakte aufrechterhalten werden (vgl. BVerfG, B.v. 18.04.1989 – 2 BvR 1169/84 – juris Rn. 42, 44). Zudem besteht die – bezüglich der Mutter angesichts der von Klägerseite geltend gemachten Pflegebedürftigkeit eingeschränkte – Möglichkeit von Besuchen der Familie in der Türkei und die Möglichkeit, dem Kläger Betretenserlaubnisse für das Bundesgebiet nach § 11 Abs. 8 AufenthG zu besonderen Anlässen zu erteilen. Selbst im Falle des Bestehens einer schützenswerten familiären Beziehung ist insbesondere bei besonders schweren Straftaten eine Aufenthaltsbeendigung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 – 1 B 22/10 – juris Rn. 4).
53
Da der Kläger vor seiner Inhaftierung trotz seines damaligen Alters von 26 Jahren noch nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügte und kurzfristigen Tätigkeiten bei wechselnden Arbeitgebers nachging sowie angesichts des Umstands, dass er auf dem freien Arbeitsmarkt noch keiner Beschäftigung als … nachgehen konnte, kann von einer gefestigten wirtschaftlichen Integration in die deutschen Lebensverhältnisse nicht ausgegangen werden. Seine soziale und gesellschaftliche Integration erweist sich bereits aufgrund der Anlassverurteilung, der Vorstrafe wegen Nötigung (Strafbefehl v. 27.01.2017), des übergriffigen polizeilichen Inerscheinungtretens in den Jahren 2014 bis 2018 sowie des neuerlichen Stalking-Verhaltens gegenüber seiner Bezugspsychologin in der Sozialtherapie als defizitär. Selbst wenn man davon ausgeht, dass es sich beim Kläger um einen sog. faktischen Inländer handelt, führt dies nicht zum Überwiegen seiner Bleibeinteressen. Denn zu seinen Lasten sind insbesondere die von ihm begangenen Straftaten zu berücksichtigen. Vor allem die massive Straffälligkeit, die der Anlassverurteilung zugrunde liegt, führt angesichts der fortbestehenden Wiederholungsgefahr zum Überwiegen der Ausweisungsinteressen. Denn den Bleibeinteressen stehen die hochrangigen Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Integrität von Personen gegenüber, denen im Wiederholungsfall Angriffe des Klägers drohen.
54
Gegen eine Entwurzelung des Klägers aus den türkischen Verhältnissen spricht, dass er – eingedenk des Umstands, dass er zweisprachig aufwuchs – über sehr gute türkische Sprachkenntnisse verfügt. Angesichts seiner türkischen Eltern und der Tatsache, dass er als Urlauber Zeit in der Türkei verbracht und dort Verwandte hat, ist davon auszugehen, dass ihm die dortigen Lebensverhältnisse nicht vollkommen fremd sind. Es ist zwar nach dem Vortrag des Klägers fraglich, inwieweit er in der Türkei Hilfe von dort lebenden Verwandten erlangen könnte. Ebenso wenig ist allerdings ersichtlich, dass der Kläger auf besondere Hilfe angewiesen wäre. Selbst wenn der erwachsene Kläger in der Türkei nicht mit der Unterstützung von Verwandten rechnen könnte, würde dies für sich genommen keine unzumutbare Härte begründen (vgl. BayVGH, B.v. 19.1.2015 – 10 CS 14.2656, 10 C 14.2657 – juris Rn. 28; B.v. 7.2.2008 – 10 ZB 07.1993 – BeckRS 2008, 27508). Zur Überzeugung des Gerichts ist er durchaus in der Lage, sich in die Lebensverhältnisse in der Türkei zu integrieren und sich dort eine Existenz aufzubauen, wobei ihm auch seine nunmehr erfolgreich abgeschlossene …ausbildung von Nutzen sein dürfte.
55
Auch der insbesondere in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Wunsch des Klägers, nach seiner Haftentlassung seine pflegebedürftige Mutter zu betreuen, führt nicht zu einem Überwiegen der Bleibeinteressen. Zwar kann es unter Berücksichtigung des Art. 6 Abs. 1 GG nicht allein darauf ankommen, dass die Pflegeleistungen des Familienmitglieds auch von einem Pflegedienstleister erbracht werden könnten (VGH BW, B.v. 28.3.2019 – 11 S 623/19 – BeckRS 2019, 5311 Rn. 13). Auch daraus resultiert aber kein unüberwindliches Ausweisungsverbot. Bei Abwägung der widerstreitenden Interessen ist deshalb zu berücksichtigen, dass die Mutter des Klägers derzeit und überdies seit der Inhaftierung des Klägers im April 2019 anderweitig versorgt ist. Soweit der Kläger geltend macht, dass seine Schwester vor kurzem einen … geheiratet habe und beabsichtige nach … zu ziehen, stellt sich die Frage, wie die Pflege der Mutter sodann organisiert wird, da das voraussichtliche Haftzeitende des Klägers derzeit auf den 19.10.2026 datiert, so dass er kurzsowie mittelfristig nicht als Pflegeperson zur Verfügung steht und ohnehin eine anderweitige Versorgung der Mutter einzurichten ist.
56
Nach alledem überwiegt unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Klägers seine Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet und macht seine Ausweisung unerlässlich.
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2. Die unter Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides erfolgte Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.
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Gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist oder gegen den eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erlassen wurde, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird gemäß § 11 Abs. 3 AufenthG nach Ermessen entschieden; sie darf außer in den Fällen der Abs. 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten. Im Falle der Ausweisung infolge einer strafrechtlichen Verurteilung oder einer vom Ausländer ausgehenden schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit lässt § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG die Überschreitung des Fristrahmens des § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG bis zu einer (grundsätzlichen) Höchstfrist von zehn Jahren zu. Innerhalb des gesetzlich eröffneten Fristrahmens muss die Ausländerbehörde bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie unions- und konventionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 7 GrC und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 27/16 – juris Rn. 23; U.v. 16.2.2022 – 1 C 6/21 – juris Rn. 58).
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Nach diesen Maßstäben ist die behördliche Befristungsentscheidung nicht zu beanstanden. Unter Berücksichtigung der oben bereits ausführlich gewürdigten massiven Straffälligkeit des Klägers im Zusammenhang mit der Anlasstat, seines schon zuvor auch in der Öffentlichkeit gezeigten Aggressionspotentials, welches insbesondere in der Vorverurteilung wegen Nötigung und des Nachstellungsverhaltens gegenüber zwei Ex-Freundinnen zum Ausdruck gebracht wurde sowie der verhaltensbedingt (abermaliges Stalking) abgebrochenen Sozialtherapie für Gewaltstraftäter, erweist sich die Frist von sieben Jahren trotz des langen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet, seiner Erwerbsbiographie und seiner hier aufenthaltsberechtigten Familienmitglieder angesichts des in hohem Umfang bestehenden spezialpräventiven Ausweisungsinteresses als verhältnismäßig. Es ist nicht ersichtlich, dass die beim Kläger bestehende Gewaltbereitschaft, die er zu Beginn seiner Sozialtherapie selbst einräumte, durch Zeitablauf einer nachhaltigen Wandelbarkeit unterliegt. Dies hat der Kläger nicht zuletzt durch seine rechtfertigenden und beschönigenden Ausführungen in der mündlichen Verhandlung unter Beweis gestellt. So sah er hinsichtlich der gescheiterten Sozialtherapie keine Verantwortung bei sich selbst und versuchte überdies die Feststellungen des rechtskräftigen Urteils des Landgerichts … in Zweifel zu ziehen, indem er wiederum auf einen affektiven Ausnahmezustand im Tatzeitpunkt verwies und abermals behauptete, das Messer zum Tatzeitpunkt lediglich zufällig – und nicht bewusst – mit sich geführt zu haben. Angesichts seines Alters von nunmehr 32 Jahren, seiner defizitären Schuld- und Therapieeinsicht und des ihm seitens der Justizvollzugsanstalten attestierten hohen Rückfallrisikos im Gewaltbereich, durfte die Beklagte die zur Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist von zehn Jahren in einem ersten Schritt sehr weit ausschöpfen. Sodann wurden die mit seiner Ausweisung einhergehenden Folgen für seine private Lebensgestaltung und seine familiären Bindungen hinsichtlich der hier aufenthaltsberechtigten Kernfamilienmitglieder in einem zweiten Schritt zutreffend relativiert. Zwar führt die gewählte Frist von sieben Jahren dazu, dass der Kläger auch nach seiner Haftentlassung nicht für die Pflege seiner Mutter zur Verfügung steht. In Rechnung zu stellen ist jedoch, dass der Kläger bereits seit über fünf Jahren infolge seiner Inhaftierung keine Unterstützungsleistungen im Alltag erbringen konnte und überdies nicht ersichtlich oder dargetan ist, weshalb es der türkischen Mutter des Klägers nicht möglich und zumutbar sein sollte, sich gemeinsam mit ihrem Sohn in der Türkei niederzulassen.
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3. Darüber hinaus erweisen sich auch die Anordnung bzw. Androhung der Abschiebung als rechtmäßig. Die Abschiebungsandrohung bzw. Anordnung der Abschiebung aus der Haft kann sich in rechtlich zulässiger Weise auf § 59 Abs. 1 und Abs. 5 AufenthG stützen (vgl. VG Bayreuth, B.v. 28.3.2023 – B 6 S 23.206 – juris Rn. 68; BayVGH, B.v. 25.10.2022 – 19 CS 22.1755 – juris Rn. 1 u. 39; VG Ansbach, U.v. 27.11.2019 – AN 5 K 18.01356 – juris Rn. 19 u. 46; B.v. 09.11.2020 – AN 5 S 20.1515 – BeckRS 2020, 47522 Rn. 9 u. 57; VG Augsburg, U.v. 29.01.2020 – Au 6 K 19.1083 – juris Rn. 24 u. 122). Die Voraussetzungen für den Erlass der Abschiebungsandrohung i.S.v. § 59 AufenthG sind erfüllt (vgl. insbesondere § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG), wobei es hier gemäß §§ 59 Abs. 5 Satz 1, 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG keiner Fristsetzung bedarf. Der Kläger wird grundsätzlich aus der Haft abgeschoben. An der Vereinbarkeit des § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG mit Unionsrecht bestehen hier keine durchgreifenden Zweifel, da der Kläger aus spezialpräventiven Gründen aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 15.4.2021 – OVG 3 S 22/21 – BeckRS 2021, 8162 Rn. 4; U.v. 27.2.2018 – OVG 3 B 11.16 – juris Rn. 60; OVG NW, B.v. 8.5.2019 – 18 B 176/19 – juris Rn. 28; VGH BW, U.v. 29.3.2017 – 11 S 2029/16 – juris Rn. 90ff.).
II.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO. Wegen der allenfalls geringen Höhe der durch die Beklagte vorläufig vollstreckbaren Kosten ist die Einräumung von Vollstreckungsschutz nicht angezeigt.