Titel:
Russische Föderation, Rechtsanwalt für Menschenrechte, oppositionelle Betätigung, glaubhaftes Vorfluchtschicksal
Normenkette:
AsylG § 3
Leitsatz:
Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht, wenn einem Ausländer bei hypothetischer Rückkehr in sein Herkunftsland aufgrund seiner politischen Überzeugung und individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen. (Rn. 52-74)
Schlagworte:
Russische Föderation, Rechtsanwalt für Menschenrechte, oppositionelle Betätigung, glaubhaftes Vorfluchtschicksal
Fundstelle:
BeckRS 2024, 47375
Tenor
1. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 27.07.2023 (Az. …*) verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch die Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 115 v. H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
1
Die Kläger, russische Staatsangehörige, der Kläger zu 1 nach seinen Angaben ostfinnischer Volkszugehöriger, die Klägerin zu 2 und der Kläger zu 3 eigenen Angaben zufolge ukrainische Volkszugehörige und christlichen Glaubens, reisten nach den Angaben der Kläger zu 1 und 2 am 26.06.2022 auf dem Luftweg von Spanien kommend in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 30.09.2022 Asylanträge.
2
Die persönliche Anhörung der Kläger zu 1 und 2 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) erfolgte am 28.11.2022 bzw. 05.01.2023. Sie trugen vor, dass sie ihr Heimatland am 28.05. oder 29.05.2022 über Belarus und Spanien verlassen hätten, da ihnen im Heimatland Verfolgung aufgrund ihrer politischen Einstellung drohe. Der Kläger zu 1 sei als Finne bereits seit Kindheitstagen gehänselt worden. Im Jahr 2004, als er Abgeordnetenkandidat gewesen sei, seien er und sein Vater zwei Mal angegriffen worden und es habe seinerzeit ein Tötungsversuch stattgefunden. Der Kläger zu 1 habe dann seine Heimatregion (Republik) Mari El verlassen, sei im Jahr 2005 zunächst nach Moskau übergesiedelt und habe sich seit dem Jahr 2010 bis zu seiner Ausreise in St. Petersburg aufgehalten und dort als Rechtsanwalt gearbeitet. Im Jahr 2019 sei sein BMW beschädigt worden, die entsprechenden Videoaufzeichnungen seien damals verschwunden. Der Anlass seines Asylgesuchs sei eine Mitteilung des Leiters seines Anwaltskollegiums (vgl. vorgelegte E-Mail). Der Kläger zu 1 habe sich zum Zeitpunkt des Erhalts (Juni 2022) bereits in Deutschland aufgehalten.
3
Am …2021 sei die Klägerin zu 2 von heimischen Polizeibeamten vor der Schule aufgegriffen worden. Sie habe auf Nachfrage die Personalien dieser Polizisten nicht in Erfahrung bringen können, sie habe diese Polizisten jedoch fotografiert (vgl. vorgelegte Screenshots). Nach telefonsicher Rücksprache seitens des Klägers zu 1 mit den Polizisten sei seine Frau nicht – wie eigentlich beabsichtigt – auf die Polizeistation mitgenommen, sondern freigelassen worden.
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Am …2021, zwischen 17.00 und 18.00 Uhr, habe es ein Attentat mit Tötungsabsicht auf den Kläger zu 1 gegeben (vgl. vorgelegte Anzeige bei der heimischen Polizei), als die Kläger zu 1 und 2 mit den beiden jüngsten Klägerinnen auf dem Nachhauseweg vom Kindergarten gewesen seien. Dabei sei keiner der beteiligten Kläger, auch nach medizinischen Untersuchungen, verletzt worden. Die Explosion habe sich ca. 50 Meter von einer Polizeistation entfernt auf offener Straße in St. Petersburg ereignet. Nachdem die Klägerin zu 2 versucht habe bei der örtlichen Polizei Anzeige zu erstatten, habe der Kläger zu 1 zusätzlich online eine Anzeige beim zuständigen Ermittlungsausschuss (bzw. Ermittlungskomitee) aufgegeben. Dieser habe mitgeteilt, dass entsprechende Ermittlungen zu der Explosion durchgeführt worden seien (vgl. vorgelegter Screenshot zu einem Briefumschlag).
5
Der Kläger zu 1 habe danach bemerkt, dass seine beruflichen E-Mail-Konten und sein WhatsApp-Account vor der Ausreise gehackt worden seien, da er zu entsprechenden Sicherheitsabfragen aufgefordert worden sei. Als der Kläger zu 1 bereits in Deutschland aufhältig gewesen sei, habe er im Zuge seines beruflichen Hintergrundes als Anwalt einen Anruf erhalten. Später habe der Kläger zu 1 erfahren, dass er von einem FSB-Beamten angerufen worden sei (vgl. Anhörungsprotokoll S. 9 oben und Mitte).
6
Der Kläger zu 1 sei im Jahr 2014 vom FSB angeworben worden. Viele Anwälte seien im Heimatland als nicht-offizielle Mitarbeiter des FSB tätig. Im Zuge seiner Anwaltstätigkeit habe der Kläger zu 1 seit dem Jahr 2015 herausgefunden, dass eine Gruppe des FSB Gelder in die EU transferieren würde. Er habe als Anwalt ca. 20 Fälle (sog. Ressonanzfälle) bearbeitet, in denen er als Anwalt auf Seiten des FSB bzw. anderer Behördenmitarbeiter gegen illegale Geschäfte, Beteiligung an illegalen Geschäften und gegen persönliche Bereicherung/Aneignung tätig gewesen sei. Manche dieser Fälle habe er vor Gericht gewonnen, andere nicht.
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Für P. sei es eine Ohrfeige, dass der Kläger zu 1 als Anwalt aus St. Petersburg geflüchtet sei. Andere im Heimatland tätige Anwälte hätten auch im Fokus des FSB gestanden. Ein Strafverfahren gegen einen im Heimatland tätigen Anwalt zu führen, sei schwieriger als gegen Nicht-Anwälte, weswegen der Kläger zu 1 bis zu seiner Ausreise nicht festgenommen worden sei. Der Kläger zu 1 sei Ende des Jahres 2021 zu einer Geldstrafe verurteilt worden, da er sich geweigert habe, Geldzahlungen an einen heimischen Pensionsfonds zu leisten. Diese Geldstrafe habe er nicht bezahlt, da diese Geldleistungen (an den Pensionsfond) gegen internationales Recht verstoßen würden. Seine Bankkonten seien dann eingefroren worden.
8
Im Gegensatz zu seiner Frau sei der Kläger zu 1 kein Anhänger N.s. Er habe am …2021, als N. nach Russland zurückgekehrt sei, an einer Demonstration teilgenommen. Seine Frau stehe auf einer Liste bzw. sei in einer Datenbank als N.-Unterstützerin erfasst. Der Kläger zu 1 habe kostenlos Demonstrationsteilnehmer vertreten, gegen die ein entsprechendes Strafverfahren bezüglich der Teilnahme an nicht-legalisierten Kundgebungen bzw. des Tragens von extremistischen Symbolen eröffnet worden sei (vgl. vorgelegter Screenshot der Klägerin zu 2 mit dem Hinweis auf die Anwaltskanzlei ihres Mannes).
9
Die Klägerin zu 2 gab ergänzend an, dass sie sich anlässlich einer Teilnahme an einer Kundgebung am …2017 als N.-Anhängerin auf dessen Website habe registrieren lassen, um seinen Wahlkampf zu unterstützen. Als N. 2021 nach Russland zurückgekehrt sei, habe sie am …2021 an einer entsprechenden Kundgebung teilgenommen. Im Frühjahr 2021 habe sie einen Drohanruf erhalten und sei beleidigt worden. Am …2022 habe sie als ukrainische Volkszugehörige an einer Antikriegsdemonstration teilgenommen. Die Kundgebungen, an denen die Klägerin zu 2 teilgenommen habe, seien allesamt nicht genehmigt gewesen. Seit dieser Zeit habe sie auch Posts auf Instagram veröffentlicht (vgl. vorgelegte Screenshots der Klägerin zu 2); dies mache sie weiterhin. Ihr Mann sei damit nicht einverstanden.
10
Am …2021 sei die Klägerin zu 2 zur Schule einbestellt worden und von den dort anwesenden Polizisten aufgefordert worden, diese zur Polizeidienststelle für entsprechende Befragungen anlässlich ihrer Teilnahmen an Kundgebungen zu begleiten. Sie habe sich geweigert, den Polizisten auf die Polizeistation zu folgen und habe ihren Mann, auch in dessen Funktion als Anwalt, angerufen. Nachdem ihr Mann mit einem Polizisten telefonisch gesprochen habe, habe die Klägerin zu 2 gehen dürfen, sei aber hinsichtlich der Fortsetzung ihrer Aktivitäten gewarnt worden. In den Abendstunden des …2021 habe sie anlässlich der Explosion drei Stunden auf der Polizeistation verbracht und eine entsprechende Anzeige wegen Mordversuchs aufgegeben.
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Der Kläger zu 3 habe im Heimatland in der Schule erzählt, dass er Ukrainer sei. Er sei daraufhin drangsaliert bzw. geschlagen worden, was er aber erst während des Aufenthalts in Deutschland bekanntgegeben habe, nachdem er im hiesigen Schulbetrieb ähnliche Schwierigkeiten bekommen habe.
12
Im … 2022 sei die Klägerin zu 2 vom heimischen Schulwesen kontaktiert worden, da das Schuljahr im Heimatland begonnen habe. Da die Klägerin zu 2 im Heimatland aufgrund ihrer Anhängerschaft zu N. als Extremistin gelte, würde ihr nunmehr der Entzug ihrer Elternrechte drohen (vgl. vorgelegte Screenshots und WhatsApp-Nachrichten seitens des heimischen Schulwesens sowie vorgelegtes Schreiben mit Hinweis auf die Erfüllung der elterlichen Pflichten).
13
Bis zur Ausreise seien die sechs Kläger in St. Petersburg wohnhaft gewesen. Der Kläger zu 1 sei dort seit dem Jahr 2012 als Rechtsanwalt in einer Kanzlei, spezialisiert auf Bürgerverfassungsrechte, bis zur Ausreise tätig gewesen. Die Klägerin zu 2 sei nach ihrem Universitätsabschluss bis zur Ausreise Hausfrau und Mutter gewesen. Zudem sei für jedes Kind monatlich umgerechnet 10 Euro Kindergeld bezahlt worden. Verwandte seien im Heimatland aufhältig.
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Bei einer Rückkehr in die Russische Föderation befürchte der Kläger zu 1, dass er im besten Fall getötet werden würde und dass er des Hochverrats beschuldigt werden würde und ihm hierfür 20 Jahre Haft drohten. Die Klägerin zu 2 befürchte, dass sie als im Heimatland bekannte N.-Anhängerin mit einer mehrjährigen Haftstrafe belangt werden könnte. Außerdem befürchte sie, dass ihr in der Russischen Föderation ihre Elternrechte entzogen werden würden. Sie würde hinsichtlich des drohenden Entzugs ihrer Elternrechte entsprechend vorgehen.
15
Alle vier Kinder seien Asthmatiker/Allergiker und hätten im Heimatland einen speziellen Kindergarten besucht. Die beiden Söhne hätten im Heimatland bis zur Ausreise die Schule besucht, die beiden Töchter den Kindergarten. Vor der Einreise nach Deutschland hätten die Kläger aufgrund der vorgetragenen Asthma-/Allergiebeschwerden ihrer Kinder Urlaub in Spanien gemacht. Der Kläger zu 2 sei nach Aussage seiner Mutter zudem psychisch belastet, er habe sich zum Zeitpunkt der Bundesamtsanhörung der Klägerin zu 2 in Deutschland nicht in psychologischer Behandlung befunden.
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Die beiden angehörten Kläger legten dem Bundesamt während ihrer Anhörungen folgende Schriftstücke vor:
- Klägerin zu 2: Screenshots auf Social Media: drei Fotos von Polzisten vom …2021, 09.24 Uhr,
- Klägerin zu 2: Screenshots auf Social Media: Hinweis auf die Anwaltstätigkeit ihres Mannes („Rechtshilfe für diejenigen, die wegen ihrer Zivilposition administrativ inhaftiert sind“),
- Kläger zu 1: Screenshot und Kommentierung eines behördlichen Briefumschlags der Hauptuntersuchungsabteilung des Untersuchungsausschusses der Russischen Föderation für die Stadt St. Petersburg vom …2021 (der Inhalt dieses Schreibens befinde sich im Heimatland),
- Screenshot von WhatsApp-Nachrichten: Nachfrage des Zentrums für psychologisch-pädagogische, medizinische und soziale Hilfe des Bezirks … zum weiteren Schulbesuch der beiden Söhne sowie weitere Erinnerungsnachricht zur anvisierten Teilnahme am Schulbesuch der beiden Söhne (unbekannten Datums),
- Schreiben der örtlichen Verwaltung der Stadt St. Petersburg vom …2022: Hinweis/Belehrung auf Durchführung eines administrativen Verfahrens, falls die beiden volljährigen Kläger ihren elterlichen Pflichten (Kinder ohne Bildung) nicht nachkommen würden,
- Screenshots der Klägerin zu 2 von/zu einer vorgeblichen N.-Demonstration vom …2021 sowie Bildergalerie auf Social Media,
- Klägerin zu 2: Anzeige bei der örtlichen Polizei in St. Petersburg vom …2021 um 18.30 Uhr; demnach sei ein Gegenstand auf die Klägerin zu 2 und ihre beiden jüngsten Kinder geworfen worden, der dann wenige Millimeter vor ihren Füßen mit Krach explodiert sei; der Kläger zu 1 habe dann in dieser Straße nach oben geschaut und zwei Mädchen aus dem 10. Stock schauend gesehen; eine Frau sei gekommen, hätte alles gesehen und die beschriebene Explosion gefilmt; die Klägerin zu 2 hätte um die Aufnahme von Ermittlungen wegen versuchten Mordes gebeten,
- E-Mail eines Rechtsanwalts an den Kläger zu 1 vom …2022 (als inoffizielle Übersetzung): Der E-Mail-Absender habe insoweit bestätigt, dass der Kläger zu 1 als Anwalt arbeite und diese Rechtsanwaltskanzlei mit einer Menschenrechtsorganisation namens OVD zusammenarbeite. Außerdem hätten sich zwei FSB-Beamte bei dieser Rechtsanwaltskanzlei (vor Ort) am …2022 zum Verbleib des Klägers zu 1 erkundigt und, ob dieser Verwandtschaft in Estland habe und
- ärztlicher Befundbericht des Medizinischen Dienstes der … vom 19.07.2022 betreffend den Kläger zu 3.
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Mit Bescheid vom 27.07.2023 lehnte das Bundesamt die Anträge der Kläger auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) und Anerkennung als Asylberechtigte ab (Ziffer 2). Der subsidiäre Schutzstatus wurde nicht zuerkannt (Ziffer 3). Darüber hinaus wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Den Klägern wurde unter Gewährung einer Ausreisefrist von 30 Tagen ab Unanfechtbarkeit des Bescheids die Abschiebung in die Russische Föderation oder in einen anderen Staat, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
18
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte nicht vorliegen würden. Anlässlich ihres Europaurlaubs hätten sich die Kläger erst im Zuge des Erhalts der E-Mail des Leiters des Anwaltskollegiums an den Kläger zu 1 für das vorliegende Asylgesuch entschieden. Die längst vergangenen, vom Kläger zu 1 vorgetragenen Repressalien im Zusammenhang mit seiner Abstammung (Ostfinne, Mari) führten nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Gleiches gelte für die Klägerin zu 2 sowie den Kläger zu 3, die sich auf ihre ukrainische Herkunft beriefen. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnislage würden sich trotz bestehender Ressentiments und einzelner erfolgter Übergriffe gegenüber Personen ostfinnischer oder auch ukrainischer Herkunft keine ausreichenden Anhaltspunkte für staatliche oder nichtstaatliche Übergriffe auf Ostfinnen bzw. Ukrainer mit der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Intensität ergeben. Die Russische Föderation ermögliche jedenfalls aufgrund der Größe ihres Staatsterritoriums und der ethnischen Vielfalt demjenigen, der sich wegen seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit diskriminiert oder verfolgt fühle, die Niederlassung in anderen Landesteilen. Dies habe der Kläger zu 1 bereits lange Zeit vor seiner Ausreise in Anspruch genommen, indem er seine ursprüngliche Herkunftsregion (Republik Mari El) zunächst Richtung Moskau und dann gen St. Petersburg verlassen habe und sich in letztgenannter Stadt nicht nur habe problemlos aufhalten, sondern seiner langjährigen Erwerbstätigkeit als Rechtsanwalt bis zur Ausreise habe nachgehen können.
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Weder hätten die vom Kläger zu 1 vorgebrachten Ereignisse/Vorfälle (Tötungsversuch im Jahr 2004/2005, Anwerbungsversuche seitens des FSB anno 2014/2015, Anwaltstätigkeit bei sog. Ressonanzfällen) noch die am …2021 dargelegte Explosion in St. Petersburg unmittelbar zur Ausreise geführt. Auch die von der Klägerin zu 2 dargelegten, mehrmaligen Teilnahmen an nicht-genehmigten Kundgebungen seit 2017, zuletzt am …2022, hätten keine negativen Konsequenzen gegenüber ihrer Person nach sich gezogen, obgleich die Unterstützung der Organisation von A. N. strafbewehrt sei. Dass mitten in St. Petersburg in den Abendstunden, ca. 50 Meter von einer Polizeistation entfernt, ein von beiden angehörten Klägern dargelegter Attentatsversuch mit beabsichtigter Todesfolge stattgefunden haben solle, sei nicht nachvollziehbar. Weder sei bei dieser Explosion auf offener Straße einer der beteiligten Kläger überhaupt zu Schaden gekommen noch sei unter Berücksichtigung ihrer Darlegungen ein zielgerichtetes „Attentat“ ersichtlich geworden. Nach übereinstimmenden Aussagen der Kläger zu 1 und 2 hätten die zuständigen Behörden, insbesondere nach Anzeige des Klägers zu 1 beim sog. Ermittlungskomitee, Ermittlungen aufgenommen. Dass gegen den Kläger zu 1 ein Vollstreckungsverfahren initiiert sowie ein Ausreiseverbot erlassen worden sein solle, könne allein angesichts der von ihm nicht bezahlten Geldstrafe aus dem Jahr 2021 nachvollzogen werden. Dass sich die Klägerin zu 2 ihrer anvisierten einmaligen polizeilichen Vernehmung vor der geschilderten Explosion am Tag des …2021 allein durch ein Telefongespräch zwischen ihrem Mann und einem Polizisten habe entziehen können, lasse ebenfalls keine zielgerichtete und nachdrückliche Nachstellung gegenüber ihrer Person erkennen, obwohl sie sich seit Jahren an nicht-genehmigten Kundgebungen beteiligt haben wolle und den heimischen Sicherheitsbehörden ihre Unterstützung für N. und dessen Anliegen bekannt gewesen sein solle. In der Gesamtschau und unter Berücksichtigung ihres Vorbringens habe gegenüber den Klägern vor ihrer Ausreise weder eine zielgerichtete noch eine diskriminierende Nachstellung gemäß § 3a AsylG im Heimatland stattgefunden. Was sich an dieser Situation im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation ändern sollte, sei ebenfalls nicht ersichtlich. Dass die heimischen Schulbehörden bei schulpflichtigen, aber bereits seit längerer Zeit ortsabwesenden Kindern ihrer Pflicht zur Aufklärung der Abwesenheit vom heimischen Schul- bzw. Bildungsbetrieb nachkämen, sei weder verwunderlich noch als schwerwiegende Menschenrechtsverletzung anzusehen. Angesichts des von der Klägerin zu 2 vorgebrachten drohenden Entzugs der Elternrechte lägen für die Initiierung eines entsprechenden administrativen Verfahrens keine belastbaren Anhaltspunkte vor. Überdies könnten aberkannte Elternrechte im Heimatland auch wiederhergestellt werden.
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Die beiden volljährigen Kläger seien – abgesehen von der vorgetragenen, aber nicht bezahlten Geldstrafe des Klägers zu 1 – bislang im Heimatland weder strafrechtlich in Erscheinung getreten noch von den heimischen Ermittlungs- und Justizbehörden belangt worden. Es fehle somit an einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a AsylG. Auch sei derartiges nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Falle einer Rückkehr der Kläger zu erwarten.
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Darüber hinaus lägen auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nicht vor. Die Kläger seien unbehelligt aus Russland ausgereist. Weder seien die beiden angehörten Kläger strafrechtlich in Erscheinung getreten noch seien sie dem heimischen Justizsystem willkürlich zugeführt worden. Der Kläger zu 1 habe bis zur Ausreise als Anwalt gearbeitet, die Klägerin zu 2 habe sich seit September 2021 um die Familie gekümmert, die vier minderjährigen Kläger hätten den Kindergarten bzw. die Schule besucht. Der Kläger zu 1 wolle sich bereits im Jahr 2021 erfolgreich gegen ein gegen ihn verhängtes anlassbezogenes Ausreiseverbot nach Estland gewehrt haben. Nachdem sodann ein allgemeines Ausreiseverbot gegen ihn verhängt worden sein solle, wolle er im August 2021 dennoch nach Ungarn gereist sein. Auch beim Grenzübertritt nach Belarus solle es aufgrund eines Feiertages keine Probleme mit den russischen Grenzern bei der Ausreise gegeben haben. Die seitens des Klägers zu 1 dargelegte, nicht bezahlte Geldstrafe stelle vorliegend keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG dar. Die heimischen Sicherheitsbehörden hätten bezüglich der vorgetragenen und von beiden Klägern bei den heimischen Sicherheitsorganen angezeigten Explosion vom …2021 in St. Petersburg tatsächlich entsprechende Ermittlungen aufgenommen. Dass sich diese Ermittlungen hinziehen könnten, sei nachvollziehbar. Der Kläger zu 1 habe im Jahr 2014 einen von ihm beschriebenen Anwerbeversuch des FSB freundlich aber bestimmt ausschlagen können. Er unterstütze im Gegensatz zu seiner Frau nicht N.. Dass die Klägerin zu 2 ab dem Jahr 2017 mehrfach bis zur Ausreise und ohne Probleme an N.- und weiteren nicht-genehmigten Kundgebungen habe teilnehmen können und seit Jahren auf der Unterstützerliste für N. stehen wolle, jedoch gleichwohl keine negativen Konsequenzen habe erfahren müssen, zeige, dass die heimischen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden kein wirkliches Nachstellungsinteresse ihr gegenüber gezeigt hätten. Die vorgetragene, einmalige direkte Konfrontation mit der örtlichen Polizei am …2021 (vor der vorgetragenen Explosion in den Abendstunden) habe mittels eines einfachen Telefonats seitens des Klägers zu 1 gelöst werden können.
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Abschiebungsverbote seien ebenfalls nicht ersichtlich.
23
Der Bescheid vom 27.07.2023 wurde den Klägern zu 1 und 2 am 02.08.2023 per Postzustellungsurkunde zugestellt.
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Mit Schriftsatz ihres vormaligen Prozessbevollmächtigten vom 05.08.2023, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Bayreuth am 08.08.2023 eingegangen, haben die Kläger Klage erhoben und beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 27.07.2023 aufzuheben und diese zu verpflichten, ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen, hilfsweise ihnen den subsidiären Schutzstatus zu gewähren sowie weiterhin hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote vorliegen.
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Mit Schriftsatz vom 11.08.2023 beantragt das Bundesamt für die Beklagte,
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Mit Schreiben vom 31.08.2023 führt der Kläger zu 1 aus, dass die Entscheidung der Beklagten unlogisch sei. Viele Tatsachen seien verdreht worden. Die gezogenen Schlussfolgerungen seien falsch. Das Anhörungsprotokoll enthalte zahlreiche Fehler. Der Kläger zu 1 sei Volkszugehöriger der Mari und Abgeordnetenkandidat in … gewesen (Ausweis eines Kandidaten für das Kommunalparlament vom …2004, Anlage K3). Die gesamte Opposition habe aus Mari bestanden. Da die Republik klein gewesen sei, habe es nicht viele Oppositionsführer gegeben. Alle hätten sich untereinander gekannt. Die einzigen Forderungen seien die Gleichberechtigung mit den Russen sowie die Einhaltung der Verfassung und der lokalen Gesetze gewesen. Die politisch aktiven Mari seien lange Zeit brutal und systematisch verfolgt worden. Es seien außergerichtliche Hinrichtungen organisiert worden. Auf das Leben des Klägers zu 1 und seines Vaters seien zwei Anschläge verübt worden, die der Kläger zu 1 nur durch Zufall überlebt habe. Der Kläger zu 1 habe eine Kopfverletzung (Schädelhirntrauma und mehr) davongetragen und leide deshalb unter häufigen starken Kopfschmerzen, wiederkehrenden Albträumen, Angstzuständen und Depressionen. Der Kläger zu 1 sei eingeschüchtert, am Wahlkampf und an der Arbeit gehindert worden und vieles mehr. Die russischen Behörden hätten den Kläger zu 1 und andere nationale Führer der Mari zu Agenten estnischer, finnischer und anderer westlicher Geheimdienste erklärt. Dies sei eine effektive Technik der russischen Behörden. Viele Jahre später sei sie auf N. angewendet worden, der zu einem Agenten des Außenministeriums der USA erklärt worden sei. Aus Angst um sein Leben sei der Kläger zu 1 nach Moskau und dann nach St. Petersburg geflohen. Dank der Oppositionsführer und Freunde des Klägers zu 1 in Estland und Finnland seien die Ereignisse den Mitgliedern des Europäischen Parlaments bekannt geworden. Es sei daher eine Resolution beschlossen worden, in welcher das Vorgehen der russischen Behörden im Zusammenhang mit den brutalen Angriffen auf Journalisten, die über den Kläger zu 1 und andere Führer der Mari berichtet hätten, verurteilt worden sei (https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-6-2005-0185_DE.html, Anlage K5). In der Folge hätten die russischen Behörden die Repressionen verschärft, jegliche Opposition zerschlagen, die unabhängige Presse zerstört und die Verbindungen der Opposition nach Estland, Finnland und in andere Länder unterbunden. Was derzeit in ganz Russland geschehe (Zerstörung der Presse und der Rechte des Volks) sei von P. zu Beginn seiner Herrschaft in der Heimat des Klägers zu 1, der Republik Mari El, praktiziert worden und habe jetzt noch schlimmere Formen angenommen. Die Zahl der Mari habe nach der offiziellen Volkszählung 604.298 (2002), 547.605 (2010), 423.803 (2021) betragen, d.h. während der Herrschaft P.s sei die Zahl der Mari in nur 19 Jahren um 180.495 Personen/30% zurückgegangen, was einem absoluten Weltrekord für das Verschwinden einer Ethnie im Vergleich zu anderen Völkern darstelle und ein Beweis für die unerbittliche Ausrottung des Volkes der Mari sei (Anlage K6). Aktuell treibe P. die nationalen Minderheiten in den Krieg mit der Ukraine und vernichte die finno-ugrischen Völker Russlands. Tatsächlich finde ein Völkermord am Volk der Mari statt. Bis heute sei diese Verfolgung des Klägers zu 1 als einem der überlebenden nationalen Führer der Mari nicht gestoppt worden. Ein Beleg dafür sei die Nichtzulassung des Klägers zu 1 zum Kongress der finno-ugrischen Völker, der 2021 in Estland stattgefunden habe (vgl. Einladung zum VIII. Kongress der finno-ugrischen Völker, Anlage K7). Im Gegensatz dazu habe der Kläger zu 1 im August 2021 Ungarn, ein dem P.-Regime freundlich gesinntes Land, besuchen dürfen. Daher sei die Behauptung der Beklagten, dass es dem Kläger zu 1 gelungen sei, das Einreiseverbot aufzuheben, falsch. Das Ziel, den Kläger zu 1 an der Reise nach Estland zu hindern, sei von den russischen Behörden erreicht worden. Danach sei ein allgemeines Ausreiseverbot gegen den Kläger zu 1 verhängt worden, das noch immer in Kraft sei. Ein solches Verbot sei nach der Rechtsprechung des EGMR rechtswidrig. Das Verbot diene allein dazu, den Kläger zu 1 und seine Familie als Geiseln zu halten und stelle daher eine rechtswidrige Schikane dar.
27
Im Jahr 2012 sei der Kläger zu 1 als Rechtsanwalt zugelassen worden (Rechtsanwaltsausweis, Anlage K8). Der Kläger zu 1 habe niemandem erzählt, dass er der Volksgruppe der Mari angehöre. Bereits im Jahr 2014 sei der Kläger zu 1 Opfer einer von den Behörden organisierten Provokation geworden. Dies sei erst deutlich geworden, nachdem der Kläger zu 1 unter dem …2014 eine Strafanzeige eingereicht habe. Eine Woche später seien zwei FSB-Beamte unter dem Vorwand einer Untersuchung zum Kläger zu 1 gekommen und hätten versucht, ihn unter Druck zu setzen und zu rekrutieren. Der Kläger zu 1 habe den Druck- und Anwerbeversuch kategorisch und unmissverständlich zurückgewiesen. Er habe zudem eine schriftliche Antwort auf seine Strafanzeige verlangt. Nach einiger Zeit habe der Kläger zu 1 eine Antwort, die nicht im Einklang mit dem Gesetz gestanden habe, erhalten. Es habe sich um eine Verhöhnung des Klägers zu 1 und des Gesetzes gehandelt. Die Beklagte habe auch die Bedeutung der Äußerung des Klägers zu 1 in Bezug auf die Tatsache, dass einige ehemalige FSB- und MVD-Offiziere nach ihrer Pensionierung als Rechtsanwälte tätig würden, während sie gleichzeitig Verbindungen zum FSB und MVD aufrechterhielten, völlig verdreht. In Russland gebe es dazu ein Sprichwort: „Es gibt keine ehemaligen FSB- und MVD-Offiziere.“. Ziel der Sicherheitsbeamten in Russland sei die Bereicherung/Aneignung von Besitztümern. N. und er seien gegen Korruption. Infolge der geschilderten Explosion vom …2021 hätten die Kläger jedenfalls einen Schock erlitten, weshalb sie anschließend medizinisch-psychologisch betreut und medikamentös hätten behandelt werden müssen, was seitens der Beklagten verschwiegen worden sei. Auch sei die Behauptung der Beklagten, dass der Ermittlungsausschuss die Strafanzeige schriftlich positiv beantwortet habe, falsch. Tatsächlich seien keine weiteren Ermittlungen durchgeführt worden.
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Auch hinsichtlich des Schreibens der Verwaltung des … Bezirks von St. Petersburg über den Entzug der elterlichen Rechte verdrehe die Beklagte den Sinn und missverstehe das Wesentliche. Im Schreiben vom …2022 heiße es, dass Empfehlungen (Informationen) vom Subjekt des Systems zur Verbeugung der Vernachlässigung von Kindern und der Jugendkriminalität, d.h. seitens der Polizei, eingegangen seien, dass die Kläger sich nicht um die Erziehung ihrer Kinder kümmerten (die Kinder erhielten keine Ausbildung) und es sei vorgeschlagen worden, den Behördenvertreter zu kontaktieren oder persönlich zu erscheinen, andernfalls würden die Kläger zu 1 und 2 administrativ zur Verantwortung gezogen und ihrer elterlichen Rechte beraubt. Bei der Prüfung des Dokuments hätte das Bundesamt berücksichtigen müssen, dass der Schule bekannt gewesen sei, dass die Kläger St. Petersburg verlassen hätten. Die Schule habe auch gewusst, dass die Kläger der Ausbildung ihrer Kinder besondere Aufmerksamkeit gewidmet und die Kinder somit weiter gelernt hätten. Zudem falle die Ausbildung in die Zuständigkeit der Vormundschafts- und Sorgerechtsbehörde und nicht in die Zuständigkeit des Innenministeriums der Russischen Föderation. Das Schreiben sei rechtswidrig, da die … Bezirksverwaltung nicht befugt sei, derartige Entscheidungen zu treffen. Auch Art. 69 des Familiengesetzbuches der Russischen Föderation sehe eine solche Begründung nicht vor (Art. 69 des Familiengesetzbuches der RF, Anlage K10). Dieses Schreiben hätte darauf abgezielt, die Adresse der Kläger zu ermitteln und die Kläger zu zwingen, bei der Verwaltung des … Bezirks von St. Petersburg zu erscheinen, wo die Kläger verhaftet hätten werden sollen. In diesem Fall hätten die russischen Behörden die Kinder beschlagnahmt. Dies entspreche der typischen Vorgehensweise russischer Behörden mit Oppositionellen. Im Rahmen der Anhörung habe die Klägerin zu 2 dem Bundesamt eine Ladung für den Kläger zu 1 in einer anderen Sache übergeben. Dies sei von Beklagtenseite nicht berücksichtigt worden. Die Beklagte habe es überdies versäumt, den plötzlichen Tod eines Anwaltskollegen am …2021 zu bewerten, dem der Kläger zu 1 in einem hochkarätigen Fall assistiert habe. Die Beklagte habe den Zeitungsartikel über die Ermittlungen nicht akzeptiert. Die Behauptung der Beklagten über die problemlose Ausreise sei frei erfunden. Die finnischen Visa der Kläger zu 2 bis 6 seien erst kurz vor der Ausreise erteilt worden, so dass die Kläger nicht früher hätten ausreisen können. Auch die Behauptung der Beklagten, dass die vorgetragenen Ereignisse nicht zur Ausreise geführt hätten, sei falsch. Die russischen Behörden hätten keine Kenntnis von den Visa der Kläger zu 2 bis 6 gehabt und seien sich daher sicher gewesen, dass die Kläger – insbesondere angesichts des Reiseverbots für den Kläger zu 1 – das Land nicht hätten verlassen können. In der Akte finde sich ein Dokument, das das Ausreiseverbot bestätige. Wenn ein Verbot bestehe, sei es unmöglich, das Land zu verlassen. Daher hätten die Kläger Russland zunächst in Richtung Weißrussland verlassen, da es zwischen Weißrussland und Russland keine Grenze gebe und die Bürger dieser Länder frei in das jeweils andere Land reisen könnten. Zudem hätten die belarussischen Behörden keine gemeinsame Datei mit den russischen Behörden hinsichtlich etwaiger Ausreiseverbote. Die Entfernung von St. Petersburg nach Estland betrag 130 km und nach Finnland 200 km, während die Entfernung von St. Petersburg über Minsk nach Vilinus mehr als 1.000 km betrage. Wenn die Kläger die Möglichkeit gehabt hätten, direkt auszureisen, hätten sie die Kinder nicht mit einer derart langen und schwierigen Reise über die unangenehme weißrussische Grenze gequält. Der Kläger zu 1 habe berichtet, dass der Prozess der Flucht schwierig und langwierig gewesen sei, dass allein das Überqueren der EU-Grenze mehrere Stunden gedauert habe, dass die weißrussischen Grenzbeamten den Bus hätten umkehren wollen, dass die Hände des Klägers zu 1 gezittert hätten und er ein kleines Kind nicht hätte hochheben können und dass er mental so gestresst gewesen sei, dass er um Jahre gealtert sei. Die Beklagte habe es abgelehnt, ein Dokument des Klägers zu 1, einen Appell an die Staatsduma der Russischen Föderation für ein Amtsenthebungsverfahren gegen P., als Beweismittel anzunehmen. Jede Äußerung gegen P. sei ein schweres Vergehen und werde hart bestraft (Appell an die Staatsduma der Russischen Föderation mit Übersetzung, Anlage K11). Es gebe inzwischen zahlreiche Hinweise darauf, dass im Rahmen der eingeleiteten Strafverfahren gegen die Kläger zu 1 und 2 verdeckt operative Suchmaßnahmen durchgeführt würden. Die Maßnahmen zielten darauf ab, die Kläger wegen ihrer politischen Gesinnung, der Verteidigung von Personen gegen die russischen Behörden und ihrer Volkszugehörigkeit zu verfolgen. Darüber hinaus habe sich die Beklagte einer Bewertung in folgenden Punkten entzogen:
- das Vorhandensein von Überwachung,
- das Fotografieren von Kindern aus Autos heraus durch unbekannte Personen,
- das Abhören von Telefonen, Hacking von Messengern und E-Mails,
- Druck auf die Mandanten des Klägers zu 1,
- direkte Drohungen am Telefon,
- wiederholte Beschädigung von Autos,
- Sperrung von Konten, Verbot, das Land zu verlassen,
- Versäumnis, Vorwürfe von Straftaten zu untersuchen, ohne rechtliche Grundlage,
- den ungeklärten Tod eines gesunden Menschen, eines Anwalts und Freundes des Klägers zu 1,
- der Angriff und die schweren Schläge gegen die Mutter der Klägerin zu 2
- sowie die Misshandlung des Klägers zu 3 in den letzten Monaten vor der Flucht aus der Russischen Föderation, die zu einem sehr schweren psychologischen Trauma geführt hätte.
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Aus den vorgenannten Umständen ergebe sich eine rechtswidrige, wiederholte, schwere und gefährliche Verfolgung der Kläger, die deren Leben und Gesundheit bedroht habe.
30
Darüber hinaus habe es die Beklagte versäumt, das Risiko für den Kläger zu 1 als Rechtsanwalt zu berücksichtigen, der am stärksten der Gefahr der Strafverfolgung und des Todes ausgesetzt sei. In jüngster Zeit seien in Russland mehr als 50 Rechtsanwälte ermordet worden, mehr als 7.000 seien angegriffen und unrechtmäßig verfolgt worden. Die Prognose der Beklagten stehe zudem in Widerspruch zu den im Bescheid dargelegten Experteneinschätzungen zur Menschenrechtslage in Russland. In den Akten finde sich eine E-Mail eines Kollegen des Klägers zu 1 und Leiters der Rechtsanwaltskanzlei. Dieser warne den Kläger zu 1 eindrücklich vor einer Rückkehr in die Russische Föderation. Der Verfasser dieser E-Mail sei ein Rechtsanwalt mit mehr als 20 Jahren Erfahrung und eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet des Strafrechts in Russland. Er habe einen zu lebenslanger Haft Verurteilten verteidigt, für den die bekannte Menschenrechtsverteidigerin Frau A. P. um Begnadigung gebeten habe. Die Meinung seines Kollegen und Vorgesetzten sei absolut kompetent. Der Kläger zu 1 sei ebenfalls Fachmann und habe die Beklagte darüber informiert, dass dem Kläger zu 1 entweder die Todesstrafe oder eine 20-jährige Freiheitsstrafe (jetzt lebenslange Freiheitsstrafe) drohe. Der Kläger zu 1 übermittelte ein Widerspruchsprotokoll zum Anhörungsprotokoll (Anlage K15).
31
Mit Schreiben vom 31.08.2023 führt die Klägerin zu 2 aus, dass die Entscheidung des Bundesamtes unlogisch, inkonsistent und aus dem Kontext gerissen sei. Es gebe offensichtliche Widersprüche und Unstimmigkeiten. Die Beklagte habe die Handlungen der russischen Behörden gegenüber dem Kläger zu 3 in keiner Weise bewertet. Das Bundesamt habe nicht berücksichtigt, dass der Kläger zu 3 über einen längeren Zeitraum und sehr brutal und hart in der Schule gemobbt worden sei. Zuerst hätten die Lehrer mit dem Mobbing begonnen (zum Beispiel habe die Lehrerin ihn an die Tafel gerufen und ihn vor allen Kindern im Klassenzimmer offen einen Dummkopf genannt). Als die Mitschüler gesehen hätten, dass die Lehrer ihn mobben würden, hätten sie ebenfalls damit angefangen, insbesondere nachdem sich der Kläger zu 3 als Ukrainer bezeichnet und seine Unterstützung für die Ukraine zum Ausdruck gebracht habe (vgl. Aktenvermerk vom 19.10.2022, Anlage K16). Durch das Mobbing habe der Kläger zu 3 eine ernsthafte psychische Verletzung erlitten, die durch das Vorhandensein von Asthma verschlimmert werde. Asthma sei eine Krankheit, die stark von der emotionalen Verfassung abhänge, insbesondere wenn das Kind sehr sensibel sei. In der Anhörung hätten die Kläger zu 1 und 2 darauf hingewiesen, dass der Kläger zu 3 ein Künstler und ein sehr empfängliches und sensibles Kind sei. Sein Kohleporträt von S. sei ein Hit geworden. Er habe es im Alter von 12 Jahren gezeichnet (Anlage K17). Die Beklagte habe das Risiko einer Rückkehr des Klägers zu 3 in die Russische Föderation nicht bewertet. Allein das Porträt könne im Falle einer Rückkehr nach Russland mit ernsthaften Konsequenzen verbunden sein, von Verletzungen bis hin zur Tötung. Dies gelte insbesondere, da die russische Propaganda Hass gegen S. schüre. Zudem sei die Behauptung der Beklagten, dass der Klägerin zu 2 nichts drohe, da die Polizeibeamten sie aufgrund eines Anrufs eines Anwalts nicht hätten mitnehmen wollen, nicht nachvollziehbar. Dies wäre auch in Deutschland passiert, wenn Polizeibeamte sich geweigert hätten, sich auszuweisen oder die Dokumente vorzulegen, auf deren Grundlage sie eine Person hätten vorladen wollen. Ihr und ihrem Mann seien Drohungen übermittelt worden und sie seien gewarnt worden, dass Strafverfahren gegen die Unterstützer von N. eingeleitet würden und es nur eine Frage der Zeit sei, bis die Klägerin zu 2 an der Reihe sei. Sie hätten sie einschüchtern wollen, damit sie nicht mehr zu Kundgebungen von A. N. gehe. Dieses Ereignis habe im September 2021 stattgefunden. Danach habe es aufgrund der Repressionen kaum noch Unterstützer von N. gegeben. Die Beklagte habe diese Tatsache einfach verdreht und sie nicht in ihrer Dynamik betrachtet, unter Berücksichtigung der Veränderungen (Intensivierung und Massenrepression), die nach Beginn des Krieges mit der Ukraine eingetreten seien. Zudem sei die Anhörung grob und beleidigend gewesen und habe den Charakter eines voreingenommenen Verhörs mit Elementen psychologischen Drucks gehabt. Danach habe die Klägerin zu 2 selbst psychologische Hilfe benötigt. Der Anhörer habe seine positive Meinung zugunsten der russischen Behörden geäußert. Der Fakt der Teilnahme der Klägerin zu 2 an der Kundgebung sei aus dem Kontext gerissen worden, basierend auf einem Foto, das in der ersten Hälfte der Kundgebung aufgenommen worden sei, als die Polizei den Unterstützern von N. noch erlaubt habe, sich zu versammeln. Danach sei die Auflösung verfügt und mit Festnahmen begonnen worden. Das harte und unmenschliche Vorgehen der Polizei gegen die Demonstranten sei auf allen Kanälen der Welt gezeigt worden. Die Bewertung des Schreibens vom …2022, mit welchem die Kläger aufgefordert worden seien, unter Androhung von Verwaltungsstrafen und dem Entzug der elterlichen Rechte bei einer Behörde zu erscheinen, sei nicht nachvollziehbar. Die Beklagte halte das Schreiben zwar für rechtswidrig, behaupte aber, dass die Kläger ihre Rechte durch Inanspruchnahme eines russischen Gerichts schützen könnten. Rechte der Regimegegner würden von den P.treuen russischen Gerichten jedoch nicht geschützt. Alle vorhandenen Anzeichen (Überwachung, Abhörung, Mobbing, Nichtbereitstellung von gesetzlich vorgeschriebenen Dienstleistungen, Nichtuntersuchung von Straftatanzeigen, Tod eines Anwalts und Freundes des Klägers zu 1, wiederholte Übergriffe auf die Mutter der Klägerin zu 2 durch Unbekannte und vieles mehr) würden darauf hindeuten, dass eine Verhaftung der Kläger zu 1 und 2 im Rahmen der eingeleiteten Strafverfahren geplant sei.
32
Mit Schriftsatz vom 06.09.2023 übermittelt der vormalige Klägerbevollmächtigte ein allgemeinärztliches Attest vom 10.08.2023 betreffend den Kläger zu 3, wonach dieser an einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie an einer mittelgradigen Depression leide. Es sei eine Psychotherapie indiziert.
33
Mit Schreiben vom 19.12.2023 führt der Kläger zu 1 aus, dass er entscheidende Dokumente, auf welche sich der wichtigste Teil der Befragung gestützt habe und die er dem Anhörer persönlich zusammen mit dem Greenpeace-Brief während der Befragung übergeben habe, in der Bundesamtsakte nicht wiedergefunden habe. Zudem befinde sich das Strafanzeige-Formular vom …2021 lediglich in einer schlecht lesbaren Kopie in der Akte, weshalb es zu einem Fehler in der Übersetzung gekommen sei. So sei in der Übersetzung Haus 4/4 angegeben, während im Original 9/4 stehe. Darüber hinaus habe der Kläger zu 1 vor Kurzem einen offiziellen Bericht über die Menschenrechtslage in Russland und insbesondere die Rechte von Anwälten vom Vertreter des Menschenrechtsinstituts der Internationalen Anwaltskammer bei den Vereinten Nationen in Genf (IBAHRI) erhalten. Die Kläger übermitteln eine Strafanzeige vom …2014 sowie die schriftliche Antwort des FSB vom …2014 mit Postumschlag vom …2014 und eine mit DeepL generierte Übersetzung der Dokumente ins Deutsche (Anlage K19). Ferner wird eine E-Mail des Vertreters bei den Vereinten Nationen Genf International Bar Association’s Human Rights Institute (IBAHRI) vom 01.11.2023 mit Hinweisen auf die Situation der Menschenrechte und der Anwälte in der Russischen Föderation vorgelegt (Anlage K20).
34
Mit Schriftsatz vom 26.02.2024 zeigte ein neuer Bevollmächtigter die anwaltliche Vertretung der Kläger unter Vollmachtvorlage an.
35
Mit Beschluss der Kammer vom 20.08.2024 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
36
Mit Schriftsatz vom 18.11.2024 teilte der Klägerbevollmächtigte mit, dass das Mandat niedergelegt worden sei.
37
Mit Schreiben vom 16.11.2024 übermitteln die Kläger folgende Unterlagen:
1) Flugtickets der Kläger.
2) Offizielle Mitteilung des Außenministeriums der Russischen Föderation mit deutscher Übersetzung: „Über die Beendigung der Gültigkeit des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten“.
3) Mitteilung der St. Petersburger Rechtsanwaltskanzlei „…“ mit deutscher Übersetzung: Das Dokument bestätige nach den Ausführungen der Kläger, dass der Kläger zu 1 als Anwalt in dieser Kanzlei tätig gewesen sei und sich an der Verteidigung von oppositionell eingestellten Personen gegenüber dem P.-Regime beteiligt habe. Zudem werde darin angegeben, dass die Rechtsanwaltskanzlei gezwungen gewesen sei, ihre Tätigkeit einzustellen.
4) Mitteilung des Anwalts über das Ausbleiben einer Antwort auf die anwaltliche Anfrage bezüglich der Strafanzeige vom …2021 mit deutscher Übersetzung.
5) Zeitungsartikel „Von nun an wird die Verteidigung der Mittäterschaft an einem Verbrechen gleichgestellt – Drei Rechtsanwälte von N. wurden verhaftet“ vom 16.10.2023 mit deutscher Übersetzung.
6) Bericht von AMNESTY INTERNATIONAL vom 01.06.2024 mit deutscher Übersetzung.
7) Diverse Schul- bzw. Bildungsnachweise bezüglich der Kläger zu 3 bis 5.
8) Zeitungsartikel mit einem Interview der Nobelpreisträgerin und deutschen Schriftstellerin Herta M..
9) Teilnahmezertifikat am Internationalen Juristenkongress 2016 in Straßburg.
10) Teilnahmezertifikat am Programm „Schutz der Rechte von Opern im Strafverfahren in Russland und Großbritannien“, organisiert mit Unterstützung des britischen Konsulats, mit deutscher Übersetzung.
11) „Die Anhörung – eine Problematisierung, Erstaufnahmeinterviews von Asylbeantragenden in Deutschland unter der Lupe“, wissenschaftlicher Artikel der Universität Freiburg
12) Linguistische Analyse vom 01.10.2024
38
Einem psychotherapeutischen Attest vom 31.10.2024 (Bl. 253 eGA) ist zu entnehmen, dass der Kläger zu 3 seit dem 13.06.2024 bei der Unterzeichnerin in psychotherapeutischer Behandlung sei. Bei ihm sei eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden, die auf mehrere traumatische Erfahrungen in der Heimatschule, eine erneute Retraumatisierung in der deutschen Schule sowie die Beobachtung eines Mordes in einem Asyllager, zurückzuführen sei.
39
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird entsprechend § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO auf die Behörden- und die Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
40
Das Gericht kann trotz des Nichterscheinens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beklagte bei der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 1 und 2 VwGO).
41
Die zulässige Klage hat weit überwiegend in der Sache Erfolg.
42
1. Der Bescheid des Bundesamtes vom 27.07.2023 ist im tenorierten Umfang rechtwidrig und verletzt die Kläger insoweit in ihren Rechten. Denn die Kläger haben in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
43
Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, wenn er Flüchtling ist und keiner der dort aufgeführten Ausschlussgründe vorliegt.
44
Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
45
Als Verfolgung im vorgenannten Sinne gelten ausweislich § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
46
Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG können ausweislich § 3a Abs. 2 AsylG unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, (Nr. 1), gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden (Nr. 2), unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung (Nr. 3), Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung (Nr. 4), Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (Nr. 5) oder Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind, (Nr. 6) gelten. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein geschütztes Rechtsgut voraus (BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11/18 – juris Rn. 14).
47
Die Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.
48
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer – bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr – die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (siehe zu diesem Maßstab im Einzelnen: BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 31/18 – juris Rn. 16ff.).
49
In Anwendung dieser Maßstäbe ist den Klägern die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Denn in Anbetracht der Gesamtumstände kann bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage der Kläger Furcht vor Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, 2, 3, 4 und 6 AsylG durch den russischen Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG) wegen der anwaltlichen Betätigung des Klägers zu 1 und der ihm in diesem Zusammenhang jedenfalls von russischer Seite unterstellten politischen Überzeugung (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG) sowie der oppositionellen Haltung der Klägerin zu 2 (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 2 AsylG) auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation hervorgerufen werden. Die Handlungen, die den Klägern drohen, sind auf Grund ihrer Art und Wiederholung so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte der Kläger darstellen würden. Die Kläger müssen eine Verletzung des in Art. 2 EMRK verankerten Rechts auf Leben, des in Art. 3 EMRK absolut nach Art. 15 Abs. 2 EMRK garantierten Verbots der Folter, unmenschlichen und erniedrigender Behandlung und Strafe, des in Art. 5 EMRK verbürgten Rechts auf Freiheit und Sicherheit, des in Art. 6 EMRK gesicherten Rechts auf ein faires Verfahren, des in Art. 8 EMRK normierten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens und der in Art. 10 EMRK zum Ausdruck kommenden Freiheit der Meinungsäußerung befürchten.
50
Die Kläger zu 1 und 2 haben schriftlich unter Vorlage von umfassenden Anschauungsmaterial und während ihrer informatorischen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung zur hinreichenden Überzeugung des Gerichts glaubhaft und mit der erforderlichen Substanz vorgetragen, dass ihnen aufgrund der besonderen Umstände ihres nicht verallgemeinerungsfähigen Einzelfalls in der Russischen Föderation landesweit Repressalien bis hin zur gezielten Tötung durch russische Sicherheitsbehörden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Kläger zu 1 stand ausweislich seines glaubhaften Vorbringens, welches er durch zahlreiche Unterlagen untermauerte, wegen seiner beruflichen Betätigung als Rechtsanwalt bereits vor seiner Ausreise im Fokus des FSB und unterlag mit den gegen ihn verhängten Ausreiseverboten, behördlichen Nachstellungen sowie Attentatsversuchen schon vor seiner Flucht flüchtlingsrelevanten Verfolgungshandlungen im vordargestellten Ausmaß. Da die letztgenannten behördlichen Übergriffe auch die weiteren Familienmitglieder (Kläger zu 2 bis 6) betrafen, gilt dies in gleichem Maße für sie, zumal das klägerseits vorgelegte administrative Schreiben der Stadt St. Petersburg vom …2022, in welchem den Klägern zu 1 und 2 mit dem Entzug ihrer Elternrechte gedroht wird, die Familie als Ganzes betrifft und überdies davon auszugehen ist, dass die oppositionelle Haltung der Klägerin zu 2 den russischen Behörden schon angesichts der beruflichen Betätigung ihres Ehemanns nicht verborgen geblieben ist.
51
Leitend für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft waren im Wesentlichen folgende, klägerseits glaubhaft vorgetragene, mit dem einschlägigen Erkenntnismaterial übereinstimmende und damit zur Überzeugung des Gerichts für die Entscheidungsfindung feststehende Geschehen:
52
Der Kläger zu 1 schilderte glaubhaft, dass er als ostfinnischer Volkszugehöriger in Mari El aufgewachsen sei und zunächst in Leningrad Veterinärmedizin studiert habe; eine Kopie seines Studienbuches übergab er im Verhandlungstermin. Sodann sei er nach Mari El zurückgekehrt, habe dort in der Landwirtschaft tätig sein wollen und sich darüber hinaus politisch engagiert. Im Jahr 2004 sei er Abgeordnetenkandidat gewesen und in diesem Zusammenhang Opfer zweier körperlicher Übergriffe geworden. Letztere schilderte der Kläger zu 1 im Rahmen der mündlichen Verhandlung wie auch schriftsätzlich umfangreich und detailhaft. Auch stehen seine Ausführungen in diesem Zusammenhang in Übereinkunft mit den Erkenntnismitteln. Bereits dem seitens des Klägers zu 1 vorgelegten und im Internet öffentlich zugänglichen Gemeinsamen Entschließungsantrag (RC-B6-0283/2005) des Europäischen Parlaments vom 11.05.2005 ist zu entnehmen, dass es in Mari El im fraglichen Zeitraum zu Übergriffen/Attentaten auf Journalisten und Korrespondenten nichtstaatlicher Medien kam, die Opposition unterdrückt wurde und die Minderheit der Mari staatlichen Diskriminierungen ausgesetzt war (vgl. https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/RC-6-2005-0283_DE.html, zuletzt abgerufen am 02.01.2025). Der Kläger zu 1 verwies in diesem Zusammenhang auf das Lichtbild seines Abgeordnetenausweises vom …2004, welches ihn mit Schwellungen im Gesicht zeigt (vgl. Bl. 19 Beiakte Anlagen zum Schriftsatz vom 31.08.2023). Dem Internetauftritt der Gesellschaft für bedrohte Völker ist ein Beitrag vom 07.06.2005 zu entnehmen, demzufolge Angehörige der Mari, die in Mari El die Opposition darstellten, aus Regierungsämtern, Zeitungsredaktionen und Behörden entfernt worden seien. Journalisten seien schikaniert, überfallen und zusammengeschlagen worden und vor Mordanschlägen nicht sicher gewesen (vgl. https://www.gfbv.de/de/news/eu-russland-gipfel-in-moskau-10052005-2808/, zuletzt abgerufen am 02.01.2025). Ausweislich eines weiteren Beitrags vom 29.06.2005 macht die Titularnation der Mari der Wolgarepublik Mari El heute nur noch 43% der ca. 750.000 Staatsbürger Mari Els aus. Aufgrund jahrzehntelanger russischer Assimilationspolitik und permanenter Russifizierung stellen die Russen mit 48% inzwischen die Bevölkerungsmehrheit. Während der Sowjetherrschaft hätten die Mari unter Zwangskollektivierung und Repressionen sowie der systematischen Auslöschung des Großteils ihrer Intellektuellen gelitten. Auch im Jahr 2005 sei die Situation der Mari von staatlichen Repressionen und zunehmender Beschneidung ihrer Minderheitenrechte geprägt gewesen. Mari-Führer würden bedroht, erpresst und misshandelt (vgl. https://www.gfbv.de/de/news/einschnitte-in-die-pressefreiheit-rassismus-ethnische-verfolgung-in-der-russischen-foederation-und/; zuletzt abgerufen am 02.01.2025). Angesichts dessen erscheint es beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1 bereits aufgrund der Vorkommnisse in Mari El in den Fokus des FSB gerückt ist.
53
Nach den Übergriffen in der Republik Mari El sei der Kläger zu 1 ausweislich seiner eigenen Schilderungen im Jahr 2005 zunächst nach Moskau übergesiedelt und habe sich seit dem Jahr 2010 bis zu seiner Ausreise in St. Petersburg aufgehalten. 2010 habe er in St. Petersburg seinen juristischen Hochschulabschluss erlangt und sei fortan in einer auf Menschenrechte spezialisierten Kanzlei in St. Petersburg tätig gewesen, die mit namhaften Menschenrechtsorganisationen wie beispielsweise der Organisation „Bürgerkontrolle“ zusammengearbeitet habe. Im Jahr 2012 habe er nach Ableistung seiner Staatsprüfung seinen Anwaltsausweis erhalten, welchen er im Original in der mündlichen Verhandlung vorzeigte. Im weiteren Verhandlungsverlauf schilderte der Kläger zu 1 widerspruchsfrei – insbesondere in Übereinstimmung mit seinem schriftlichen Vortrag – und konsistent Einzelheiten seiner beruflichen Betätigung. So sei er im Jahr 2013 in das Verfahren „Arctic Sunrise“ von Greenpeace involviert gewesen. Insoweit hatte – wie bereits der deutschen Presse zu entnehmen ist – die russische Küstenwache im September 2013 30 Greenpeace-Aktivisten und Journalisten festgenommen und die unter niederländischer Flagge fahrende „Arctic Sunrise“ nach Murmansk geschleppt. Die Umweltschützer hatten versucht, eine Gazprom-Bohrinsel zu entern. Sie wollten dort auf Umweltrisiken durch die Gas- und Ölförderung in der Region aufmerksam machen (vgl. https://taz.de/Greenpeace-Schiff-in-Russland/!5040589/, zuletzt abgerufen am 02.01.2025). Angaben der Aktivistinnen und Aktivisten zufolge waren die Mitglieder der Sicherheitskräfte mit Schusswaffen und Messern bewaffnet. Sie sollen in die Luft und ins Wasser geschossen haben sowie die aufblasbaren Boote der Aktivistinnen und Aktivisten aufgeschlitzt haben. Mit vorgehaltenen Waffen sollen sie die Crew verhaftet und anschließend den Funkraum des Schiffes demoliert haben, um die Kommunikation nach Außen zu verhindern. Das russische Ermittlungskomitee, eine staatliche Behörde, die für die Untersuchung schwerer Straftaten zuständig ist, kündigte an, gegen die verhafteten Aktivistinnen und Aktivisten eine Ermittlung wegen Piraterie einzuleiten (vgl. https://www.amnesty.de/2013/9/24/russland-muss-piraterie-vorwuerfe-gegen-greenpeace-aktivisten-fallen-lassen, https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2013-09/greenpeace-russland-arktis, zuletzt abgerufen am 02.01.2025). Nach sechs Wochen wurden die festgehaltenen Umweltschützer – in Einklang mit dem klägerischen Vortrag – nach St. Petersburg verlegt. Der zunächst erhobene Vorwurf der „bandenmäßigen Piraterie“ wurde erst nach internationaler Kritik Ende Oktober 2013 auf „Rowdytum“ abgeschwächt (vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2013-11/greenpeace-arctic-sunrise-petersburg, zuletzt abgerufen am 02.01.2025). Der Internationale Seegerichtshof in Hamburg hatte Russland zur Herausgabe der „Arctic Sunrise“ sowie zur Freilassung der Aktivisten gegen Zahlung einer millionenschweren Kaution verurteilt; Moskau erkannte jedoch den Richterspruch nicht an. Erst nach mehr als zwei Monaten in russischer Haft kam das letzte Besatzungsmitglied nach Entscheidung eines Berufungsgerichts in St. Petersburg wieder auf freien Fuß (vgl. https://www.dw.com/de/russland-l%C3%A4sst-letzten-greenpeace-aktivisten-frei/a-17259362, abgerufen am 02.01.2025). Das Gericht hat keinen Zweifel daran, dass der Kläger zu 1 dem damaligen Verteidigerteam angehörte, zumal er bereits gegenüber dem Bundesamt ein Dankesschreiben von Greenpeace vom …2014 (Bl. 29 der Bundesamtsakte) vorlegte, ohne dass sich das Bundesamt damit im Rahmen des gegenständlichen Bescheides auseinandersetzte. Es erscheint absolut glaubhaft, dass der Kläger zu 1 infolge seiner anwaltlichen Betätigung in diesem Fall abermals in den Fokus der russischen Sicherheitsbehörden gelangt ist. So schilderte der Kläger, dass er den Eindruck hatte, nach Abschluss des Verfahrens verfolgt worden zu sein. Am …2014 sei er mit seinem Auto in seine Kanzlei gefahren und nach dem Aussteigen damit bedroht worden, dass man ihm Drogen unterjubeln werde. Dass Regimegegnern in Russland illegaler Drogenbesitz vorgeworfen wird, ist kein Einzelfall (vgl. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-09/russland-opposition-mobilmachung-aktivisten-proteste, zuletzt abgerufen am 03.01.2025). Nach dem Vorfall habe der Kläger zu 1 eine Anzeige verfasst und diese an den FSB gerichtet. Diese Anzeige legte der Kläger zu 1 im gerichtlichen Verfahren als Abschrift vor (Bl. 110 der eGA). Zudem übermittelte er die Antwort des FSB vom …2014 (Bl. 107 eGA), die lediglich dahingehend lautete, dass das klägerische Anliegen geprüft und die darlegten Fakten in der operativen Ermittlungstätigkeit berücksichtigt würden, ohne dass auf die seitens des Klägers zu 1 geschilderten Vorwürfe auch nur ansatzweise eingegangen worden ist. Im weiteren Verhandlungsverlauf schilderte der Kläger zu 1, dass er ein bis zwei Wochen später von einem Unbekannten angerufen worden sei, der ihm signalisiert habe, dass ihn die Anzeige interessiere. Der Kläger zu 1 habe sich daraufhin auf ein persönliches Treffen in einem Café in der Nähe seiner Kanzlei eingelassen. Auch diese Unterredung schilderte der Kläger zu 1 im Verhandlungstermin detailreich und legte glaubhaft dar, dass er seitens der beiden Beamten einem großen psychischen Druck ausgesetzt worden sei. Letztlich hätten ihm der FSB-Beamte sowie der Bedienstete der Ermittlungsbehörde mitgeteilt, dass sie in der Angelegenheit nur weiter ermitteln würden, wenn der Kläger zu 1 mit ihnen zusammenarbeite. Nachdem der Kläger zu 1 diesen Vorschlag bestimmt und kategorisch zurückgewiesen habe, hätten sie ihm gedroht, dass er dies bereuen werde.
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Darüber hinaus berichtete der Kläger zu 1 von weiteren Prozessen, die er zum Missfallen der russischen Sicherheitsbehörden gewonnen habe. So habe er den Polizeichef der Stadt St. Petersburg gegen Anschuldigungen des FSB verteidigt. Auch während dieses Verfahrens, das etwa fünf Jahre gedauert habe, habe der Kläger zu 1 Verfolgung verspürt. Ähnlich sei es ihm im Rahmen einer Wirtschaftssache ergangen. Insoweit sei es ihm gelungen, einen Betrug der Gegenseite aufzudecken. Im Nachgang sei er gemeinsam mit dem Geschäftsführer seines Mandanten in das Innenministerium eingeladen worden. Während der Kläger zu 1 zunächst angenommen habe, dass sich die Behörden für die kriminelle Struktur der Gegenseite interessieren würden, habe sich schnell herausgestellt, dass sie nur hätten wissen wollen, wie es dem Kläger zu 1 möglich gewesen sei, den Skandal aufzudecken. Letztlich sei ihm demonstriert worden, dass er in den Fokus des Interesses der Sicherheitsbehörden gerückt sei. Nach dem letztgenannten Vorfall, der sich etwa 2019/2020 ereignet habe, seien die Dinge ausweislich der Schilderungen des Klägers zu 1 noch skurriler geworden. So habe ihm ein Mandant eines Tages berichtet, dass er Besuch vom FSB erhalten habe und die Beamten ihm gedroht hätten, er solle sich einen anderen Anwalt suchen. Weiteres Missfallen der russischen Führungsregie dürfte der Kläger zu 1 dadurch auf sich gezogen haben, dass er im Jahr 2016 anlässlich einer Diskussion zwischen ukrainischen und russischen Anwälten nach einem Kongress beim EGMR offen die Krim-Annektion kritisiert und P. einen Verstoß gegen das Budapester Memorandum vorgeworfen habe.
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Das Gericht hat angesichts der glaubhaften Schilderungen des Klägers zu 1 sowie der von ihm vorgelegten Unterlagen keinen Zweifel daran, dass er sich vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation als Anwalt für Menschenrechte betätigt und insoweit Klienten vertreten hat, die mit dem P.-Regime in Konflikt geraten sind. Im Rahmen einer vorgelegten E-Mail vom …2022 führt ein Kanzleikollege des Klägers zu 1 aus, dass die Kanzlei mit einer der größten Menschenrechtsorganisationen in Russland „OVD-Info“ zusammengearbeitet habe. Die vorgenannte Organisation, die sich für festgenommene Demonstranten einsetzt, wurde im Herbst 2021 in das Verzeichnis „nichtregistrierter“ Organisationen aufgenommen, die als „ausländische Agenten“ gelten (vgl. https://www.memorial.de/nachrichten/artikel/neue-ausl%C3%A4ndische-agenten-ovd-info-mediazona-und-zahlreiche-einzelpersonen-registriert; https://ovd.info/inoagent-en; https://www.rnd.de/politik/russland-aktivisten-erneut-als-auslaendische-agenten-eingestuft-MAHM7V3LC6NDPPZCHJXZDYDDY4.html, jeweils zuletzt abgerufen am 03.01.2025). Weiter führt der Kanzleikollege des Klägers zu 1 aus, dass dieser zuletzt mit der Verteidigung eines Aktivisten der Vesna-Bewegung und Unterstützers von A. N. betraut gewesen sei. Er weist überdies darauf hin, dass zwei operative Beamte des FSB in der Kanzlei erschienen seien, nach dem Kläger zu 1, seinem Aufenthaltsort und danach gefragt hätten, ob er Verwandte in Estland habe. Angesichts dessen riet der Kanzleikollege dem Kläger zu 1 sowie seiner Familie dringend von einer Rückkehr nach Russland ab (vgl. Bl. 286 der Bundesamtsakte). Darüber hinaus legte der Kläger zu 1 ein Zertifikat über seine Teilnahme am Projekt „Schutz der Rechte von Opfern im Strafverfahren in Russland und Großbritannien“ von Dezember 2020 bis März 2021 vor. Unterzeichnet wurde dieses Dokument vom …2021 von Elena Schachowa, bei der es sich um die stellvertretende Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation „Bürgerkontrolle“ handelt, die ebenfalls in das Verzeichnis angeblicher „ausländischer Agenten“ aufgenommen wurde (vgl. https://www.dw.com/de/polizei-bei-nawalny-demo-ein-tritt-zu-viel/a-56338561; https://www.uni-regensburg.de/assets/philosophie-kunst-geschichte-gesellschaft/vergleichende-politikwissenschaft-mittel-osteuropa/forschung/feldaufenthalt_russland_feb2014.pdf; https://www.memorial.de/nachrichten/artikel/neue-ausl%C3%A4ndische-agenten; https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/155733/dokumentation-wir-sind-keine-agenten/jeweils, zuletzt abgerufen am 03.01.2025).
56
Bereits den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ist zu entnehmen, dass das russische Justizwesen von Korruption befallen ist. Gemäß Berichten geraten insbesondere seit Russlands Ukraine-Invasion Rechtsanwälte immer mehr ins Visier. Beispielsweise wird ihnen der Zugang zu Mandanten auf Polizeistationen und die Vertretung ihrer Mandanten bei Gerichtsverhandlungen verwehrt. Es kommt überdies vor, dass Rechtsanwälte ungerechtfertigten Disziplinarverfahren und strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sind, insbesondere, wenn sie Teilnehmer an Anti-Kriegsprotesten verteidigen. Es gibt zudem Berichte über Anwälte, welche verhaftet wurden, weil sie Opfer politischer Repressionen unterstützt haben. Rechtsanwälte, welche – wie der Kläger zu 1 – Menschenrechtsfälle bearbeiten, sind mehr und mehr Verwaltungsschikanen sowie Schikanen disziplinarischer und strafrechtlicher Natur ausgesetzt (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation, Russische Föderation v. 12.06.2024, S. 21). Wer in Russland als Anwalt Regierungskritiker verteidigt, muss mit der Rache des Systems rechnen. Dieses Schicksal traf jüngst auch drei Anwälte des Regimekritikers A. N.. Ihnen wird die Zugehörigkeit zu einer extremistischen Vereinigung zur Last gelegt. Prozessbeobachtern zufolge schloss die Vorsitzende Richterin nach kurzer Zeit die Öffentlichkeit von der Verhandlung gegen die drei Anwälte aus. Als Grund nannte sie eine Warnung der Polizei vor angeblichen Provokationen durch N.-Anhänger. Den Anwälten drohen nach russischem Strafrecht zwei bis sechs Jahre Haft sowie mehrjährige Berufsverbote (vgl. https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/nawalnys-verteidiger-russland-gericht, zuletzt abgerufen am 03.01.2025).
57
Auch der Kläger zu 1 ist infolge seiner beruflichen Tätigkeit vor seiner Flucht in das Visier der russischen Sicherheitsbehörden gelangt. Neben den oben bereits aufgeführten Geschehnissen berichtete der Kläger zu 1 von einem Attentatsversuch auf ihn, seine Frau und die beiden Töchter am Abend des …2021. Seine Frau und er hätten die beiden Töchter – wie jeden Tag zur gleichen Uhrzeit – vom Kindergarten abgeholt und dabei täglich dieselbe Strecke zurückgelegt. Unter Vorlage diverser Google-Streetview-Ausdrucke zeigt der Kläger zu 1 am Richtertisch, wo sich die Explosion ereignet hat und legt dar, dass die Detonation die Kläger nur knapp verfehlt habe. Nach dem Vorfall habe sich die Klägerin zu 2 zu einer in der Nähe befindlichen Polizeistation begeben, sei dort jedoch von den Beamten nicht ernst genommen worden, insbesondere hätten die Sicherheitskräfte keine Ermittlungen am Tatort aufgenommen. Auch auf eine vom Kläger zu 1 erstatte Online-Anzeige hin, die bereits dem Bundesamt vorgelegt wurde (Bl. 376 der Bundesamtsakte), geschah nichts. In der Folgezeit sei die klägerische Familie Beobachtungen ausgesetzt gewesen. Zudem seien Handwerker in ihre Wohnung gekommen und hätten vorgegeben, etwas reparieren müssen, obgleich die Hausverwaltung, die der Kläger zu 1 im Nachgang kontaktiert habe, keine Leistungen in Auftrag gegeben habe. Der Kläger zu 1 berichtet weiter, dass einer seiner Kollegen am …2021 unter ungeklärten Umständen verstorben sei, nachdem er Beschuldigte im Zusammenhang mit dem Terroranschlag am …2017 verteidigt und insoweit ein Zeitungsinterview gegeben habe. Überdies habe der Kläger zu 1 mehrfach festgestellt, dass sein E-Mail-Postfach sowie sein WhatsApp-Account gehackt worden seien. Hinzu kommt, dass seine Schwiegermutter im Januar 2022 einem körperlichen Übergriff zum Opfer gefallen sei. Insoweit legte der Kläger zu 1 ein ärztliches Attest der traumatologischen Abteilung des Stadtkrankenhauses St. Petersburg über die stationäre Behandlung der Schwiegermutter vom …2022 bis …2022 vor, die den Hinweis „OVD – Polizei (d.h. die Verletzung ist strafrechtlich relevant und die Informationen wurden an das Innenministerium der RF weitergeleitet)“ enthält (vgl. Anlage K18).
58
Angesichts all dieser Geschehnisse steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger zu 1 sein Heimatland unter dem Eindruck einer stattgefundenen staatlichen Verfolgung verlassen hat. Dagegen spricht auch nicht der Umstand, dass die Kläger Russland erst im Mai 2022 verlassen haben. Im Gegenteil erscheint es uneingeschränkt nachvollziehbar, dass der Kläger zu 1 Zeit brauchte, die Ausreise seiner sechsköpfigen Familie mit zwei Kleinkindern vorzubereiten. So erläuterte der Kläger zu 1 im Verhandlungstermin, dass die Visa-Anträge für seine Frau sowie die Kinder, die sie über das Visa-Zentrum in St. Petersburg gestellt hätten, zunächst abgelehnt worden seien. Erst als sich die Kläger direkt zur finnischen Botschaft in St. Petersburg begeben hätten, seien ihnen die Schengen-Visa ausgestellt worden. Gegen ein staatliches Verfolgungsinteresse an der Person des Klägers zu 1 spricht auch nicht dessen unbehelligte Ausreise über die Landgrenze zu Belarus. Denn insoweit legte er nachvollziehbar dar, dass der Grenzbeamte die Pässe bzw. Geburtsurkunden der Kinder lediglich daraufhin überprüft habe, ob sie Staatsangehörige der Russischen Föderation seien; der Grenzbeamte habe über kein Scangerät verfügt, so dass ihm das gegenüber dem Kläger zu 1 verhängte Ausreiseverbot nicht bekannt gewesen sei. Dass es zwischen Russland und Belarus praktisch keine Grenzkontrollen, sondern lediglich Dokumentenkontrollen zur Durchsetzung des Verbots für Drittstaatsangehörige bei Reisen auf dem Landweg gibt, ist bereits allgemein zugänglichen Quellen zu entnehmen (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Grenze_zwischen_Belarus_und_Russland, zuletzt abgerufen am 03.01.2025). Darüber hinaus führte der Kläger zu 1 aus, dass er als Ausreisetag mit dem „Tag der Grenzbeamten“ bewusst einen Feiertag gewählt habe, um so intensiveren Kontrollen zu entgehen. Im Hinblick darauf steht der Vortrag des Klägers zu 1 nicht im Widerspruch zu seinen Ausführungen, wonach gegen ihn im August 2021 ein allgemeines Ausreiseverbot verhängt worden sei. Der Kläger zu 1 hat zunächst glaubhaft dargelegt, dass seine Ausreise zu einem finno-ugrischen Kongress in Estland im Juli 2021 seitens der Grenzbeamten verhindert worden sei. Zwar habe er danach, im August 2021, noch nach Ungarn reisen können, im Nachgang sei jedoch ein allgemeines Ausreiseverbot gegen ihn verhängt worden. Dieser Vortrag steht im Einklang mit dem vom Kläger zu 1 vorgelegten Screenshot seines Gosuslugi-Accounts, in welchem ein Vollstreckungsverfahren des FSSP aufscheint (Bl. 375 der Bundesamtsakte). Dass dieses Vollstreckungsverfahren im Fall des Klägers zu 1 als Vorwand für den Erlass eines Ausreiseverbots genutzt wurde, erscheint angesichts der weiteren Einlassungen des Klägers zu 1 zu den Nachstellungen des FSB konsistent und damit glaubhaft. Zumal der Kläger zu 1 darüber hinaus erwähnte, nach seiner Flucht aus Russland während seines Aufenthalts in Spanien und später in … von zwei Personen kontaktiert worden zu sein, die vorgegeben hätten, mit ihm zusammenarbeiten zu wollen, tatsächlich habe es sich jedoch um einen FSB-Beamten sowie um einen vormaligen Mitarbeiter einer Ermittlungsbehörde gehandelt. In Anbetracht dessen ist davon auszugehen, dass dem Kläger zu 1 im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation jedenfalls eine willkürliche Inhaftierung droht. Dies gilt umso mehr als der Kläger zu 1 nach seiner Ausreise, während seines Aufenthalts in Spanien, einen Appell an eine Abgeordnete der Staatsduma verfasste und diese aufforderte, ein Amtsenthebungsverfahren gegen den russischen Machthaber P. zu initiieren und den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine sofort zu beenden.
59
Auch hinsichtlich der Klägerin zu 2 ist im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von staatlichen Verfolgungsmaßnahmen infolge ihrer oppositionellen Haltung auszugehen.
60
Das Gericht geht davon, dass in Russland eine weitreichende staatliche Überwachung des Internets und insbesondere der sozialen Medien stattfindet und regimekritische Äußerungen, insbesondere betreffend den Ukraine-Krieg, eine unverhältnismäßige strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen können, welche im Grundsatz – wobei jeweils eine Betrachtung der konkreten Umstände des Einzelfalls angezeigt ist – geeignet ist, eine politische Verfolgung i.S.v. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG darzustellen.
61
Nach Auswertung der verfügbaren Erkenntnismittel ist davon ausgehen, dass regimesowie kriegskritische Äußerungen grundsätzlich eine politisch motivierte, unverhältnismäßige Strafverfolgung durch den russischen Staat nach sich ziehen können. Die staatliche Kontrolle von Internet und sozialen Medien ist eine Priorität der russischen Regierung, die vollständige Informationshoheit anstrebt. Sie schneidet die russische Bevölkerung von frei zugänglichen Informationen über den Angriffskrieg gegen die Ukraine ab, um ihre Propaganda umso wirkungsvoller zu machen. Die „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ dient regelmäßig als Rechtfertigung für Eingriffe in die Pressefreiheit und andere Grundrechte. Ein schlichtes „Liken“ oder „Re-Tweeten“ eines Beitrags, den die Behörden als „extremistisch“ einstufen oder Berichte über extremistische Aktivitäten können zu Strafen führen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 28.9.2022, Ziff. II.1.2.). Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde die Strafbarkeit von kritischen Äußerungen über den Ukraine-Krieg kontinuierlich ausgeweitet. Im Strafgesetzbuch wurde ein neuer Artikel 207.3 über öffentliche Verbreitung „wissentlich falscher Informationen“ über den Einsatz der Armee der Russischen Föderation eingeführt. Damit wurde die Verbreitung „falscher Informationen“ über den Einsatz des russischen Militärs unter Strafe gestellt. Personen, die wegen dieser Straftat verurteilt werden, können mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden, und die Verbreitung „falscher Informationen“, die „schwerwiegende Folgen“ mit sich bringen, kann zu 15 Jahren Haft führen. Es wurden außerdem ein Artikel 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten und Artikel 280.3 des Strafgesetzbuchs eingeführt, um „öffentliche Handlungen, die darauf abzielen, die russischen Streitkräfte zu diskreditieren“ zu bestrafen, wie zum Beispiel durch eine öffentliche Äußerung für den Abzug der russischen Truppen oder die Beendigung der Kämpfe in der Ukraine. Artikel 20.3.3 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten sieht Strafen in Form von Geldbußen zwischen 30 000 (490 Euro) und einer Million Rubel (16.400 Euro) vor. Artikel 280.3 des Strafgesetzbuches kommt zur Anwendung, wenn die öffentlichen Handlungen, die darauf abzielen, staatliche Institutionen zu diskreditieren, von einer Person begangen werden, die zuvor innerhalb eines Jahres für eine ähnliche Handlung zur Rechenschaft gezogen wurde. Als Strafen sind in diesem Fall Geldstrafen bis zu einer Million Rubel und Freiheitsstrafen von drei bis fünf Jahren oder Zwangsarbeit vorgesehen (zum Ganzen: EUAA, The Russian Federation – Political opposition, Dezember 2022, Ziff. 1.2.5-1.2.6, S. 20 ff.; Schweizer Flüchtlingshilfe, Russland: Politische Aktivitäten in sozialen Medien, 12.1.2023, Ziff. 3.4, S. 16 ff.). Die russischen Behörden überwachen systematisch und „routinemäßig“ die sozialen Medien (Schweizer Flüchtlingshilfe, a.a.O, Ziff. 3.1, S. 6 ff.). Ob und gegebenenfalls in welchem Ausmaß eine regimekritische Äußerung im Internet eine Strafverfolgung nach sich zieht, ist für den Einzelnen schwer vorhersehbar. Es ist davon auszugehen, dass Äußerungen von Oppositionspolitikern, politischen Aktivisten und Journalisten im besonderen Fokus der Behörden stehen; es können jedoch auch „einfache Leute“, etwa aufgrund einer Denunziation, ins Visier der Überwachungs- und Strafverfolgungsbehörden gelangen (Schweizer Flüchtlingshilfe, a.a.O., Ziff. 3.3., S. 12 f. und Ziff. 3.4, S. 20 f.).
62
Die Klägerin zu 2 legte sowohl schriftsätzlich wie auch in der mündlichen Verhandlung dar, dass sie sich bereits im Jahr 2017 als N.-Unterstützerin registriert habe und diesen schon bei den Wahlen im Jahr 2018 habe unterstützen wollen. Zudem habe sie an diversen Demonstrationen teilgenommen. Beispielsweise habe sie am …2021, als klar gewesen sei, dass N. nicht zu den Wahlen zugelassen werde, sowie am …2021 gemeinsam mit ihrem Mann an einer Demonstration zur Freilassung N.s teilgenommen. Überdies habe sie die Protestaktion „Liebe ist stärker als Hass“ am …2021 besucht und sich am …2022 an der Demonstration „Nein zum Krieg“ beteiligt. Darüber hinaus legte die Klägerin zu 2 diverse Screenshots ihrer Postings in sozialen Medien vor, in denen sie zur Teilnahme an den vorgenannten Kundgebungen und zur Unterstützung der Sache N.s aufrief sowie zudem darauf hinwies, dass ihr Ehemann inhaftierten Aktivisten als Rechtsanwalt für Menschenrechte helfen könne. Zwar bewegen sich diese Aktivitäten der Klägerin zu 2 noch im eher niederschwelligen Bereich oppositioneller Betätigung. Gleichwohl ist angesichts der beruflichen Betätigung ihres Ehemanns nachvollziehbar, dass sie schon damit in das Visier der Sicherheitsbehörden geraten ist. So schildert die Klägerin zu 2 glaubhaft, dass sie am …2021 unter einem Vorwand in die Schule ihrer Kinder einbestellt worden sei und zwei uniformierte Beamte sie „prophylaktisch“ hätten befragen wollen. Die Beamten hätten ihr ihre Registrierung als N.-Unterstützerin sowie ihr oppositionelles Engagement vorgeworfen und sie eindringlich gewarnt, eine weitere politische Betätigung zu unterlassen. Erst nach einem Telefonat mit ihrem Ehemann hätten die Beamten sie gehen lassen.
63
Dafür, dass die komplette kägerische Familie in den Fokus der russischen Sicherheitsbehörden gerückt ist, spricht letztlich auch das administrative Schreiben vom …2022 (Bl. 365 der Bundesamtsakte), in welchem den Klägern zu 1 und 2 mit dem Entzug ihrer Elternrechte gedroht wird. Bereits im Jahr 2019 berichtete die deutsche Presse über Fälle, in denen Eltern, die an Demonstrationen teilnahmen, seitens der russischen Justiz das Sorgerecht entzogen werden sollte (vgl. https://www.spiegel.de/politik/ausland/russland-moskauer-staatsanwaltschaft-will-demonstranten-sorgerecht-entziehen-a-1280774.html, zuletzt abgerufen am 03.01.2025). Amnesty International führt unter dem 31.05.2024 aus, dass die russischen Behörden bei ihrem Vorgehen gegen Andersdenkende verstärkt auch Kinder und ihre Familien ins Visier nehmen – insbesondere diejenigen, die sich gegen den Angriffskrieg in der Ukraine stellen. Wer in Russland den Krieg gegen die Ukraine kritisiert, muss mit Verfolgung und Unterdrückung rechnen. Von diesen Repressionen sind auch immer mehr Kinder und ihre Familien betroffen. Kindern wird das Recht auf freie Meinungsäußerung verwehrt und sie werden mit Kriegspropaganda indoktriniert. Sie werden außerdem instrumentalisiert, um Druck auf kriegskritische Erwachsene auszuüben. Hierfür werden die Kinder von ihren Eltern getrennt oder die Behörden drohen den Eltern mit dem Entzug des Sorgerechts. In manchen Fällen wurden Kinder den Eltern weggenommen und in staatlichen Einrichtungen untergebracht. So wurde am 05.10.2022 eine Zehnjährige von der Polizei in Moskau wegen ihres WhatsApp-Profilbildes verhört. Das Bild zeigte eine Zeichnung im Anime-Stil und signalisierte Solidarität mit der Ukraine. Die Polizei drohte der Mutter und führte bei ihr eine Hausdurchsuchung durch. Nachdem die Mutter zur Teilnahme an einem „präventiven“ Programm für „Eltern, die ihre Pflichten nicht ordnungsgemäß erfüllen“ verpflichtet wurde, floh sie mit ihren beiden Töchtern aus Angst vor weiterer Verfolgung ins Ausland. Am 01.03.2023 wurde eine Zwölfjährige von ihrem Vater getrennt und in ein Waisenhaus gebracht. Ihre Familie war zuvor fast ein Jahr lang verfolgt worden, weil die Zehnjährige im April 2022 eine kriegskritische Zeichnung in der Schule gefertigt hatte. Das Kind wurde daraufhin von der Schulleitung bei der Polizei angezeigt. Der alleinerziehende Vater wurde zunächst zu einer Geldstrafe und später zu zwei Jahren in einer Strafkolonie verurteilt wegen Social-Media-Beiträgen, in denen er „wiederholt die russischen Streitkräfte diskreditiert“ haben soll. Am 24.09.2022 nahm die Polizei eine Oppositionelle fest, als sie an einer friedlichen Demonstration gegen die Mobilisierung von Reservisten für den Krieg in der Ukraine teilnahm. Sie wurde wegen „Gewalt gegen einen Behördenvertreter“ angeklagt und nach mehreren Monaten Hausarrest in einem Untersuchungsgefängnis inhaftiert. Ihr 16-jähriges Pflegekind hat eine Behinderung und wurde in einem Waisenhaus untergebracht. Die Mutter wurde am 31.08.2023 zu zwei Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt (vgl. Amnesty International, Russia: „Your children will go to an orphanage“: Children and the crackdown on protest v. 01.06.2024; https://www.amnesty.de/aktuell/russland-behoerden-verfolgen-kinder-familien-wegen-kritik-ukraine-krieg, zuletzt abgerufen am 03.01.2025). Angesichts dieser Auskunftslage lässt sich das administrative Schreiben vom …2022 nicht lediglich auf die Abwesenheit der Kinder der Kläger zu 1 und 2 vom russischen Schulbetrieb zurückführen, vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass die ausgesprochenen Drohungen im Zusammenhang mit der beruflichen Betätigung des Klägers zu 1 und der oppositionellen Haltung der Klägerin zu 2, die diese öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck brachte, stehen. Auch spricht angesichts der vordargestellten Ausführungen von Amnesty International vieles dafür, dass die Drohung mit dem Entzug der Elternrechte auch auf die vom Kläger zu 3 in der russischen Schule geäußerte Kritik am Ukraine-Krieg zurückzuführen ist.
64
Nach alledem steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass sich die Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer politischen Überzeugung außerhalb Russlands aufhalten und ihnen damit ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zukommt.
65
2. Die Kläger haben demgegenüber keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte. Eine Anerkennung als Asylberechtigte scheitert bereits daran, dass sie ihren eigenen Angaben und ausweislich der vorgelegten Flugtickets über Spanien und damit über einen sicheren Drittstaat in das Bundesgebiet eingereist sind (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG). Insoweit war die Klage daher abzuweisen.
66
3. Einer Entscheidung über die weiteren Anträge bedurfte es nicht, da diese nur hilfsweise gestellt waren und die Kläger mit ihrem Hauptantrag Erfolg haben.
67
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708ff. ZPO.